Herr Hofreiter, kürzlich mahnten Sie, Zitat: "Putin freut sich viel zu häufig über die Zerstrittenheit bei uns". Täuscht der Eindruck, oder sind Sie mit Ihren vielen kritischen Äußerungen zur Ukraine-Politik der Regierung und Ihres Kanzlers Olaf Scholz Teil des Problems?
ANTON HOFREITER: Man sollte meine Rolle nicht überschätzen. Ich habe lediglich darauf abgezielt, dass wir in Europa und auch bei uns viel zu viele unterschiedliche Strategien haben.
Bei uns heißt: in der Bundesregierung?
HOFREITER: In der Regierung, aber auch im Bundestag. Nehmen Sie nur den SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich und unseren Verteidigungsminister Boris Pistorius. Da haben Sie schon innerhalb der SPD zwei grundlegend verschiedene Strategien. Dann haben wir Frankreich und Deutschland, wo jeweils mit Blick auf die Ukraine ebenfalls ganz andere Strategien gefahren werden. Dann haben wir die Osteuropäer, die Nordeuropäer, die Balten. Das ist im Kern das Problem im Umgang mit Putin.
Sie haben zusammen mit dem CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen einen Beitrag in der FAZ veröffentlicht und werfen dem Kanzler darin "katastrophalen Defätismus" vor. Das klingt nach offener Meuterei. Warum so heftig-deftig?
HOFREITER: Der Beitrag kam zu einem Zeitpunkt, wo wir auf europäischer Ebene wegen zweier Äußerungen des Kanzlers in großen Schwierigkeiten waren. Er hatte einerseits gesagt, dass die Ukraine verloren sei, wenn die Unterstützung der USA ausbleibe. Das so auch gegenüber Putin zu signalisieren, gefährdet unsere eigene Sicherheit. Und es gab eine zweite problematische Äußerung, in der er den Einsatz britischer Soldaten auf ukrainischem Boden preisgab. Selbst wenn es stimmen würde, was eine offene Frage ist, darf man sowas über Verbündete einfach nicht äußern.
Passiert ist es trotzdem. Warum?
HOFREITER: Ich glaube, dass wir in Deutschland die europäische Debatte immer noch zu wenig mitschneiden und die Befindlichkeiten unserer Partner deshalb nicht im Blick haben. Wir machen uns oft nicht klar, was wir mit bestimmten Bemerkungen in Europa auslösen. Wenn ich als Vorsitzender des Europaausschusses mit Politikerinnen und Politikern anderer Länder zusammentreffe, muss ich mir da schon einiges anhören.
Als Koalitionspartner könnten Sie doch Einfluss auf den Kanzler nehmen, wenn Sie sein Agieren für falsch halten.
HOFREITER: Mir geht es genauso wie dem Kanzler darum, dass wir schnell zu Friedensverhandlungen kommen und dass das Sterben endlich aufhört. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir das nur mit einer starken Ukraine schaffen. Dafür müssen wir alles tun, um das Land zu unterstützen. Putin interpretiert doch unser Zaudern so: Denen geht die Munition aus und deshalb mache ich weiter.
Sie sind für den Einsatz von Taurus-Marschflugkörpern in der Ukraine. Welchen Vorteil hätte das im Kampf gegen Russland?
HOFREITER: Zunächst einmal: Es geht gar nicht um einen Kampf gegen Russland. Das muss man sich klar machen. Es geht um die Befreiung der besetzten Gebiete und darum, die Besetzung weiterer Gebiete durch Russland zu verhindern. Die Menschen wünschen sich nichts mehr, als dass sie aufhören könnten zu kämpfen und in einer freien demokratischen Ukraine in Frieden leben zu können.
Sie wirken persönlich sehr betroffen.
HOFREITER: Als ich das letzte Mal in der Ukraine war, habe ich den Obmann für Menschenrechte getroffen. Er hat von Folterkammern der russischen Armee berichtet, in denen sie auf die Folterung von Kindern und Jugendlichen spezialisiert waren. Wenn man sich damit ernsthaft beschäftigt, ist das alles sehr schwer zu ertragen. Ich kenne inzwischen viele Leute in der Ukraine. Es gibt kaum mehr eine Familie, wo niemand gestorben ist.
Wären Taurus-Raketen ein Gamechanger?
HOFREITER: Nein, natürlich nicht. Aber in ihrer schwierigen Lage braucht die Ukraine alles, was wir geben können.
Sie gehören dem linken Flügel Ihrer Partei an. Der stand traditionell für Abrüstung, für Pazifismus und "Frieden schaffen ohne Waffen". Wann war der Moment, als Sie sich von Ihrer alten Überzeugung getrennt haben?
HOFREITER: Wir haben es nicht mehr mit der alten Sowjetunion zu tun, sondern mit einer aggressiven imperialen revisionistischen Macht, die jederzeit bereit ist, eigene Soldaten zu opfern. Das haben wir zu lange nicht reflektiert, uns nicht klargemacht, wie aggressiv das russische Imperium ist. Es war stets klar, dass Russland keine Demokratie ist und ich will auch die alte Sowjetunion nicht überhöhen. Aber ich habe lange Zeit gedacht, dass es Putin und seinen Oligarchen am Ende nur ums Geld geht und man deshalb mit Moskau verhandeln kann. Das war ein grundlegender Irrtum und ich habe an anderer Stelle bereits gesagt, dass ich mich dafür schäme.
Ohne Waffen geht es also nicht?
HOFREITER: Das Prinzip des vertrauensbildenden Abrüstens ist richtig. Aber dafür muss die Konstellation stimmen, und im Verhältnis zu Russland stimmt sie nicht mehr. Wenn wir Putin gegenüber Schwäche zeigen, dann macht es eine Ausweitung des Krieges nicht unwahrscheinlicher, sondern sehr viel wahrscheinlicher.
Der ehemalige Grünen-Außenminister Joschka Fischer sagt heute, dass die Abschaffung der Wehrpflicht ein Fehler war. Wie sieht es Toni Hofreiter?
HOFREITER: Ich habe einen sehr kritischen Blick auf die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht. Mir sagen Experten, auch aus der Bundeswehr, dass man für eine moderne Armee Leute braucht, die lange und intensiv ausgebildet werden. Mit Wehrpflichtigen lässt sich da nur eingeschränkt etwas anfangen. Außerdem ist das doch nur ein Teil des Problems.
Nämlich?
HOFREITER: Wir brauchen viel Geld für die gesamte Verteidigung. Die Bundeswehr muss attraktiv sein, die Ausstattung gut und die Kasernen in einem ordentlichen Zustand. Wer will schon dienen, wenn es in der Kaserne schimmelt? Dann geht es nicht nur um die Armee als solches, sondern zum Beispiel um unsere Brücken. 40 Prozent unserer Brücken tragen keine 100 Tonnen. Das heißt, im Notfall können wir Panzer nur schlecht verlegen. Es geht um die Cyberabwehr, es geht um Lieferketten. Man stelle sich vor, China greift Taiwan an und Deutschland bekommt keine Halbleiter mehr. Man kann sich natürlich aufregen, dass wir so hohe Subventionen für Chipfabriken geben. Man kann aber auch sagen, es sind Investitionen in die Sicherheit dieses Landes. Und genauso sehe ich es.
Sie gehören der deutsch-französischen Parlamentarischen Versammlung an. Wie bewerten Sie den Stand der Beziehungen zwischen Berlin und Paris?
HOFREITER: Man muss unterscheiden zwischen der Beziehung von Paris zu Berlin und der von Scholz zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Die Zusammenarbeit der Länder ist gut und eng. Scholz und Macron müssen jetzt ihre persönlichen Befindlichkeiten beiseiteschieben. Beide fallen in der strategischen Einschätzung über die von Russland ausgehende Gefahr und den Umgang damit auseinander. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Problem, weil es Europa schwächt. Es gibt diese unterschiedliche Einschätzung nicht nur zwischen Scholz und Macron, sondern auch zwischen ihm und den Briten, den Polen, den Balten.
Der jetzige EU-Gipfel war vermutlich der letzte vor der Europawahl im Juni. Die AfD steht in den Umfragen etwa gleichauf mit den Grünen. Was bedeutet, dass die Rechten fünf Punkte gewinnen und Ihre Partei fünf Punkte verlieren würde. Wie blicken Sie auf diese Wahl, welches Signal wird davon für Europa ausgehen?
HOFREITER: Wahlen haben in diesen Zeiten eine völlig andere Bedeutung als früher. Da ging es zum Beispiel darum, ob Helmut Schmidt oder Helmut Kohl Kanzler wird. Beide waren überzeugte Europäer, ganz vernünftige Leute und echte Demokraten. Heute ist es nicht mehr selbstverständlich, dass die Demokratie Bestand hat. Deshalb ist viel, viel wichtiger geworden, dass wir die Leute dazu bewegen, wählen zu gehen. Und zwar echt demokratisch, und nicht die Feinde der Demokratie. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass Russland sehr viel Energie daransetzen wird, seine Verbündeten im Europaparlament zu stärken, etwa die Landesverräter der AfD.
Zur Person
Anton „Toni“ Hofreiter wurde am 2. Februar 1970 in München geboren. Der Diplom-Biologe ist seit 2005 Bundestagsabgeordneter der Grünen, in dieser Zeit war er von 2013 bis 2021 Fraktionsvorsitzender. Derzeit ist der verheiratete Vater eines Kindes Chef des Europaausschusses im Bundestag.