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Interview: Bundeskanzler Olaf Scholz: "Wir müssen da mit aller Klugheit durch"

Interview

Bundeskanzler Olaf Scholz: "Wir müssen da mit aller Klugheit durch"

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    "Wir sollten den Standort Deutschland nicht schlecht- und uns nicht in eine Krise hineinreden", sagte der Kanzler.
    "Wir sollten den Standort Deutschland nicht schlecht- und uns nicht in eine Krise hineinreden", sagte der Kanzler. Foto: Bernhard Weizenegger

    Herr Bundeskanzler, Sie sind kein Politiker, der sich von Umfragen beeindrucken lässt, und erst recht nicht von dem, was wir Journalisten so über Sie schreiben. Aber dass Ihre Bundesregierung zur Halbzeit so viel Vertrauen in der Bevölkerung verloren hat, das kann Sie doch nicht kaltlassen, oder?

    Olaf Scholz: Ich finde, dass die Regierung gute Arbeit macht und gemacht hat. Wir haben weitreichende Entscheidungen getroffen und auch Probleme gelöst, die vor Regierungsantritt niemand auf der Rechnung hatte. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mussten wir in kürzester Zeit dafür sorgen, dass bei uns die Wohnungen im Winter nicht kalt werden und die Lichter nicht ausgehen, weil die Energielieferungen aus Russland ausfielen. Anders als viele fürchteten, ist uns das gelungen. Weder mussten Fabriken in großem Maßstab schließen, noch haben wir eine tiefe Wirtschaftskrise zu bewältigen – auch wenn die Gefahr bestand. Klar ist: Wir haben längst noch nicht alle Probleme gelöst. 

    Wie erklären Sie sich, dass alle drei Regierungsparteien so viel Rückhalt verloren haben?

    Scholz: Deutschland schlittert seit Jahren von einer Krise in die nächste – ohne dafür selbst etwas zu können. Wir hatten die Corona-Pandemie, die das Leben von unglaublich vielen Bürgerinnen und Bürgern bedrohte und viele Leben gekostet hat. Wir hatten Glück und sind durch diese Zeit bei allen Belastungen einigermaßen gekommen, weil es schnell mehrere Impfstoffe gab. Mit einigen Hundert Milliarden Euro zusätzlicher Verschuldung haben wir damals verhindert, dass Wirtschaft und Lebensverhältnisse komplett zusammenbrachen. Aber die Schulden sind geblieben, das darf man nicht aus dem Blick verlieren. Corona hat auch viele verunsichert, Streit ausgelöst bis in Familien und Freundeskreise hinein – das konnten wir als Gesellschaft nie wirklich verarbeiten, weil kurz danach direkt der russische Angriff auf die Ukraine folgte. 

    Der Krieg weckt nun neue Ängste. Gerade wenn man sich unter den Älteren umhört, spürt man das. Viele erinnern sich noch an Bombennächte und Zerstörungen, die sie als Kinder, als Jugendliche erlebt hatten. Das ist plötzlich wieder ganz dicht bei uns. Die Gewissheit, dass Grenzen in Europa nicht mehr mit Gewalt verschoben werden, ist über Nacht verschwunden. Und, drittens, ist den meisten Bürgerinnen und Bürgern klar: Wir müssen das Klima besser schützen, damit wir weiterhin gut auf dieser Welt leben können. All diese Veränderungen stehen jetzt an – und führen zu Verunsicherungen und Sorgen. 

    Wie wollen Sie den Menschen diese Unsicherheit nehmen?

    Scholz: Diese Unsicherheit gibt es überall, auf der ganzen Welt. Nicht wenige fragen sich: Geht das gut aus? Ich sage: Ja, das geht gut aus. Aber noch sind wir nicht am sicheren Ufer angekommen. Wenn man all diese Probleme angehen will, braucht man einen klaren Kurs in der Regierung, dem man folgt. Und über diesen Kurs wird natürlich gründlich, mitunter auch leidenschaftlich diskutiert. Manchmal würde ich mir wünschen, dass diese Diskussionen im Ton etwas leiser abliefen. Eines geht allerdings nicht: Sich vor der Lösung von Problemen zu drücken, um solche Debatten zu vermeiden – das war in der Vergangenheit zu oft der Fall. 

    Für große Weichenstellungen ist ein überparteilicher Konsens wichtig. Wie ist Ihr Verhältnis zu Oppositionsführer Friedrich Merz? Sie haben ihn schon mal ins Kanzleramt zum Essen eingeladen. Wie laufen solche Gespräche ab?

    Scholz: Es gehört aus meiner Sicht zu unserer Demokratie, dass die demokratischen Parteien zusammenarbeiten, und zwar auch über die Grenze von Regierung und Opposition hinweg. Es gibt Situationen, wo es sogar extrem wichtig ist, dass Regierung und Opposition zusammenfinden, wie beispielsweise, um das Sondervermögen für die Bundeswehr zu schaffen. Dazu brauchten wir eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Bundestag, das geht gar nicht im Alleingang. Deshalb führe ich diesen Dialog. Was ich aber bestimmt nicht machen werde: aus diesen Gesprächen zu tratschen. 

    Bundeskanzler Olaf Scholz stand bei "Augsburger Allgemeine Live" im Kleinen Goldenen Saal in Augsburg eineinhalb Stunden Rede und Antwort.
    Bundeskanzler Olaf Scholz stand bei "Augsburger Allgemeine Live" im Kleinen Goldenen Saal in Augsburg eineinhalb Stunden Rede und Antwort. Foto: Bernhard Weizenegger

    Alle Parteien schauen gerade etwas ratlos auf die hohen Zustimmungswerte für die AfD. Sie selbst bezeichnen diese als „Schlechte-Laune-Partei“. Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum hat Sie in einem Interview mit unserer Redaktion dafür kritisiert. Er findet, dass Sie die AfD damit verharmlosen. Was macht Sie so gelassen im Umgang mit dieser Partei?

    Scholz: In vielen westlichen Staaten gibt es rechte Parteien. Auch und gerade in Ländern, die wirtschaftlich gut dastehen. Stellt sich also die Frage, woher das kommt. Ich denke, es hat etwas mit der Verunsicherung zu tun, die im weitesten Sinne mit der Globalisierung zusammenhängt. Manche fragen sicher auch, ob die verschiedenen Lebenskonzepte, die wir haben, eigentlich gleichberechtigt anerkannt werden, oder ob es nur eines gibt, das dann die Öffentlichkeit zu dominieren scheint. Mir ist ganz wichtig, deutlich zu machen: Ein gelungenes und erfolgreiches Leben lässt sich nicht nur als Angehörige der akademisch qualifizierten Mittelschicht führen, sondern auch als Handwerkerinnen und Krankenpfleger, als Polizeibeamtin und als jemand, der im Lager arbeitet oder einen Trecker fährt – all das verdient die gleiche Anerkennung. 

    Aber es ist nicht nur fehlende Wertschätzung, die Menschen dazu bringt, AfD zu wählen?

    Scholz: Sicher nicht. Es gibt auch Leute mit einer klar rechtsextremen politischen Haltung, die fühlen sich dort wohl. Da ist der Geist leider aus der Flasche: Es gibt Parteien wie die AfD und Leute, die solche unappetitlichen Positionen haben – und sich gegenseitig darin bestärken. Das wird wahrscheinlich nicht so einfach verschwinden. Ich glaube aber nicht, dass es in Deutschland zu einer dominanten Haltung wird. Wir Demokraten sind deutlich in der Überzahl. 

    Die AfD ist auch deshalb erfolgreich, weil die Ampel oft mit sich selbst zu kämpfen hat. Mir kommt die Koalition manchmal vor wie eine Familie auf dem Weg in den Urlaub. Auf der Rückbank streiten sich Grüne und FDP über jede Kleinigkeit. Vorne sitzt der Kanzler am Steuer und schaltet auf Durchzug, wie man es so macht, wenn man fahren muss …

    Scholz (lacht): …Machen Sie das so? 

    Ich kenne zumindest ein, zwei solcher Situationen, ja … Hätten Sie manchmal früher eingreifen und Streitigkeiten auf offener Bühne nicht zu lange laufen lassen sollen?

    Scholz: FDP, Grüne und SPD sind drei sehr unterschiedliche Parteien, die eine gemeinsame Regierung bilden. Die Vorstellung, man müsse nur einmal auf den Tisch hauen und bestimmen, wie es gemacht wird, und hinterher sagen alle: „Ja, genau, danke, dass du es sagst, großartig, warum nicht früher?“, die ist ehrlicherweise ein bisschen naiv. Im Übrigen sollte keiner glauben, dass ich nicht ständig mit allen Beteiligten diskutiere. Allerdings spreche ich öffentlich darüber nicht – und wünschte mir, dass andere sich daran ein Vorbild nehmen.

    Grüne und FDP scheinen ihren Frust über die Sommerpause konserviert zu haben, der Streit geht munter weiter. Was lässt Sie auf mehr Zusammenhalt hoffen?

    Scholz: Ich denke, es pendelt sich langsam ein. Ich bin ganz zuversichtlich, weil wir die wesentlichen Punkte, bei denen wir aus unterschiedlichen Standpunkten zu einer gemeinsamen Politik finden mussten, nun entschieden haben. 

    Das Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz können Sie sich hier auch in voller Länge im Video anschauen:

    Im Zweifel müssen Sie wieder in Klausur nach Schloss Meseberg. Das scheint ja eine Art Bootcamp zu sein, aus dem alle rauskommen und sich wieder einig sind.

    Scholz (lacht): Tschakka! 

    Noch einmal zurück zur AfD. Es gibt die These, man müsste vor allem die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, reduzieren, um der AfD das Wasser abzugraben. Sehen Sie das auch so?

    Scholz: Man sollte überhaupt keine Politik „wegen der AfD“ machen. Eine solche Kompromittierung der eigenen Anliegen habe ich schon immer furchtbar gefunden. Wir haben eine paradoxe Situation in Deutschland: Wir brauchen mehr Leute aus dem Ausland, damit unser Wohlstand erhalten bleibt. Dafür haben wir das Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz gemacht mit dem Ziel, Arbeitskräfte für Deutschland zu gewinnen. Und zugleich gibt es die Fluchtmigration. Das muss man beides klar unterscheiden. 

    Wie wollen Sie das Thema lösen?

    Scholz: Deutschland ist ein europäischer Binnenstaat, unsere Außengrenzen sind die Grenzen zu anderen EU-Staaten. Deshalb ist es so wichtig, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser mit den europäischen Partnern einen Kompromiss über einen Solidaritätsmechanismus vereinbart hat. Er soll dazu führen, dass die Geflüchteten wieder in dem EU-Land registriert werden, in dem sie ankommen. Und danach sollen sie auf alle EU-Staaten gerecht verteilt werden. Jene, die keine berechtigten Schutzgründe vorweisen können, werden zurückgeschickt. Wer nicht anerkannt wurde, muss wieder gehen. Unser Ziel muss es sein, dass sich herumspricht, dass es Wege gibt, legal nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten. Und dass viele von denen, die sich auf diese gefährliche Reise begeben, die das Geld und schrecklicherweise sogar das Leben kosten kann, leider damit rechnen müssen, abgewiesen zu werden, wenn sie sich nicht auf Schutzgründe berufen können.

    Bundeskanzler Olaf Scholz ist zuversichtlich, dass Deutschland gut durch diese krisenhaften Zeiten kommen wird.
    Bundeskanzler Olaf Scholz ist zuversichtlich, dass Deutschland gut durch diese krisenhaften Zeiten kommen wird. Foto: Bernhard Weizenegger

    Es ist nicht nur der Mangel an Fachkräften, der die Wirtschaft bremst. Deutschland steckt in der Rezession. Wie wollen Sie das Land da herausführen?

    Scholz: Wir sollten den Standort Deutschland nicht schlecht- und uns nicht in eine Krise hineinreden. Wir haben gerade 45 Millionen Erwerbstätige, das ist ein Rekord, und die Zahl wird weiter steigen. Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich unter den Werten, die wir um die Jahrtausendwende zu verkraften hatten. Und wir bereiten den massiven Umbau unserer Industrie vor. Wir wissen, wo wir hinwollen. Es gibt allen Grund für Optimismus. Der Elektroautobauer Tesla hat sich für Deutschland als Standort für seine neue Fabrik entschieden. Es entstehen mehrere Batteriefabriken hier. Wir werden der Halbleiter-Produktionsstandort Europas mit neuen Werken in Dresden, in Magdeburg und in Halle. All das passiert gerade … 

    Dafür muss der Staat aber Milliarden an Subventionen hinlegen.

    Scholz: Wie in all den anderen Staaten, wo solche Fabriken gebaut werden sollen. Die Investition von Intel in Magdeburg ist die größte ausländische Direktinvestition in der Geschichte Europas. All das läuft gerade, und parallel ist ein Lamentieren darüber zu hören, dass unser Wirtschaftsstandort gefährdet sei. Das passt für mich nicht zusammen, das stimmt einfach nicht. Natürlich stehen wir auch vor Herausforderungen. Als Exportland merken wir es besonders, wenn die Konjunktur in vielen Ländern schwächelt. Aber wenn die Konjunktur dort wieder anzieht, werden wir massiv profitieren. Wir müssen da mit aller Klugheit durch und die entscheidenden Weichen für die Zukunft stellen, und genau das tun wir. 

    Es gibt zugleich die Sorge, dass die Bundesregierung den Klimaschutz ohne Rücksicht auf Verluste vorantreibt. Also ohne Rücksicht darauf, ob die Bürger und die Wirtschaft das stemmen können. Wie und wann wird die Energiewende zum wirtschaftlichen Erfolg?

    Scholz: Wenn wir uns anschauen, dass in Asien, in Südamerika und Afrika die Menschen den gleichen Wohlstand anstreben, wie wir ihn genießen, müsste eigentlich selbst der Uneinsichtigste erkennen, dass die Welt eines Tages kein lebenswerter Ort mehr sein wird, wenn wir so weitermachen. Und gleichzeitig wird es nicht klappen, diesen Ländern Verzicht zu predigen – damit werden die sich zu Recht nicht abspeisen lassen. Deshalb ist es unsere Aufgabe, jene Technologien zu entwickeln, die es möglich machen, Wirtschaftswachstum zu generieren, ohne dass die Umwelt großen Schaden nimmt. Indem wir sauberen Strom produzieren und bis 2045 auf die bisherige Nutzung von Erdöl, Erdgas und Kohle verzichten. Wenn wir diesen Weg jetzt mutig vorangehen, werden wir auch in 20, 25 Jahren noch gute Arbeitsplätze haben. Wir werden weltweit Produkte exportieren und unseren Wohlstand sichern, weil wir an der Spitze der technologischen Entwicklung stehen. 

    Das wird aber dauern.

    Scholz: Stimmt, denn wir haben viel Zeit vertrödelt. Deutschland ist zweimal aus der Kernenergie ausgestiegen, erst im Jahr 2000 unter der Regierung von Gerhard Schröder, das wurde 2010 von der Union aufgehoben und nach dem Unglück von Fukushima 2011 erneut revidiert. Markus Söder wollte damals sogar zurücktreten, wenn nicht sofort alle Kernkraftwerke stillgelegt werden. In der vergangenen Legislatur haben wir beschlossen, bis 2038 aus der Kohle-Verstromung auszusteigen. Gleichzeitig verhinderten CDU und CSU lange, dass die nötigen Stromleitungen in den Süden gebaut und dass hier mehr Windkraft und Solaranlagen errichtet werden. Dafür gab es damals in der Regierung keine politische Mehrheit. In der Koalition, die ich führe, gibt es diese Mehrheit – und deshalb treffen wir jetzt die nötigen Entscheidungen, damit wir das wirklich hinkriegen. 

    Trotz Ihres Bekenntnisses zum Klimaschutz bezeichnen Sie die Aktionen der „Letzten Generation“ als bekloppt …

    Scholz: Mit Lebensmitteln und Farbe Kunstwerke zu beschmutzen oder sich auf der Straße festzukleben und Autofahrerinnen und Autofahrer zur Verzweiflung zu treiben, finde ich einfach keinen dollen Einfall. 

    Das Live-Interview mit Olaf Scholz führten Chefredakteurin Andrea Kümpfbeck und Politik-Chef Michael Stifter.
    Das Live-Interview mit Olaf Scholz führten Chefredakteurin Andrea Kümpfbeck und Politik-Chef Michael Stifter. Foto: Bernhard Weizenegger

    Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon 18 Monate. Sehen Sie die Gefahr, dass Deutschland doch noch zur Kriegspartei wird?

    Scholz: Es ist unsere Aufgabe, genau das zu vermeiden. Deutschland unterstützt die Ukraine so lange, wie es nötig ist. Und dafür liefern wir auch Waffen, was der Bruch mit einem jahrzehntealten Tabu war. Bei jeder Lieferentscheidung haben wir uns eng mit unseren internationalen Verbündeten abgesprochen und sichergestellt, dass es zu keiner Eskalation kommt. Mittlerweile sind wir nach den USA der größte Unterstützer der Ukraine. Die Bürgerinnen und Bürger, von denen viele genauso viele Fragen haben wie ich, können sich darauf verlassen, dass wir jede Entscheidung gut abwägen. 

    Empfinden Sie im Umgang mit Russland manchmal so etwas wie Hilflosigkeit?

    Scholz: Es ist furchtbar, dass Putin diesen Krieg vom Zaun gebrochen hat. Der Krieg ist völlig ungerechtfertigt und absurd. Er schadet der Ukraine, er schadet Russland und er schadet der Welt. Er kostet unglaublich viele Menschenleben in der Ukraine, er richtet eine unfassbare Zerstörung an. Mehrere Hunderttausend Tote soll es auf beiden Seiten geben, Ukrainerinnen und Ukrainer sterben bei der Verteidigung ihres Landes, und unzählige russische Soldaten müssen für den imperialen Wahn ihres Präsidenten sterben. Das ist furchtbar! 

    Sie gelten als sehr beherrscht. Doch als Sie jüngst wegen Ihrer Ukraine-Politik als Kriegstreiber beschimpft wurden, sind Sie regelrecht aus der Haut gefahren.

    Scholz: Das war eine kleine Veranstaltung mit ein paar Hundert Leuten. Dann kamen einige Pöbler mit Trillerpfeifen, sie veranstalteten ein lautes Geschrei, zeigten obszöne Gesten. Ihre Forderung: „Frieden schaffen ohne Waffen“. Also das finde ich total lustig. Ich habe schließlich schon in den 80er Jahren Friedensdemos organisiert. Deshalb kann ich diese Vorwürfe nicht stehen lassen. In solchen Momenten muss man auch mal dagegenhalten. 

    Wie kann mittelfristig das Verhältnis zu Russland aussehen? Kann man mit Putin zusammenarbeiten?

    Scholz: Wer welches Land regiert, können nicht wir entscheiden – das muss in jedem Land selbst entschieden werden. Es gibt keine Pläne für einen Regimewechsel, auch wenn Putin das fürchten mag. Russland und die Europäische Union sind Nachbarn. Russland wird damit leben müssen, dass die EU eine Gemeinschaft offener Gesellschaften und liberaler Demokratien ist. Und jetzt muss es erneut akzeptieren, dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden dürfen und endlich Truppen aus der Ukraine zurückziehen. 

    US-Präsident Joe Biden ist in der Ukraine-Politik ein wichtiger Verbündeter. Doch Donald Trump will zurück ins Weiße Haus. Wie bereiten Sie sich darauf vor?

    Scholz: Es ist wichtig, sich über alle Szenarien Gedanken zu machen. Für wahrscheinlich halte ich es aber, dass Präsident Joe Biden wiedergewählt wird. Was mich an ihn glauben lässt, ist nicht nur seine politische Klugheit und seine große internationale Erfahrung. Er hat auch das zentrale Thema der amerikanischen Gesellschaft im Blick: die Spaltung. Wenn einer eine Chance hat, diese Spaltung zu überwinden und gegen Spalter und Sektierer anzukommen, ist es Joe Biden. 

    Auch hierzulande zweifeln Menschen an der Demokratie. Hubert Aiwanger sagte, die „schweigende Mehrheit“ müsse sich die Demokratie zurückholen. Wie finden Sie das?

    Scholz: Man kann, darf und soll streiten darüber, was in unserem Land politisch geschehen soll. Man darf seine politischen Wettbewerber heftig kritisieren und sich selbst in den höchsten Tönen loben. Eines darf aber nie infrage gestellt werden: dass wir eine gefestigte Demokratie sind, auf die wir stolz sein können. Unsere Demokratie ist so stabil, wie sich das viele am Anfang des letzten Jahrhunderts nicht hätten träumen lassen. Das sollte niemand leichtfertig in Abrede stellen. 

    Sie sind nun seit bald zwei Jahren im Amt, wie hat sich Ihr Leben verändert? Gibt es noch einen privaten Olaf Scholz?

    Scholz: Ich habe immer versucht, es hinzubekommen, dass ich neben den Verpflichtungen in der Politik auch noch ein privates Leben habe. Als Jugendlicher war ich noch sehr unsportlich, heute gehört für mich das Laufen und das Rudern dazu, auch das Wandern, gerne in Bayern. Aber natürlich bleibt wenig Zeit für Privatleben und es muss immer sehr gut geplant sein. Wenn ich ins Kino gehen will oder ins Theater, dann muss das fest im Kalender stehen, sonst wird das nichts. 

    Markus Söder hat neulich auf die Frage, was er an Angela Merkel vermisst, gesagt, dass er sich auch spätabends per SMS mit ihr austauschen könnte. Können Sie dem Mann nicht bei Gelegenheit Ihre Handynummer zukommen lassen, damit er Ihnen auch mal schreiben kann?

    Scholz: Er hat meine Handynummer und er hat mir schon SMS geschickt. 

    Was hat er Ihnen denn geschrieben?

    Scholz: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die über so etwas öffentlich reden, das sind vertrauliche Dinge. Aber es war immer sehr praktisch und übrigens auch sehr freundlich. 

    Was soll eines Tages in den Geschichtsbüchern über Olaf Scholz stehen?

    Scholz: Darüber habe ich mir wirklich noch keine Gedanken gemacht. Ein großer Sozialdemokrat war einmal stolz darauf, dass über ihn gesagt wurde: Er hat sich bemüht.

    Das Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz können Sie sich hier auch in voller Länge als Podcast anhören:

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