Im Geiste von „Team Europa“, wie sie es nannte, reiste Ursula von der Leyen mit gezücktem Scheckbuch nach Beirut. Dementsprechend wurde der EU-Kommissionspräsidentin an diesem Donnerstag auch der rote Teppich ausgerollt. Denn sie versprach dem Libanon finanzielle Unterstützung in Höhe von einer Milliarde Euro. Das Paket soll helfen, den Zustrom von syrischen Flüchtlingen aus dem vorderasiatischen Staat am Mittelmeer in die EU zu stoppen oder zumindest einzudämmen.
Weshalb wird gerade jetzt das Abkommen vorangetrieben?
Die lebensgefährliche Flucht mit oft kaum seetüchtigen Booten nach Europa gehört seit vielen Jahren zu den großen Problemen der internationalen Politik. 2023 machten sich nach Zahlen der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex mehr als 275.000 Menschen so auf den Weg in eine erhoffte bessere Zukunft. In diesen Tagen, wenn der Sommer naht und die See in der Regel wieder ruhiger ist, steigt die Zahl der Boote erfahrungsgemäß an. Zur Wahrheit dürfte aber auch gehören, dass der Wahlkampf für die Europawahl langsam an Fahrt aufnimmt und die Sorge, dass rechte Parteien vom Frust vieler Menschen über die illegale Migration profitieren, gewaltig ist. Geld ist das favorisierte Mittel der Staatengemeinschaft, um Probleme zu lösen, und dass die Union bereit ist, eine Milliarde Euro auf den Tisch zu legen, zeigt, wie sehr die Sache drängt.
Warum schließt die EU den Deal mit dem Libanon?
Mehr als 12 Millionen syrische Kinder, Frauen und Männer sind seit 2011 in Nachbarländer oder innerhalb Syriens geflüchtet. In Deutschland machen Syrer nach wie vor die größte Gruppe unter den Schutzsuchenden aus. Der vergleichsweise kleine Libanon hat im Verhältnis zur Bevölkerungszahl die meisten Geflüchteten aus Syrien aufgenommen. Doch viele Menschen wollen nach Europa weiterziehen. Das hat Gründe: Der Libanon selbst steckt derzeit in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seiner Geschichte, es gibt noch nicht einmal ein richtiges Staatsoberhaupt, der Regierungschef ist nur geschäftsführend im Amt. Angesichts dieser angespannten Lage sind die Flüchtlinge zunehmend Ziel von Hass und Gewalt. Sie klagen über Angriffe und Diskriminierung.
Was wird mit dem Geld geschehen?
Von dem Geld, das laut Kommission bis 2027 zur Verfügung steht, sind 736 Millionen Euro zur Bewältigung der Syrien-Krise vorgesehen. Die restlichen 264 Millionen Euro sind laut Brüsseler Behörde dafür gedacht, die bilaterale Zusammenarbeit zu vertiefen. So sollen etwa die libanesische Armee und andere Sicherheitskräfte unterstützt werden. Es gehe „vor allem um die Bereitstellung von Ausrüstung und Ausbildung für die Grenzverwaltung“, sagte von der Leyen. Zudem will die EU finanziell dabei helfen, das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen im Libanon zu stärken, um für mehr soziale und wirtschaftliche Stabilität zu sorgen. Darüber hinaus betonte die Brüsseler Behördenchefin die Bedeutung von Wirtschafts- und Bankenreformen.
Was sagen Experten zu dem Schritt?
Fachleute zeigten sich skeptisch über die Stoßrichtung der neuen Initiative. „Wenn das primäre Ziel die Abwehr von Geflüchteten ist, wird das Abkommen die explosive Lage im Libanon weiter verschärfen”, sagt Andreas Grünewald von der Hilfsorganisation "Brot für die Welt". Es erhöhe außerdem die Gefahr, dass Geflüchtete völkerrechtswidrig nach Syrien abgeschoben werden. Die Organisation „Human Rights Watch“ berichtet zudem von Folterungen und willkürlichen Festnahmen. Darüber hinaus treibt die Syrer die Sorge um, zurück in die zerfallene Heimat abgeschoben zu werden, wo ihnen die Verhaftung oder eine Einberufung in Baschar al-Assads Armee droht. Und so wollen insbesondere jene, die es sich leisten können, einfach nur noch weg. Die Fahrt ins lediglich 170 Kilometer entfernte Zypern gilt oft als einzige Option.
Warum schließt die EU keinen Deal direkt mit Syrien ab?
Europa hat seine Kontakte mit der syrischen Regierung gekappt, es gibt keinerlei politische Zusammenarbeit. Machthaber Baschar al-Assad werden schwerste Kriegsverbrechen vorgeworfen.
Wirkt der Flüchtlingsdeal, den Europa einst mit der Türkei geschlossen hat?
Mehr als drei Millionen Syrer leben aktuell in der Türkei unter temporärem Schutz. In einem Abkommen mit der EU verpflichtete sich die Regierung in Ankara gegen milliardenschwere Geldzusagen schon seit 2016, die Grenzen nach Europa zu Wasser und zu Land besser zu schützen. Allein im ersten Quartal dieses Jahres stoppte die türkische Küstenwache im östlichen Mittelmeer und in der Ägäis annähernd 13.000 Menschen. Zahlen zu illegalen Grenzübertritten auf dem Landweg gibt es nicht. Allerdings gibt es immer wieder auch Kritik von Menschenrechtsorganisationen, die der Türkei vorwerfen, Syrerinnen und Syrer illegal abzuschieben. Hinzu kommt, dass die große Anzahl an Flüchtlingen in der Türkei selbst von vielen Menschen als belastend empfunden wird. Das Paradoxe: Oft sind es inzwischen auch Türkinnen und Türken selbst, die nach Europa flüchten. In der Länder-Rangliste des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge lag das Land im ersten Quartal mit etwa 10.000 Asylanträgen hinter Syrien und Afghanistan auf Rang drei.
Wo in Europa kommen gerade die meisten Flüchtlinge an?
In Italien und Griechenland hat sich die Lage leicht entschärft, doch die Migranten suchen neue Ziele. In Spanien ist die Zahl der irregulären Ankünfte in den ersten Monaten des Jahres erheblich gestiegen. Betroffen waren vor allem die Kanaren. Auf Zypern ist die Zahl der Neuankömmlinge noch drastischer gestiegen. Seit Jahresbeginn landeten auf der Insel im östlichen Mittelmeer etwa 4000 Migranten – im ersten Quartal des Vorjahres waren es lediglich 78. (mit dpa)