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Interview : Christian Lindner: „Wir können uns nicht uferlos verschulden“

Interview

Christian Lindner: „Wir können uns nicht uferlos verschulden“

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    Finanzminister Christian Lindner reist derzeit für einen Bürgerdialog quer durch die Republik. „Ich bekomme in den Veranstaltungen in der Regel viel Applaus, wenn ich die Solidität der Staatsfinanzen anspreche“, sagt er.
    Finanzminister Christian Lindner reist derzeit für einen Bürgerdialog quer durch die Republik. „Ich bekomme in den Veranstaltungen in der Regel viel Applaus, wenn ich die Solidität der Staatsfinanzen anspreche“, sagt er. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Herr Lindner, der Kanzler geht in den Urlaub und Sie gehen auf Bürgerdialog-Tour quer durch Deutschland, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Entspannt das auch?

    Christian Lindner: Mir macht es Freude. Ich bin in die Politik gegangen, weil ich mich für Menschen interessiere und leidenschaftlich gerne debattiere. Deshalb bin ich nicht Unternehmer, Soldat oder Wissenschaftler, sondern Politiker. Insofern sind solche Termine die Essenz meiner Arbeit.

    Hat Sie irgendeine Frage überrascht?

    Lindner: Man merkt, dass die Themen, die wir öffentlich diskutieren, nicht immer die Themen sind, die die Menschen beschäftigen. Beispielsweise bekomme ich in den Veranstaltungen in der Regel viel Applaus, wenn ich die Solidität der Staatsfinanzen anspreche, während in der veröffentlichten Meinung mein Festhalten an der Schuldenbremse oft kritisch gesehen wird. Bei nahezu allen anderen Veranstaltungen kommt das Thema Migration sehr schnell zur Sprache. Völlig zu Recht erwarten die Besucher die Bekämpfung unkontrollierter Einwanderung in den Sozialstaat. Daran arbeite ich.

    In den letzten Tagen haben Sie viel über den Haushalt verhandelt, unter anderem über Videokonferenzen. Wie oft ging es da so hin und her?

    Lindner: Wir sind in einem fortwährenden Austausch. Die noch bestehende Aufgabe von 17 Milliarden Euro muss reduziert werden, aber es muss nicht die ganze Summe geschlossen werden. Für viele Bürgerinnen und Bürger mag das erstaunlich klingen, dass wir einen Haushalt mit einer geplanten Lücke von am Ende vielleicht neun Milliarden Euro aufstellen. Die Erklärung ist einfach: Bei 480 Milliarden geht nicht jedes Vorhaben auf, nicht jede Idee wird umgesetzt. Am Ende kann man mit gut zwei Prozent des Gesamthaushalts rechnen, der als Bodensatz übrig bleibt. Ausgeschlossen sind für mich Steuererhöhungen und Umgehungen der Schuldenbremse, denn unsere Verfassung müssen wir beachten.

    Vergangenen Herbst haben Sie eine Niederlage erlitten vom Bundesverfassungsgericht mit dem letzten Haushalt. Wie sehr hat Sie das traumatisiert?

    Lindner: Ich bin nicht traumatisiert, sondern sensibilisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Grundsatzurteil erstmals umfassend die Schuldenbremse eingeordnet. Anlass war ein Buchungsvorgang, der während der Koalitionsverhandlungen noch vor meiner Amtszeit entwickelt wurde. Ich reklamiere also nicht die Urheberschaft, aber ich trage die politische Verantwortung. Meine Konsequenz ist, die präzisierte Rechtslage genau zu beachten.

    So etwas wird Ihnen nicht noch mal passieren?

    Lindner: So ist es. Ich schließe Dinge aus, die verfassungsrechtlich riskant sind. Übrigens bin ich auch ökonomisch davon überzeugt, dass wir uns nicht uferlos verschulden sollten. Wir nehmen viele Milliarden Euro an Krediten auf, damit wir investieren. Aber alles hat eine Grenze, denn Zinsen für Kredite belasten uns und künftige Generationen. Wir haben seit vielen Jahren einen Investitionsstau. Bei Schulen, Brücken, Bundeswehr und so weiter. Das können wir aber nicht im Hauruck-Verfahren auflösen. Wir brauchen also dauerhaft ein höheres Investitionsniveau in den öffentlichen Haushalten. Umschichten und Prioritäten ordnen, das ist angesagt.

    Ihre Partei möchte das Bürgergeld senken. Warum wollen Sie bei den Schwächsten sparen?

    Lindner: Ihre moralische Einordnung teile ich nicht. Umgekehrt: Wer arbeiten kann, hat gegenüber der Gesellschaft eine Verpflichtung, es auch zu tun. Außerdem muss es einen hinreichenden Abstand zwischen Lohn für Arbeit und sozialer Unterstützung geben, damit sich Arbeit immer auszahlt. Die Bundesregierung wird das Bürgergeld daher umbauen, weil es nicht alle Erwartungen erfüllt hat. Wir haben zum Beispiel schärfere Mitwirkungspflichten, Meldepflichten und neue Zumutbarkeitsregeln vereinbart. Außerdem gibt es im kommenden Jahr eine Nullrunde beim Regelsatz von 563 Euro, weil die Inflation überschätzt wurde und das Bürgergeldes deshalb zu stark angehoben wurde. Rein rechnerisch müsste der Regelsatz sogar sinken.

    Da werden Ihre Koalitionspartner aber nicht mitmachen.

    Lindner: Das ist mir bekannt. Die Bürgerinnen und Bürger können sich dazu ihr Urteil bilden.

    Man hat den Eindruck, dass dieser Haushaltsstreit nur ein Symptom ist, weil es bei der Ampel immer rumpelt. Sind Sie zu verschieden?

    Lindner: Die drei Parteien sind sehr unterschiedlich. Zusammen gebracht haben uns nicht die inhaltlichen Übereinstimmungen, sondern die Verantwortung für das Land in der Situation nach der letzten Bundestagswahl. Weniger Drama wäre mir sehr recht. Allerdings bekümmert mich, dass Ideensuche und auch Meinungsstreit in der Politik als ein pathologisches Symptom dargestellt werden. Besonders geräuschlos sind ja die Herrschaftsformen, wo es keine Demokratie, keine Wahlfreiheit, keine Transparenz des Regierungshandelns, keine öffentliche Kontrolle von Mächtigen gibt.

    Zuletzt hat Ihre Partei mit Autoplänen für Wirbel gesorgt, auf die nicht mal der ADAC positiv reagiert hat. Dann ist doch etwas schief gelaufen, oder?

    Lindner: Einzelhändler, die im scharfen Wettbewerb zu Online-Angeboten stehen, haben positiv reagiert. Denn für die Einkäufe ist die Nutzung des Autos offenbar vielen wichtig. Aber die FDP macht nicht Politik für Verbände, sondern für die Bürgerinnen und Bürger. Uns geht es um die Wahlfreiheit der Menschen, ihre Mobilität nach eigenen Wünschen zu gestalten. Ausdrücklich auch mit dem Auto.

    Sie sind begeisterter Autofahrer. Sind Sie auch manchmal Radfahrer?

    Lindner: Das sind Klischees. Die meiste Zeit verbringe ich in Verkehrsmitteln wie Taxi, Flugzeug und Bahn, wo ich nebenbei arbeiten kann. In meinem persönlichen Fall gehören Fahrrad und eigenes Auto eher zur Freizeit als zum Alltag.

    Im FDP-Papier wird vorgeschlagen, dass Kommunen das Parken zum Teil kostenlos machen sollen. Aber dann fehlen denen die Einnahmen.

    Lindner: Die Entscheidung liegt bei den Kommunen. Wir haben beispielsweise in Berlin erlebt, dass die von grüner Politik gut gemeinte Sperrung einer Straße für das Auto zu dramatischen Umsatzeinbrüchen der Händler und am Ende zu Leerstand geführt hat. Die Entscheidung über Parkraum ist mitunter Teil der Wirtschaftsförderung.

    Baden-Württembergs Finanzminister Bayaz sagte kürzlich, als Finanzminister müsse man geerdet sein, weil alle was von einem wollen. Was erdet Sie?

    Lindner: Geerdet sollte man als Politiker immer sein. Dafür hat man Familie und Freunde. Außerdem erdet die Einsicht, dass es Ämter auf Zeit sind. Anders als Herr Bayaz würde ich aber sagen, dass ein Finanzminister vor allem unabhängig sein muss. Denn wer abhängig ist vom Koalitionspartner, der eigenen Partei oder auch nur dem Wunsch nach dem täglichen Applaus des Publikums, der wird als Finanzminister nicht glücklich.

    Beim Finanzministertreffen in Bregenz haben Sie sich seelischen Beistand geholt. Wie einsam ist es, Finanzminister zu sein in dieser Ampelkoalition?

    Lindner: Finanzminister sind immer die einsamsten Kabinettsmitglieder! (lacht) Eine Kollegin hat mal scherzhaft berichtet, sie traue sich abends nicht allein vor die Tür, weil sie befürchten müsse, dass die anderen Minister ihr auflauern und sie verhauen. Tatsächlich muss es einen geben, der die langfristige Entwicklung der Staatsfinanzen und die Interessen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Blick hat. Die müssen ihre Rechnungen bezahlen und den Kühlschrank vollmachen. Die wollen mal in den Urlaub fahren, brauchen alle paar Jahre vielleicht ein neues Auto, und manche haben sogar den Traum, irgendwann eine eigene Wohnung oder ein Haus zu besitzen. Deshalb muss die Politik immer wieder prüfen, ob sie nicht zu viel von der arbeitenden Bevölkerung verlangt. Ein Grund, warum wir immer wieder die Steuerlast reduzieren. In den nächsten beiden Jahren um 23 Milliarden Euro.

    Sie sind der Hüter der Schuldenbremse. Es gibt aber alternative Möglichkeiten, für Geld zu sorgen, indem man wie bei der Bundeswehr Sondervermögen aufstellt. Ist da mit Ihnen zu reden?

    Lindner: Bei Notlagen habe ich Ausnahmen von der Schuldenbremse ja selber beantragt, für die Strom- und Gaspreisbremse zum Beispiel. Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr gehen zurück auf meine Initiative, weil es nicht möglich war, so schnell die Mittel für die Streitkräfte zu erhöhen, wie es die neue geopolitische Lage erfordert. Aber egal, wie man es macht: Wir zahlen Zinsen für die Schulden. Und es ist nicht gesichert, dass das Geld wirklich zu mehr Investitionen führt. Wir haben zudem europäische Regeln. Die vielen, vielen Milliarden, die von Teilen der CDU über die SPD, den Grünen bis hin zu manchen Ökonomen gefordert werden, stehen nach meiner Auffassung im Widerspruch zu den europäischen Regeln. Wir dürfen schlicht gar nicht so viel mehr Schulden machen. Der Preis wäre, dass es in Europa hieße: „Merci und Grazie! Wir machen das dann auch.“ Dann haben wir schnell wieder eine Staatsschuldenkrise, wie wir sie vor 15 Jahren hatten.

    Wo wollen Sie das Geld dann hernehmen?

    Lindner: Dieser Staat hat so viel Geld, bald eine Billion Euro im Jahr. Wir müssen es effektiver einsetzen. Daran arbeite ich fortwährend. Weniger Selbstverwaltung des Staates, weniger Fehlanreize im System der sozialen Sicherung, Unterbinden von illegaler Einwanderung, Prüfung unseres internationalen Engagements. Wenn wir das schaffen, dann haben wir für Bildung, Sicherheit, Infrastruktur und Digitalisierung deutlich mehr Möglichkeiten, ohne die Bürger zu belasten.

    Sylt ist einer ihrer Lieblingsorte, Sie sind immer wieder dort, haben dort geheiratet. Dass dort junge Leute nationalistische Lieder angestimmt haben, hat daran nichts geändert?

    Lindner: Hat die Schönheit der Natur irgendetwas mit politischer Desorientierung von Gästen zu tun?

    Reisen Sie dieses Jahr wieder hin?

    Lindner: Nein, wir waren eine Woche in Italien.

    Und das war‘s?

    Lindner: Ja, weitere Urlaubsreisen stehen nicht an.

    Da hat ja sogar der Kanzler mehr Urlaub gemacht.

    Lindner: Machen Sie sich keine Sorgen. Für mich ist Arbeit nicht lästig oder unangenehm. Mir macht sie Freude, ist Teil meiner Persönlichkeit und gibt dem Tag einen Sinn.

    Zur Person: Christian Lindner, 45, ist seit 2013 FDP-Chef und seit 2021 Bundesfinanzminister. Der studierte Politikwissenschaftler ist mit der Journalistin Franca Lehfeldt verheiratet.

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    4 Kommentare
    Rainer Kraus

    Menschen würden nie in den Flieger steigen, wenn Dilettanten oder keine ausgebildeten Piloten im Cockpit säßen. So ist es verwunderlich, dass es den Menschen nichts ausmacht, wenn Nichtfachleute regieren.

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    Helmut Eimiller

    Herr Kraus, ich finde es meist ganz amüsant, wenn Sie in Ihren Leserkommentaren scharf schießen. Hier scheint mir jedoch, dass Sie sich ganz und gar das falsche Ziel ausgesucht haben: Lindner hat doch nur das auszulöffeln, was die letzte GroKo Deutschland eingebrockt hat. | In der Demokratie muss man zwar erst gewählt werden, um Verbesserungen herbeiführen zu können. Aber dass in Deutschland die amerikanische Präsidentschaftskandidatin so viel Zustimmung erfährt, ohne dass von ihr irgendeine Aussage zu den galoppierenden US-Schulden bekannt ist, verstehe ich auch nicht. – vgl. „Emotionen statt politische Details“ lautete gestern hierzu eine Absatzüberschrift in der NZZ (15.08.2024). | Ich bitte von daher um pfleglichen Umgang mit Politikern, die die wahren Probleme benennen. Denn solche Politiker sind rar!

    Wolfgang Boeldt

    Herr Eimiller, Sie gehören wohl zu den Wenigen die Herrn Krausens Kommentare als amüsant bezeichnen. Ich muß wohl nicht deutlicher werden. Wir beide dürften uns in einem Alter befinden, in dem uns die Höhe der Schulden relativ egal sein könnte - blickten wir nicht einige Jahrzehnte weiter. Und wenn ichs schon 100x geschrieben habe, dann eben das 101. mal: mit den Einnahmen des Staates (+ die Milliarden der legalen Verschuldung) sind ALLE wichtigen Ausgaben/Investition finanzierbar.

    Helmut Eimiller

    Herr Böldt, mir ist sehr an einer „enkelgerechten“ (Prof. Korte) Politik gelegen. Wenn beispielsweise das Vertrauen in den US-Dollar ob der galoppierenden US-Schulden verlorengeht, wird das die gesamte Weltwirtschaft treffen, ganz besonders aber Deutschland. Leider lassen sich mit der Verkündung von Sparzielen kaum Wahlen gewinnen. Das wissen auch die US-Demokraten und setzen lieber auf Emotionen. Dabei sieht NZZ Trumps übermäßig grobe persönliche Attacken und die Pflege seiner Eitelkeiten als ein Geschenk an Harris, weil so ihr unklares politisches Profil nicht in den Mittelpunkt gestellt wird. Jetzt hat sie die Entlastung insbesondere der Mittelschicht als ihr Ziel ausgerufen. „Details, wie sie die Vorhaben finanzieren wolle, nannte Harris nicht.“ (derstandard.de; 17.08.2024)

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