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Interview: Autor Körner über Merkel: "Maß an Selbststrenge hat mich überrascht"

Interview

Autor Körner über Merkel: "Maß an Selbststrenge hat mich überrascht"

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    Angela Merkel und ihre Raute: Autor Torsten Körner spricht über die Entstehung seines Buches "Die Kanzlerin am Dönerstand".
    Angela Merkel und ihre Raute: Autor Torsten Körner spricht über die Entstehung seines Buches "Die Kanzlerin am Dönerstand". Foto: Michael Kappeler, dpa

    Herr Körner, erstmals seit 16 Jahren erfolgt keine Neujahrsansprache von Angela Merkel. Sie haben für Ihr jüngstes Buch mit so unterschiedlichen Leuten wie Volker Kauder und Günther Jauch gesprochen. Nach all den Recherchen und Archivstudien – was hat Sie selbst am meisten überrascht?

    Torsten Körner: Die Selbststrenge dieser Frau, ihre Fähigkeit, sich zu kontrollieren, ihre Emotionen meistens im Griff zu haben und selbst den größten Quälgeistern immer wieder die Hand zum Dialog auszustrecken, das hat mich überrascht, dass dieses immense Maß an Selbstverzicht durch die Jahre hielt.

    Sie befassen sich ausführlich mit Merkels Kindheit in der ostdeutschen Uckermark. Inwiefern war das Aufwachsen im protestantischen Pfarrhaus prägend?

    Körner: Angela Merkel ist nicht in einem typischen Pastorenhaushalt aufgewachsen, weil der Vater mehr Pädagoge als Pastor war. Horst Kasner leitete eine Ausbildungsstätte auf dem Waldhof in Templin. Geprägt hat sie der Leistungswille der Eltern, die tägliche Begegnung mit behinderten Menschen dort, das Aufwachsen auf dem Land. Angela Merkel hat damals gelernt, Menschen zu lesen, Worte und Texte auf Zwischentöne abzuklopfen und vorsichtig zu sein. Sie ist auf dem

    Merkels Verhältnis zu ihrer Mutter Herlind Kasner galt als eng, Sie beschreiben deren Rolle als „abwesende Anwesende“. Was verstehen Sie darunter?

    Körner: Herlind Kasner war Pädagogin, durfte es in der DDR als Frau eines Pastors aber nicht sein, sie war Hamburgerin ohne

    Merkels Vater, so schildern Sie im Buch, beschied seiner Tochter zu deren 30. Geburtstag beim Besuch in ihrer kargen Berliner Wohnung: „Weit hast du es ja nicht gebracht!“ Wie lässt sich das Verhältnis beschreiben?

    Körner: Horst Kasner war oft abwesend, und die Tochter, so hat sie es selbst geschildert, war enttäuscht über dieses Ausbleiben. Der Vater war eine Autorität, charismatisch, und er hat die Kinder spüren lassen, dass er von ihnen Besonderes erwartet. Er war kein Wärmepol in der Familie, sondern das abwesende Vorbild, der – auch das hat die Tochter angemerkt – oft mehr Zeit für andere Menschen hatte, weil er mit seiner Arbeit verheiratet war, seiner Aufgabe.

    Sehr eindrucksvoll schildern Sie Merkels Beziehung zum Kino. Besonders zum DDR-Klassiker „Paul und Paula“, eine Verfilmung nach einem Roman von Ulrich Plenzdorf. Was faszinierte sie an diesem Film?

    Körner: Angela Merkel ist ein sehr empathischer Mensch, ein sehr emotionaler Mensch, der jedoch die private Person Merkel nicht oder selten in die politische Arena führt. „Paul und Paula“ ist ein systemsprengender Film, weil die Liebe alle Alltagspflichten im Sozialismus aushebelt, weil der Funktionär Paul seine Karriere riskiert oder sogar aufgibt, um dieser Liebe gerecht zu werden. Er ist – aus Liebe – ein Systemaussteiger – und ein Liebeseinsteiger, und es ist doch interessant, dass Angela Merkel diesen Film zu ihrem Lieblingsfilm erklärt. Das korrespondiert auch mit der Musikauswahl zum Großen Zapfenstreich: Hildegard Knef und Nina Hagen, zwei Partisaninnen des Gefühls.

    Finden Sie Merkel mutig?

    Körner: Ich finde es mutig, so einen radikalen Stellungswechsel zu vollziehen, in eine westdeutsche Männerpartei einzutreten und sich dort im Schatten Helmut Kohls zu behaupten, zu lernen und all die selbstgefälligen Alphatiere des CDU-Zoos zu studieren. Das muss ja für eine ostdeutsch geprägte, selbstbewusste junge Frau ein immenser Kulturschock gewesen sein, dieses verzopfte Milieu, diese selbstgewissen Westdeutschen, die den Ostdeutschen beinahe alles abverlangten, aber sich selbst wenig ändern wollten.

    Von Günther Oettinger über Roland Koch bis Horst Seehofer, die Liste der Männer, die Merkel das Leben schwer machten, ist lang. Ein gespanntes Verhältnis pflegt sie zu Wolfgang Schäuble. Beide wurden zusammen im Kino bei „Ziemlich beste Freunde“ gesehen. Was prägt dieses Verhältnis zwischen diesen beiden Pflicht-Protestanten?

    Körner: Die Beziehung zwischen Schäuble und Merkel finde ich faszinierend, und ich müsste länger drüber nachdenken, um das gut zu beantworten. Schäuble denkt vermutlich mehr in Parteikoordinaten als Merkel, die flexibler ist. Er war der natürliche Nachfolger Helmut Kohls, und ich denke, er staunt noch heute über diese Frau aus dem Osten.

    Die auf den arrivierten Westpolitiker trifft …

    Körner: Schäuble hat den Einigungsvertrag ausgehandelt, aber Merkel war die erste Gesamtdeutsche im Bonner Kabinett und hat mehr als alle anderen von der Wiedervereinigung profitiert. Während Schäuble von der Historie nach unten gezogen wurde, wurde Merkel durch die Geschichte nach oben katapultiert. Während Schäuble die ganze lange Parteilaufbahn hinter sich brachte, schoss Merkel nach oben, ihre Aufstiegsgeschwindigkeit ist auch noch im Rückblick frappierend.

    Angela Merkel: Meilensteile im Leben einer Kanzlerschaft

    Frau Bundeskanzler?

    Der bayerische Politiker-Parodist Wolfgang Krebs beschäftigte sich kürzlich mit der Frage „Kann eigentlich auch ein Mann Bundeskanzlerin werden?“ Da sieht man mal, wie 16 Jahre eine Gesellschaft prägen können. Schließlich ist es zu Beginn der Ära von Angela Merkel genau anders herum. Damals zucken die Deutschen noch unwillkürlich beim Feierabendbier zusammen, wenn eine Meldung in der „Tagesschau“ mit den Worten „Bundeskanzlerin Angela Merkel …“ beginnt. Am 22. November 2005 wird die damals 51-Jährige vereidigt – und tatsächlich fragen sich die Deutschen, wie man die neue Regierungschefin nun ansprechen wird. „Frau Bundeskanzler“? Die Gesellschaft für deutsche Sprache sorgt umgehend für Klarheit und macht „Bundeskanzlerin“ zum Wort des Jahres.

    Wie im Märchen

    Merkels Zeit im neuen Amt beginnt märchenhaft. Im Sommer 2006 berauschen sich die Deutschen an der Fußball-Weltmeisterschaft daheim – und an einer völlig neuen, unverkrampften Art, das eigene Land zu feiern. Die Welt staunt über die schwarz-rot-goldene Lebensfreude des deutschen Sommermärchens, das für die Fußballer zwar kein Happy End hat, aber das Ansehen der Bundes republik dauerhaft verbessert. Mittendrin eine Kanzlerin, die auf der Tribüne etwas unbeholfen, aber dafür höchst ungekünstelt die Arme hochreißt und nach dem Spiel schon mal in der Kabine auftaucht, um sich mit Poldi und Schweini fotografieren zu lassen. Merkel spielt die Fußball-Anhängerin nicht nur für die Kameras, sie interessiert sich tatsächlich dafür. Dass ihr Herz für den FC Bayern München schlägt, hängt sie aber lieber nicht an die große Glocke.

    Alltagsarbeit

    Weniger Euphorie löst eine der ersten großen politischen Entscheidungen ihrer Kanzlerschaft aus. Die Deutschen sollen länger arbeiten. Mit ihrer Entscheidung im Jahr 2007, das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre anzuheben, will die Große Koalition den Anstieg der Beiträge bremsen. Heute wieder aktuell.

    Angst um die Ersparnisse

    Im Herbst 2008 beginnt für die Bundeskanzlerin ihre erste von vielen Krisen. In den USA bricht ein unheilvolles System aus faulen Krediten in sich zusammen. Die „Subprime-Krise“ treibt Bankriesen wie Lehman Brothers in die Pleite und vernichtet innerhalb weniger Tage Milliardenwerte an den Börsen. Das weltweite Finanzsystem steht am Rande des Abgrundes. Millionen Kleinanleger sind ruiniert, Hochstapler fliegen auf. Und die Deutschen haben Angst um ihre Ersparnisse.

    So entschlossen wie selten in ihrer Kanzlerschaft geht Angela Merkel in die Offensive. Gemeinsam mit Finanzminister Peer Steinbrück tritt sie vor die Kameras und verspricht den Bürgerinnen und Bürgern, der Staat garantiere dafür, dass ihr Geld sicher ist. Ob sie dieses Versprechen bei einem Kollaps des Bankensystems hätte halten können, ist mehr als fraglich. Doch mit ihrem Versprechen verhindern Merkel und Steinbrück, dass die Menschen ihr Geld panikartig von Konten und Sparbüchern holen und eben jenen drohenden Kollaps herbeiführen.

    Die klammen Griechen

    In der Folge des Bankendesasters geraten auch immer wieder Staaten in finanzielle Schieflage. Aus der Finanzkrise entstehen die Schuldenkrise und die Euro-Krise. Die „klammen Griechen“ werden zum Symbol für katastrophale Haushaltspolitik. Lange, bevor der Brexit Europa in Turbulenzen stürzen wird, geht es um den Grexit. Im Streit um einen Austritt Griechenlands aus dem Euro wird die deutsche Kanzlerin zur Hassfigur – Nazi-Vergleiche inklusive. In langen Verhandlungsnächten in Brüssel ringen die Staats- und Regierungschefs um gigantische Rettungsschirme – und die Bedingungen für solche Hilfsgelder. Die Zukunft der noch jungen gemeinsamen Währung steht auf dem Spiel. Auch Deutschland stürzt in eine tiefe Rezession. Mit milliardenschweren Konjunkturpaketen hält die Bundesregierung dagegen. Berühmt wird die sogenannte Abwrackprämie, die den Deutschen den Kauf eines neuen Autos schmackhaft machen soll.

    Wieder Wahl

    2009 gewinnt Angela Merkel das Duell gegen SPD-Herausforderer Frank-Walter Steinmeier. Allerdings kassiert sie das schlechteste Ergebnis aller Zeiten für die Union. Zur zweiten Amtszeit verhilft ihr eine starke FDP, mit deren Chef Guido Westerwelle sie ein freundschaftliches Verhältnis verbindet.

    Der GAU

    Als Naturwissenschaftlerin macht Merkel nüchternen Pragmatismus zum Regierungsprinzip. Wir prüfen alte Antworten und geben neue, heißt ihr Prinzip. Dass diese neuen Antworten oftmals am Markenkern von CDU und CSU kratzen, nimmt sie in Kauf. Wenn ihre Gegner der Kanzlerin politische Beliebigkeit attestieren, beziehen sie sich neben dem Ende der Wehrpflicht oder der „Ehe für alle“ immer auch auf eine Katastrophe, die im März 2011 in Japan stattfindet.

    Obwohl die schwarz-gelbe Regierung gerade erst beschlossen hatte, die deutschen Kernkraftwerke länger laufen zu lassen als geplant, dreht sich der Wind nach dem GAU von Fukushima. Merkel ruft die Energiewende aus und verkündet, schon Ende 2022 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen. „Die Ereignisse in Japan lehren uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind“, sagt Merkel. Die Energiekonzerne toben und kämpfen am Ende erfolgreich um Milliardenentschädigungen.

    Abhören unter Freunden

    Mit US-Präsident Barack Obama pflegt die Kanzlerin ein fast herzliches, auf jeden Fall vertrauensvolles Verhältnis – das im Sommer 2013 auf eine harte Probe gestellt wird. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllt, wie der amerikanische Auslandsgeheimdienst NSA die eigenen Verbündeten ausspioniert hat. Es gibt Spekulationen, die US-Schnüffler könnten sogar Merkels Handy abgehört haben. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA stehen vor einer ernsten Belastungsprobe. „Abhören von Freunden, das ist inakzeptabel, das geht gar nicht“, lässt Merkel ihren Sprecher klarstellen.

    Höhepunkt

    Die meisten Deutschen fühlen sich inzwischen recht gut aufgehoben bei ihrer Kanzlerin, die eine Krise nach der anderen so unaufgeregt abarbeitet, dass andere Nationen nur staunen können. Bei der Bundestagswahl 2013 holt die Amtsinhaberin mit 41,5 Prozent der Stimmen ein Ergebnis, das beinahe an alte Bonner Zeiten erinnert und schrammt nur knapp an der absoluten Mehrheit vorbei. Weil die von Merkel schier erdrückte FDP allerdings aus dem Bundestag fliegt, geht ihr der Koalitionspartner verloren. Es kommt zu einer Neuauflage der Großen Koalition, die damals ihren Namen noch verdient hat.

    Weltmeisterin

    Die Karrieren von Angela Merkel und Joachim Löw verlaufen nicht nur in ihrer Dauer parallel. Bundeskanzlerin und Bundestrainer befinden sich auch nahezu zeitgleich auf dem Zenit ihres Schaffens und ihrer Popularität. Im Sommer des Jahres 2014 tummelt sich auf brasilianischen Fußball-Tribünen allerhand Politprominenz – auch Merkel jettet um die Welt, um die Nationalmannschaft live zu sehen. Heute gäbe es dafür womöglich einen Shitstorm (nichts Wichtigeres zu tun? Und das alles mit unseren Steuergeldern?), damals jedoch surfen Merkel und Deutschlands Fußballer auf einer Sympathiewelle bis zum Weltmeistertitel. Besser wird es nicht. Die Deutschen entfremden sich in den folgenden Jahren von ihrem Nationalteam – und von ihrer Kanzlerin.

    Wir schaffen das

    Im nächsten Jahr werden sich die Menschen am meisten über einen Satz streiten, der doch eigentlich ganz und gar positiv klingt: „Wir schaffen das.“ Drei Worte, die Zuversicht vermitteln sollen – und Angst provozieren. Drei Worte voller Emotion – aus dem Munde einer Kanzlerin, der Emotionen bislang eher unheimlich erschienen. Merkel will ein Deutschland, das Menschen in Not hilft, das ihnen Schutz bietet. Und sie unterschätzt, was diese Worte auslösen. Wenige Wochen zuvor hatte man in der SPD noch darüber nachgedacht, ob man überhaupt jemanden gegen die unschlagbare Merkel ins Rennen sollte. Nun schlagen der Kanzlerin plötzlich Wut und Abneigung entgegen.

    Die Bilder von hunderttausenden Flüchtlingen, die sich nach Deutschland aufmachen, spalten die Republik und lassen rechts von CDU und CSU eine Partei erstarken, die mit der Stimmung Stimmen macht. Erstmals in ihrer Zeit als CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin gerät Merkel aus den eigenen Reihen unter Beschuss. Mit CSU-Chef Horst Seehofer wird ausgerechnet der Mann zu ihrem härtesten Rivalen, der vor der Flüchtlingskrise noch davon gesprochen hatte, mit dieser Kanzlerin sei bei der nächsten Bundestagswahl die absolute Mehrheit drin. Beim CSU-Parteitag stellt er Merkel bloß (Stichwort Schulmädchen), er spricht von einer „Herrschaft des Unrechts“ und meint damit die Politik der eigenen Bundesregierung.

    Letzter Sieg

    Merkel hat ihre Politik nie besonders gut erklärt. Solange ihr die Deutschen vertrauten, störte das keinen besonders. Doch nun, da viele sich Sorgen machen, ob das Land so viele Flüchtlinge integrieren kann, wird ihr diese Sprachlosigkeit zum Verhängnis. Die Bundestagswahl 2017 markiert eine Zeitenwende. Die in Teilen rechtsextreme AfD zieht erstmals ins Parlament ein. Die Union stürzt auf den niedrigsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik. Dennoch bleibt sie klar stärkste Kraft. Und zur Wahrheit gehört auch, dass viele Menschen gerade wegen Merkel CDU und CSU gewählt haben.

    Dennoch schmeckt dieser letzte Wahlsieg bitter. Merkel geht schwer angeschlagen in die vierte Amtszeit. Bei Landtagswahlen kassiert die CDU eine Niederlage nach der anderen. „Merkel muss weg“, brüllen nun nicht mehr nur die Wutbürger im Osten. Auch in der eigenen Partei macht sich eine gewisse Merkelmüdigkeit breit. Verpasst die ewige Kanzlerin das, was ihr viele Beobachter zugetraut hatten: einen selbstbestimmten Abgang von der politischen Bühne? Kein Bundeskanzler vor ihr ging freiwillig, alle wurden abgewählt, sahen sich zum Rücktritt gezwungen oder wurden gestürzt. Passiert Merkel das auch?

    Anfang vom Ende

    Ein Jahr nach der Bundestagswahl beginnt der Rückzug auf Raten. Nach einem miesen Ergebnis der CDU bei der Landtagswahl in Hessen 2018 kündigt sie an, beim nächsten Parteitag nicht mehr für das Amt der Parteivorsitzenden zu kandidieren. Außerdem erklärt sie, dass am Ende der Legislaturperiode 2021 auch im Kanzleramt Schluss sein wird. So nachdenklich, so persönlich hat man Merkel selten gesehen. Die Frage, ob eine derart angezählte Regierungschefin wirklich noch so lange im Amt bleiben kann, steht im Raum. Zumal in der zweiten Reihe umgehend der Kampf um das Erbe beginnt. Es wird ein Drama in zwei Akten. Im ersten Anlauf setzt sich Merkels Wunschnachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer gegen Merkels Erzrivalen Friedrich Merz durch. Doch die Ära AKK wird nicht von langer Dauer sein. Was auch daran liegt, dass sich die neue Parteichefin im Schatten der Kanzlerin nicht entfalten kann. Nach zwei Jahren braucht die CDU schon wieder einen neuen Chef. Diesmal setzt sich Armin Laschet durch, der auch im Kanzleramt in Merkels Fußstapfen treten will.

    Die Pandemie

    Dass die Ära Merkel nicht einfach ihrem Ende entgegen plätschert, wie viele prognostiziert hatten, liegt an einem Virus, das im wahrsten Sinne des Wortes die Welt erobert. Anfang des Jahres 2020 breitet sich eine Pandemie aus, deren Ausmaß alle bisherigen Krisen, die Merkel zu meistern hatte, in den Schatten stellt. Dieses Mal geht es nicht um Geld, es geht um Leben und Tod. Und die Kanzlerin tut das, was oft vergeblich von ihr gefordert worden war, sie übernimmt die Führung. In einer Rede an die Nation stimmt sie das Land auf eine harte Zeit ein – womöglich ohne zu ahnen, wie einschneidend diese Krise wirklich sein wird. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, appelliert sie an die Deutschen. „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“

    Das Virus kostet allein in Deutschland mehr als 100.000 Menschen das Leben. Der Alltag kommt zum Stillstand, Geschäfte, Gastronomie, Schulen und Kindergärten schließen. Und in Merkel kommt wieder die Naturwissenschaftlerin durch, die Tabellen und Diagramme studiert, die Risiken abwägt und zur großen Mahnerin wird. Zu Beginn der Pandemie versammeln sich die meisten Deutschen hinter der Kanzlerin, die schon als abgeschrieben galt. Mit ihrer sachlichen Art gibt sie den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl, dass das Land auch diese Herausforderung meistern wird. Während in den USA, Großbritannien oder Brasilien großmäulige Populisten die Gefahren ignorieren, führt Merkel – in unerwarteter Allianz mit Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder – das „Team Vorsicht“ an. Ihre Beliebtheitswerte steigen rasant und manch einer in der Union fragt sich, ob das mit dem Abschied aus dem Kanzleramt nicht doch ein bisschen verfrüht war. Doch je länger die Pandemie dauert, desto dünner werden die Nerven. Und so wird es Merkel kaum bereuen, der Versuchung nicht nachgegeben zu haben, doch noch einmal anzutreten.

    Das Ende

    Am 26. September wählten die Deutschen einen neuen Bundestag. Erstmals hat keiner der Kanzlerkandidaten einen Amtsbonus. Angela Merkel hat es doch geschafft, aus freien Stücken ihre Karriere zu beenden. Ihr Nachfolger ist SPD-Politiker Olaf Scholz. Die Deutschen werden sich wohl erst wieder an die Formulierung „Herr Bundeskanzler“ gewöhnen müssen. (msti)

    Zuletzt überraschte Merkel mit Geständnissen. Im Frühjahr erzählte sie im Bundestag, im Westen hätte sie wohl auch Jura studiert. Vaclav Havel hatte in „Versuch in der Wahrheit zu leben“ darauf hingewiesen, dass viele Ost-Intellektuelle aus den ideologisch nicht zu vereinnahmenden Naturwissenschaften kommen. Wie sehr prägten die Naturwissenschaften die spätere Kanzlerin?

    Körner: Sie hat als Naturwissenschaftlerin einen sachlichen Umgang mit Problemen, sie ist komplexe Operationen gewohnt, sie weiß, dass viele Akteure unterwegs sind und dass man alle Akteure, ihre Motive und ihre Bewegungsgeschwindigkeiten studieren muss. Ich denke, sie studiert Probleme und betrachtet sie aus verschiedenen Perspektiven, das heißt, sie schaut sich das Interessenkalkül der Gegenseite an und akzeptiert es erst mal. Genauso wie sie zum Selbstverzicht fähig ist, ist sie fähig zum Positionsverzicht, sie ist keine Puristin, vielmehr ist sie eine Anwältin des Kompromisses und eine radikale Realistin.

    Ein weiteres Charakteristikum ist Merkels Raute, die sie spontan in einer Session mit der Fotografin Herlinde Koelbl entwickelt. Wie deuten Sie Merkels Gestik und Fingerspiel?

    Körner: Merkels Hände sind durch die Jahre landauf landab durch die Bundesrepublik und dann durch die ganze Welt gezogen, die Hände wurden selbstbewusster im Lauf der Jahre und gestenreicher, sie wurde aber nie eine Hand-Virtuosin wie etwa Barack Obama, dessen Hände ja mitunter tanzen, wenn er spricht. Ihre Hände, die Kanzlerinnen-Hände, die Raute sprechen von Stabilität, von Symmetrie und dem Versuch, sich immer wieder aus- und einzupendeln.

    Merkel war als Familienministerin Kohls Mädchen. Als Kanzlerin war sie rasch Mutti, nach der Eurokrise Mrs. Europa. Wie würden Sie ihr Standing beschreiben?

    Körner: Die Bundeskanzlerin ist eine faszinierende Politikerin, weil sie nie der Versuchung erlegen ist, all den Titeln und Zuschreibungen zu erliegen. Wenn sie durch Begriffe wie „Kohls Mädchen“ gekränkt war, hat sie es sich nicht anmerken lassen. Und wenn sie zur „Leaderin of the free world“ erkoren wurde, hat sie das möglicherweise gefreut, aber letztlich hat sie wohl innerlich den Kopf geschüttelt über so viel begrifflichen Gigantismus. Superlative haben ihr nie gelegen, und das macht ihre Stärke aus. Es gibt so viele selbsttrunkene Politiker, Raffzähne des eigenen Ruhms, egopralle Gockel, da hat sie immer überzeugt durch nüchterne Selbstbescheidung.

    Wie sehr wird Deutschland Merkel vermissen?

    Körner: Die Deutschen sind in dieser Frage weder zu generalisieren noch auf einen Nenner zu bringen. Viele Deutsche werden erst im Rückblick erkennen, wer diese Politikerin war, und sicher wird es auch viele Menschen geben, die ihren Politikstil vermissen werden. Angela Merkel jedoch wird sich leichter tun als viele Vorgänger, dieses Amt loszulassen. Sie klebt nicht an der Kanzlerin.

    Zur Person: Torsten Körner, 56, stammt aus Oldenburg und studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Er ist als Fernsehkritiker, Dokumentarfilmer und Autor tätig. Von ihm erschienen Biografien u.a. über Heinz Rühmann, Franz Beckenbauer, Götz George und Willy Brandt. Sein Buch "Die Kanzlerin am Dönerstand" ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

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