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Hintergrund: Kanzler Scholz rettet den EU-Gipfel mit einer unkonventionellen Idee

Hintergrund

Kanzler Scholz rettet den EU-Gipfel mit einer unkonventionellen Idee

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    Viktor Orbán, Ministerpräsident von Ungarn, hält die Europäische Union in Atem. Nur ein von Kanzler Olaf Scholz ins Spiel gebrachter Verfahrenstrick ermöglicht Beitrittsverhandlungen für die Ukraine und Moldau.
    Viktor Orbán, Ministerpräsident von Ungarn, hält die Europäische Union in Atem. Nur ein von Kanzler Olaf Scholz ins Spiel gebrachter Verfahrenstrick ermöglicht Beitrittsverhandlungen für die Ukraine und Moldau. Foto: Virginia Mayo, AP, dpa

    Immerhin Olaf Scholz retten die Ergebnisse des EU-Gipfels „jetzt ein bisschen in die Weihnachtszeit“, wie der deutsche Kanzler es formuliert. Versöhnlich, fast besinnlich beschloss der SPD-Politiker am Freitagnachmittag dieses zweitägige Treffen der Brüssel, das mit viel Drama begann und auch mit viel Drama zu Ende ging. Denn Europafreunde mögen zwar mit viel Pathos ihre „historische Entscheidung“ gefeiert haben, die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau aufzunehmen. Doch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán verhinderte nur Stunden danach mit seinem Veto, dass die anderen Staats- und Regierungschefs eine Überarbeitung des EU-Haushalts inklusive eines 50 Milliarden Euro schweren Finanzhilfepaketes für die Ukraine beschließen konnten. Offenbar sahen die Politiker keinen Raum für Kompromisse. Sie verschoben die Gespräche auf Januar. 

    Würde Orbán dann abermals zum Einlenken gebracht werden wie schon am Donnerstagabend mit dem Manöver, das hinter den Kulissen in Brüssel als „Kaffeetrick“ bezeichnet wurde? Auf Initiative von Scholz hatte Orbán den Saal verlassen, um den einstimmigen Beschluss der übrigen Partner zu ermöglichen. In Sachen Geld wächst beim Ungarn aber traditionell der Wille zum Widerstand. Offenbar will der Autokrat weiteren EU-Hilfen für die Ukraine erst zustimmen, wenn auch die verbliebenen eingefrorenen Mittel für sein Land freigegeben werden. Er verlange „nicht die Hälfte, nicht ein Viertel, sondern alles", sagte Orbán in einem Interview. Scholz lehnte solche Forderungen ab. „Es darf keine Verknüpfung von Fragen geben, die nicht miteinander zusammenhängen“, so der Kanzler gestern. Es geht um EU-Gelder in Höhe von zwölf Milliarden Euro sowie um Zuschüsse, die wegen Rechtsstaatsverfehlungen und Korruptionsbedenken nach wie vor eingefroren sind. Dabei hatte die EU-Kommission erst am Mittwoch zehn Milliarden Euro freigegeben – nach eigenen Angaben im Gegenzug für angeblich erfüllte Justizreformen.

    Während Orbán die EU vorführte, hatte Kanzler Scholz einen guten Gipfel

    Während Orbán die EU vorführte, hatte Olaf Scholz, das darf man so sagen, einen guten Gipfel. Es war der Kanzler, der den Geniestreich ausheckte, mit dem die Runde Orbán einen gesichtswahrenden Ausweg aus seiner angekündigten Blockadehaltung bot – und „ein starkes Zeichen der Unterstützung“ an die Ukraine und „Signal an den Kreml“ aussenden konnte. Das erste Mal, dass der Kanzler die Idee auf den Tisch brachte, so erzählten es gestern Insider hinter den Kulissen, war beim Frühstück am Donnerstagmorgen. Als sich Scholz, EU-Ratspräsident Charles Michel, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zusammensetzten, um in einem letzten Last-Minute-Rettungsversuch Orbán auf Linie zu bringen, schlug der Kanzler dem Ungarn diese zum Veto alternative Option vor.

    Orbán, der gerade noch vor den Kameras gewütet hatte, schien unbeeindruckt und unversöhnlich, wie ein Insider verriet. Noch. Ein paar Stunden später, der Nachmittag war bereits genauso fortgeschritten wie die Diskussionen im großen Kreis um die weitere Unterstützung für die Ukraine, sah die Lage kaum anders aus: Orbán bekräftigte während seiner Ansprache im Saal seinen Widerstand gegen die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. 

    Die Idee von Scholz sorgte für Furore

    „Ich hatte das Gefühl, dass es schwierig sein würde, eine Einigung zu erzielen“, soll der niederländische Premier Mark Rutte später sagen. Die EU-Spitzen machten sich auf einen langen Abend und Marathon-Verhandlungen gefasst, typisch Gipfel. Dann legten die Staatenchefs eine kleine Pause ein. Und Scholz nahm einer Quelle zufolge den Ungarn beiseite und legte ihm im persönlichen Gespräch abermals die gesichtswahrende Lösung nahe, nach der dieser zur Kaffeepause den Raum verlassen und sich im Anschluss von der Entscheidung distanzieren könnte. Als die Staats- und Regierungschefs wieder auf ihre Plätze zurückkehrten, präsentierte Scholz die Idee erstmals in der großen Runde, sagte an Orbán gewandt, dass man den Beschluss ohne ihn im Raum treffen könnte, „rechtlich“ sei das möglich, um eine einstimmige Entscheidung zu erreichen. 

    Dieser Schachzug überraschte den Rest der Teilnehmer, aber Rutte dachte nur: „Brillant.“ Scholz berichtete gestern stolz, „es haben sich auch andere gefreut“. Denn Orbán verließ den Saal für ein paar Minuten, während Charles Michel als Choreograf des Gipfels das Protokoll übernahm und in die Runde der anwesenden Willigen fragte, ob jemand Einwände gegen die Schlussfolgerungen habe. 

    Am Ende steht die historische Entscheidung

    Die historische Entscheidung, die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau aufzunehmen, war getroffen, auch wenn der Kanzler, angesprochen auf seinen Verfahrenstrick, am Tag danach zugab: „Das ist jetzt nichts, was man jedes Mal machen sollte.“ Geschenkt, dass Orbán nur wenige Minuten später die Entscheidung als „völlig unsinnig, irrational und falsch“ beschimpfte. Die groß gefeierte Geschlossenheit dieser EU klingt ohnehin neuerdings so: 26 Mitgliedstaaten haben sich auf den Entwurfstext verständigt – „und der 27. hat eigentlich gegen die Verständigung auch nicht so viel einzuwenden“, wie Scholz es nannte.

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