Frau Merkel, Deutschland bekommt den Zuschlag für die EM. Wird das ein Sommermärchen 2024?
Merkel: Ich freue mich sehr, dass wir den Zuschlag für die Europameisterschaft 2024 erhalten haben. Wir wissen alle noch, wie gut uns die Weltmeisterschaft gelungen ist. Deshalb bin ich ganz sicher, dass Deutschland ein wunderbarer Gastgeber sein wird. Ich drücke die Daumen, dass nicht nur andere gut spielen, sondern auch die deutsche Nationalmannschaft.
Werden dann eher Sie oder Jogi Löw noch im Amt sein?
Merkel: Da sag ich einfach: Schau mer mal…
Spätestens seit der Wahlniederlage Ihres engen Vertrauten Volker Kauder als Fraktionsvorsitzender fragt sich die Republik, wie es Ihnen eigentlich geht.
Merkel: Ich habe mich für Volker Kauder eingesetzt, aber es gab eine Mehrheit für Ralph Brinkhaus. Das ist klassische Demokratie. Wissen Sie, ich habe schon so viele Geschichten über mich gelesen, dass ich an anderen nicht festgehalten oder sie sogar aus ihrer Position gedrängt habe. Diesmal habe ich mich für einen treuen Freund eingesetzt und andere haben gefunden, dass es eines Wechsels bedarf. Deshalb würde ich sagen: Ich arbeite jetzt sehr gut mit Ralph Brinkhaus zusammen. Das ist unser beider Wunsch. Es geht darum, dass wir etwas hinbekommen in der Politik.
In den Schlagzeilen der vergangenen Tage war vom Ende einer Epoche, dem Ende einer Ära, dem Ende einer Kanzlerin die Rede. Wie nah sind Sie dem Ende?
Merkel: Ich sitze hier ganz quicklebendig und gedenke meine Arbeit weiter zu tun.
Warum stellen Sie dann nicht die Vertrauensfrage, wie es andere Kanzler in kniffligen Situationen auch getan haben?
Merkel: Weil es einfach keine knifflige Situation ist. Eine Vertrauensfrage kann man stellen, wenn es um eine schwierige Sachfrage geht, die man mit dem Vertrauen verbindet. Aber ich habe jetzt einen Fraktionsvorsitzenden, der immer wieder gesagt hat, es sei ihm ein Anliegen, dass er mit mir gut zusammenarbeitet. Ich habe mit ihm schon als Vize-Fraktionsvorsitzenden in Fragen der Euro-Finanzpolitik, in Fragen des Bund-Länder-Finanzausgleichs auch sehr gut zusammengearbeitet. Ralph Brinkhaus ist ja niemand, der gesagt hätte, dass er mit meinem Stil nicht zufrieden ist. Er hat immer gesagt, dass er eine Fraktion führen möchte, die die Arbeit der Regierung unterstützt.
Im Jahr 1999 schrieben Sie in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die CDU müsse laufen lernen, müsse ohne ihr altes Schlachtross den Kampf mit dem politischen Gegner aufnehmen. Damals ging es um die Emanzipation von Helmut Kohl. Gilt dieser Satz heute für Sie?
Merkel: Das war eine völlig andere Situation. Wir hatten 1998 die Wahl verloren und Helmut Kohl war nicht mehr Bundeskanzler. Die CDU steckte durch die Spendenaffäre in einer schwierigen Situation. In dieser Zeit ging es um die Frage: Was ist die Zukunft der CDU? Heute sind CDU und CSU trotz des schwierigen Wahlergebnisses so stark, dass man gegen uns gar keine Regierung bilden kann. Deshalb: Dieser Satz aus der FAZ ist mir noch sehr vertraut, aber er passt nicht auf die heutige Zeit.
Sie werden also auch beim CDU-Parteitag Ihren Posten als Parteivorsitzende nicht abgeben?
Merkel: Nein. Ich habe gesagt, ich stehe für diese Legislaturperiode zur Verfügung und ich habe meine Meinung, dass Parteivorsitz und Kanzlerschaft zusammengehören, nicht geändert.
Wollen Sie Ihren Kritikern nicht zumindest sagen, dass nach dieser Legislatur endgültig Schluss ist?
Merkel: Nun ist jetzt noch nicht einmal die Hälfte der Legislaturperiode erreicht. Und wenn Sie überlegen, wann ich in den anderen Legislaturperioden erklärt habe, ob ich noch einmal kandidiere, dann haben wir diesen Zeitpunkt mit Sicherheit nicht erreicht.
Ist das größte Problem der Großen Koalition, die Tatsache, dass weder die SPD noch die CSU so richtig mit Ihnen koalieren wollen?
Merkel: Wir hatten ein sehr schwieriges Wahlergebnis. Zum ersten Mal haben wir eine Partei im Deutschen Bundestag, die ihren politischen Schwerpunkt rechts von der Union verortet, die zum Teil sehr problematische politische Standpunkte vertritt. Eine Partei, von der – wie ich finde – man sich sehr stark abgrenzen muss. Viele haben sich zudem schwergetan, eine Regierung zu bilden. Ich denke, dass auch eine Jamaika-Regierung gut gewesen wäre. Aber leider hatte die FDP dann kein Interesse mehr. Ich achte es sehr hoch, dass die SPD, die eigentlich gesagt hat, sie möchte sich in der Opposition neu positionieren, dann doch staatspolitische Verantwortung übernommen hat. Seit dieser Bundestagswahl gibt es eine gewisse Nervosität, die hat mit dem Wahlergebnis zu tun. Aber sicher auch mit der Tatsache, dass das Thema Flüchtlinge dieses Land ein Stück weit spaltet. Da sich die Union mit diesem Thema sehr intensiv auseinandersetzt, hat das auch bei uns zu harten Disputen geführt, nach denen wir aber immer wieder zusammengefunden haben. Und wir haben eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet. So kann ich aus der persönlichen Arbeit sagen, dass wir schon eine ganze Menge weggeschafft haben.
In einer Studie sagten 80 Prozent der Deutschen, das Land sei gespalten. Wie erklären Sie das?
Merkel: Die Spaltung begann schon mit der Eurokrise. Die haben wir ganz gut in den Griff bekommen. Dann kam die Frage, was die Herausforderung der Migration für uns bedeutet. Das hat zu einer neuen Spaltung geführt. Das rechtfertigt meiner Meinung nach unterschiedliche politische Positionen, das rechtfertigt aber nicht diese Art von Hass. Gegen den sollten wir uns sowieso insgesamt wehren. Diese völlige Enthemmung in der Sprache ist etwas, das wir nicht tolerieren dürfen in Deutschland. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Ich habe diesen Hass auch im Wahlkampf zu spüren bekommen.
Die Große Koalition wirkt wohl häufig sehr weit weg vom Volk. Im Streit um den Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen fragte ein SPD-Politiker in den sozialen Medien: „Was haben die denn gesoffen?“
Merkel: Das ist wieder so ein Fall. Man kann wirklich dagegen sein und ich bedaure auch sehr, dass ich diese Lösung mitgetragen habe. Und das sage ich wirklich nicht alle Tage. Aber auch da hat man wieder gemerkt, wie sich die Sprache sehr schnell anheizt.
Wäre es nicht ehrlicher, Sie würden eine Minderheitsregierung machen? Dann ginge es wenigstens wieder um Sachthemen und nicht um Personen.
Merkel: Nein, was meinen Sie, was dann los wäre. Es wäre noch viel, viel unruhiger. Wir haben Gesetze angestoßen für den Bereich Pflege, für schnellere Arzttermine, wir haben den Beitrag zur Krankenversicherung gesenkt, wir werden Eckpunkte für ein Fachkräftezuwanderungsgesetz erarbeiten, wir haben das Kindergeld erhöht, wir haben das Baukindergeld eingeführt, wir haben einen Wohnungsgipfel gemacht. Was gelingt, wird nur nicht so stark wahrgenommen. Ein bisschen Streit kommt da offenbar besser an.
Ein bisschen Streit ist gut…
Merkel: Wir sind unterschiedliche Parteien. Selbst CDU und CSU sind nicht immer einer Meinung, selbst innerhalb der CDU sind nicht immer alle einer Meinung. Aber wenn jede Debatte, jedes Ringen um eine Lösung nur noch unter „Zoff“ abgebucht wird, dann hilft uns das auch nicht weiter. Wir brauchen Debatten, damit wir hinterher zu Lösungen kommen. Und wir müssen auch den Kompromiss achten. Der Kompromiss ist das Ergebnis demokratischer Debatten.
Sehen Sie es als Teil Ihres politischen Vermächtnisses, dass sich mit der AfD eine Partei rechts von CDU und CSU etablieren konnte?
Merkel: Erstens: Wir sollten alles tun, damit die AfD so klein wie möglich wird. Das heißt für mich: Die Probleme, die die Menschen umtreiben, ernst zu nehmen und zu lösen. Aber auch da müssen wir einen klaren Schlussstrich ziehen, dort, wo Hass ist, wo generelle Verdächtigungen sind, wo Minderheiten ausgegrenzt werden. Da muss man sich absolut abgrenzen. Zweitens: Ich werde immer nach meinem Vermächtnis gefragt. Ich habe aber gar keine Zeit, mich mit meinem Vermächtnis zu befassen. Ich versuche, die Probleme zu lösen. Und ich meine, im Zusammenhang mit den Themen Migration und Flüchtlinge müssen wir die unterschiedlichen Positionen versöhnen. Da lohnt es sich auch nicht, zurückzublicken. Da lohnt es sich nur, nach vorne zu schauen und zu fragen, was wir schon erreicht haben. Und an dieser Stelle darf ich sagen, dass der Freistaat Bayern schon mehr erreicht hat als viele andere Bundesländer.
Sie haben die Union nach links gerückt. Vielleicht wäre die AfD nicht so stark geworden, wenn Sie konservativer geblieben wären.
Merkel: Dem widerspreche ich ganz elementar. Man kann darüber sprechen, wo der Schwerpunkt einer Partei liegt. Die Frage, wie konservativ ich bin, begleitet mich seit dem Tag, an dem ich Parteivorsitzende wurde – das war im Jahr 2000. Vorher hat mir ein ausgesprochen konservatives Mitglied der Bundestagsfraktion aus Baden-Württemberg gesagt: Du musst kandidieren. Da habe ich gesagt: Ich weiß nicht, ob ich konservativ genug bin für euch. Da hat er gesagt: Da mach dir mal keine Sorgen, das sind wir alleine. Du musst dafür sorgen, dass unsere Töchter weiter CDU wählen. Mit dieser Mission bin ich Parteivorsitzende geworden. Die Basis machte sich selbst Sorgen, wie man für jüngere Wähler wieder attraktiv werden könnte. Manchmal wird auch von den Stammwählern gesprochen. Seit ich nach der deutschen Einheit eine Wählerin der CDU wurde, war ich immer Stammwähler. Der Stammwähler kann nicht von mir separiert werden.
Lange galten Sie als „Kohls Mädchen“. Denken Sie in diesen bewegten Zeiten manchmal, was Helmut Kohl sagen würde?
Merkel: Ja, daran denke ich oft. Helmut Kohl hat mich sozialisiert. Ich bin damals aus der DDR gekommen und hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung, um es mal volkstümlich zu sagen. Ich habe dann Helmut Kohl als den Kanzler erlebt, der sehr viel für die deutsche Einheit getan hat. Da hat man sich alles angeguckt und abgeguckt. Wie reagiert er? Wie lange wartet er? Ich habe sehr, sehr viel gelernt. Und deshalb denke ich auch heute noch daran: Wie hätte er das wohl beurteilt?
Lassen Sie uns daran teilhaben?
Merkel: Er würde sich auf jeden Fall ganz klar von der AfD abgrenzen. Er würde sich auf jeden Fall für die Einheit Europas einsetzen. Wir leben nun mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung. Deshalb würde Helmut Kohl versuchen zu verstehen, was viele Menschen, die sich abgehängt fühlen, wohl denken. Die gibt es in den neuen Bundesländern, die gibt es aber auch in den alten. Er hatte ein gutes Gespür für die Sorgen von Menschen.
Belastet es Sie manchmal, dass Helmut Kohl in den späten Jahren seines Lebens aus seiner Verbitterung über Sie keinen Hehl gemacht hat?
Angela Merkel und der Humor
Nur wer ganz genau hinschaut, kann die Erschöpfung erahnen, die der kräftezehrende Job im Kanzleramt mit sich bringen muss. Seit Monaten steht Angela Merkel im Dauerfeuer, ihre Regierung hangelt sich von Krise zu Krise. Anmerken lässt sie sich die Strapazen selten.
Auch bei ihrem Besuch im Augsburger Rathaus gibt sie sich schlagfertig, humorvoll und süffisant. Ihr Umfeld erzählt, dass Merkel ein erstaunliches Repertoire habe, wenn es darum geht, Kollegen zu imitieren. Ganze Journalistenrunden waren schon in Lachtränen aufgelöst, wenn sie Scherze über ihre Amtskollegen machte.
Bei öffentlichen Auftritten aber dosiert sie ihren Humor vorsichtiger. Gerade bei Pressekonferenzen kennt man sie nüchtern bis zur Schmerzgrenze. Staatstragend eben. Damit unterscheidet sie sich wenig vom restlichen Politikbetrieb. Eine Ausnahme: der inzwischen verstorbene Bundespräsident Johannes Rau. Einer seiner Lieblingswitze: „Wie heißen die drei schönsten Frauen Nordrhein-Westfalens?“, fragte er und schob sofort die Lösung nach. „Maria Cron, Klara Korn und Anne Theke.“
Apropos Alkohol. Merkel hatte ihren ersten Vollrausch mit 18 nach der Abiturfeier. Sie hatte zu viel Kirsch-Whisky getrunken und fiel aus einem Boot. Das war sonst eigentlich nicht ihre Art. In einem Interview verriet sie einmal: „Ich war immer das Mädchen, das Erdnüsse isst und nicht tanzt.“ (huf)
Merkel: Das war so. Sie haben den Artikel in der FAZ angesprochen – es war aus meiner Sicht notwendig, ihn zu schreiben. Aber schön hab ich’s nicht gefunden.
Sie sind heute in Bayern, das ist gar nicht so selbstverständlich – zwischendurch hat Ministerpräsident Markus Söder wenig Wert auf Ihre Wahlkampfhilfe gelegt…
Merkel: Aber jetzt hatte ich ihn gefragt und er hat gesagt, ich soll ruhig kommen. Und am Sonntag bin ich schon wieder in Bayern.
Mal frech gefragt: Müssten Sie am 14. Oktober nicht heilfroh sein, wenn ein schlechtes Wahlergebnis Seehofer aus dem Amt trägt?
Merkel: Sie haben wahrscheinlich noch nie einen Wahlkampf gemacht. Wir sind eine gemeinsame Fraktion, wir sind Schwesterparteien. Wir können überhaupt nur dann eine Regierung bilden, wenn wir zusammenhalten. Da fiebert man miteinander mit. Man steckt so viel Kraft, so viel Zeit, so viel Lebensenergie rein. Viele Menschen machen Politik ehrenamtlich, die wetzen rum, lassen sich beschimpfen. Da gibt es überhaupt keinen anderen Weg, als sich gegenseitig Erfolg zu wünschen.
Ich kann nicht ganz glauben, dass Sie nicht an manchen Tagen aufwachen und sich fragen: Was hat Seehofer jetzt schon wieder gesagt?
Merkel: Nur weil es Meinungsunterschiede gibt und man sich sagt, wenn man etwas nicht in Ordnung findet, muss ich doch nicht gleich jemandem etwas Schlechtes wünschen. Das ist völlig abwegig.
Hätte es geholfen, wenn Sie sich auch in der Flüchtlingspolitik hingestellt und wie nun im Fall Maaßen gesagt hätten: Ich habe einen Fehler gemacht.
Merkel: Die Dinge liegen völlig unterschiedlich. Im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise habe ich mein Bedauern dahingehend ausgedrückt, dass wir uns nicht ausreichend gekümmert haben, was da in Syrien los war, was da in den jordanischen und libanesischen Flüchtlingslagern los war. Wir haben damals gar nicht zur Kenntnis genommen, dass schon drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei angekommen waren. Diese Menschen hatten nichts mehr zu essen, ihre Ersparnisse waren aufgebraucht. Viele haben sich mit der Hilfe von Schleppern auf den Weg gemacht. Bedauern kann ich also nur, dass wir nicht ausreichend aufgepasst haben, was da in Syrien, im Libanon, in Jordanien und der Türkei los war.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagt, dass wir viele dieser Menschen gar nicht mehr zurückführen können - auch, weil wir die harten Bilder der Abschiebung nicht wollen. Ist das nicht die Resignation des Rechtsstaates?
Merkel: Ich finde, dass man sich damit nicht abfinden darf. Bei den Flüchtlingen, die 2011 kamen, würde ich auch nicht versprechen, dass wir alle wieder nach Hause bringen werden. Aber die Botschaft muss doch sein: Wir wollen das. Wir wollen denen Schutz geben, die Schutz verdienen. Und für die gibt es auch ein ausgefeiltes Rechtssystem in Deutschland mit vielen Möglichkeiten, sein Recht einzuklagen. Und wenn dann das Urteil lautet, dass jemand kein Anrecht hat, in Deutschland zu bleiben, muss der Rechtsstaat das auch einsetzen. Da müssen wir besser werden. Ich war kürzlich in Afrika und habe mit den Herkunftsstaaten gesprochen. Ich habe deutlich gesagt: Wir helfen euch. Aber wir können als Staaten miteinander nur Kontakte haben, wenn wir bereit sind, gegen die Schlepper auch anzukämpfen. Viele afrikanische Regierungschefs wissen das auch. Denn mit dem Geld, das die Menschen den Schleusern geben, kaufen diese Drogen, Waffen, tragen zu Unruhen bei. Das ist kriminell. Dem darf man sich nicht unterwerfen.
Viele afrikanische Regierungen sind von unserer Vorstellung von guter Regierungsführung weit entfernt. Darf man denen Geld geben, damit uns die Migranten fernhalten?
Merkel: Darum geht es nicht. Wir haben einen sehr hoch entwickelten Rechtsstaat, den ich mir für viele Länder dieser Erde wünschen würde. Aber wenn wir nur noch Kontakte haben zu Menschen, die unseren Ansprüchen an den Rechtsstaat genügen, dann haben wir schon jenseits von Europa Schwierigkeiten. Außenpolitik ist immer werte- und interessengeleitet. Wir lernen gerade auch sehr viel. Wenn Länder ganz arm sind, also 400 Euro Jahresverdienst pro Person, wie das etwa in Mali, im Niger der Fall ist, fliehen von dort keine Menschen. Sie können es sich gar nicht leisten. Wenn Länder sich einem Jahreseinkommen von 4000 Euro annähern, haben die Menschen ein Smartphone und wissen, wie es woanders ist. Bis etwa 10.000 Euro Jahresverdienst gibt es die Versuchung zu sagen, ich gehe dahin, wo es besser ist. Wo die Menschen mehr als 10.000 Euro verdienen, lässt die Zahl der Flüchtenden nach, weil keiner freiwillig seine Heimat verlässt. Wenn wir sehen, dass es China innerhalb weniger Jahrzehnte geschafft hat, hunderte von Millionen von Menschen aus dem Hunger herauszuholen, dann kann das Afrika genauso gelingen.
Nun gibt es Menschen im Osten, die sagen: Bevor ihr die ganzen Flüchtlinge integriert, integriert doch erst einmal uns. Ist das etwas, das Sie umtreibt?
Merkel: Wir feiern am 3. Oktober den 28. Jahrestag der Deutschen Einheit. Insgesamt ist die eine Erfolgsgeschichte. Aber es ist schon auch so: Vieles, was Anfang der 90er Jahre passiert ist, kommt jetzt bei den Menschen noch mal auf den Tisch. Es war ja auch eine unglaubliche Erfahrung. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren, mussten neu anfangen. Das Gesundheitssystem, das Rentensystem – alles wurde anders. Ich war damals 35 Jahre alt, das ging noch. Aber mit 45 oder 55 wird das nicht einfacher. Zum Tag der Währungsunion haben 13 Prozent der Menschen im Osten in der Landwirtschaft gearbeitet – am Tag danach waren es noch 1,5 Prozent. Wissen Sie, wie viele Tierärzte es gab? Wie viele Traktoristen? Das waren Leute, die nie wieder in ihrem Beruf arbeiten konnten. Wenn du Tierarzt bist, kannst du ja nicht zu Siemens gehen und sagen: Morgen werde ich Ingenieur. Dann gab es die Treuhand-Anstalten, die viel Gutes geschafft haben. Aber wenn dann plötzlich die 28-jährigen Volkswirte aus dem Westen kommen, die sagen, was man alles nicht kann… So etwas arbeitet in den Leuten. Das ist niemals eine Rechtfertigung für Hass und Gewalt. Niemals. Aber es ist eine Erklärung für eine andere Lebensbiografie.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich nicht dafür entschuldigen wollen, ein freundliches Gesicht zu zeigen. Nun ist Deutschland insgesamt unfreundlicher geworden.
Merkel: Ich bin mit der Unfreundlichkeit nicht zufrieden. Ich möchte, dass wir wieder zu einem freundlicheren Umgangston zurückkehren. Jeder hat ein Leben, jeder sollte versuchen, in diesem Leben etwas umzusetzen. Wer sich benachteiligt fühlt, den wollen wir unterstützen. Das ist Politik.
Während Ihrer Zeit in der Politik wurden Sie immer wieder von der Wirtschaft enttäuscht. Erst während der Finanzkrise und jetzt im Abgasskandal. Verlieren Sie den Glauben an den Standort Deutschland?
Merkel: Meine erste Begegnung mit der Wirtschaft war als Umweltministerin. Damals waren Castor-Behälter verschmutzt. Das war damals auch eine Enttäuschung. Als Politiker muss man auf eine gewisse Distanz achten: Wir machen die Gesetze, die dazu dienen, Schaden abzuwenden. Die Wirtschaft muss im Rahmen dieser Gesetze Technologien entwickeln. Natürlich bin ich enttäuscht von dem, was da in der Automobilindustrie passiert ist. Was mich dabei beunruhigt, ist aber vor allem, dass durch dieses Verhalten Arbeitsplätze und der Ruf eines Produkts in Gefahr geraten. Darum geht es mir: Ohne diese Arbeitsplätze ist Deutschlands Wohlstand gefährdet.
VW und Daimler erzielen Milliardengewinne. Trotzdem ist in den Verhandlungen über Diesel-Nachrüstungen unklar, ob die Autoindustrie die Kosten nun zu 80 Prozent oder zu 100 Prozent trägt. Das versteht doch kein Kunde.
Merkel: Unser Ansatz ist ein anderer. Wenn wir in einigen Städten Fahrverbote haben, müssen wir versuchen, die Flotte zu erneuern und den Umtausch voranzutreiben. Das wird das Hauptziel sein. Nach heutigem technischem Stand kann man kein einziges Euro-4-Auto nachrüsten, von den Euro-5-Dieseln kann man höchstens ein Drittel nachrüsten. Der bessere Weg ist es daher, die alte Flotte durch eine neue zu ersetzen. Ergänzend wird man für einige Autofahrer die Möglichkeit der Nachrüstung eröffnen – und dafür soll der Kunde nach unserer Meinung nichts bezahlen. Es geht also um eine 100-Prozent-Lösung. Wir werden am Montagabend im Koalitionsausschuss abschließend beraten.
Sie hatten mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einen schwierigen Gast. Müsste man der Türkei, die sich in einer schwierigen Lage befindet, wirtschaftlich helfen?
Merkel: Fragen wir andersherum: Was ist unser Interesse? Mein Interesse jedenfalls ist, dass wir eine stabile Türkei haben. Wenn es Kritikwürdiges gibt, dann äußern wir Kritik. Das werde ich auch tun. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht eine stabile Türkei möchte. Die Türkei ist Nato-Mitglied. Schauen Sie sich die Nachbarn der Türkei an – dort haben wir die Instabilität vor unserer Haustür. Das kann unter gar keinen Umständen unserem Interesse entsprechen. Wir müssen kluge Verbindungen finden, wie wir helfen, damit die Türkei stabil bleibt. Hierfür werden wir die wirtschaftliche Zusammenarbeit stärken. Aber wir besprechen auch Kritisches. Die Lage der Menschenrechte ist nicht so, wie ich mir das vorstelle. Das ist auch in anderen Ländern so. Der russische Präsident zeigt in dieser Frage auch erhebliche Defizite.
In einem Interview haben Sie einmal gesagt, dass Sie früher gerne einmal ein Restaurant eröffnet hätten. Was sind heute Ihre Pläne für die Zeit nach der Politik – wenn die denn einmal kommen sollte?
Merkel: Eine Restaurant-Eröffnung steht gerade nicht auf meinem Plan. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich meinen Garten etwas besser pflegen. Ich würde Reisen machen, die mich dorthin führen, wo die Zeitverschiebung größer ist. Das kann man als Bundeskanzlerin sehr schlecht: Dorthin reisen, wo es sechs oder acht Stunden Zeitverschiebung gibt. Sonst ist man vollkommen entkoppelt vom hiesigen Geschehen. Aber jetzt bin ich erst einmal gerne Bundeskanzlerin.
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