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Großbritannien: Großbritannien vor den Wahlen: Vom Regen in die Traufe?

Die vergangenen Jahre waren überaus turbulent in Großbritannien. Die Stimmung im Land ist schlecht.
Foto: Yui Mok, dpa
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Großbritannien vor den Wahlen: Vom Regen in die Traufe?

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    Rhea Keehn wirkt recht energisch, als sie in ihrem roten Jackett vor der Bibliothek von Kirkby-in-Ashfield, einer Stadt in den englischen Midlands, steht. Ihr Händedruck ist fest. Die Politikerin spricht schnell, als hätte sie keine Zeit zu verlieren. Tatsächlich hat die Labour-Kandidatin an diesem Tag viel vor. "Wir klopfen an Türen, führen Einzelgespräche, treffen Unternehmen und lokale Gemeindegruppen", sagt sie. "Wir möchten herausfinden, was die Menschen erwarten, denn viele fühlen sich im Stich gelassen, haben die Hoffnung in ihre Politiker verloren."

    Labour-Kandidatin Rhea Keehn in Kirkby-in-Ashfield. "Viele fühlen sich im Stich gelassen", sagt sie.
    Labour-Kandidatin Rhea Keehn in Kirkby-in-Ashfield. "Viele fühlen sich im Stich gelassen", sagt sie. Foto: Susanne Ebner

    Auf den Flugblättern, die Keehn verteilt, steht vor allem ein Wort: "Change", Veränderung. Das offizielle Motto der Labour-Partei. Damit will diese am 4. Juli die Parlamentswahlen in Großbritannien gewinnen und allen aktuellen Umfragen zufolge wird es ihr auch gelingen. Immerhin liegt die Arbeiterpartei rund 20 Prozentpunkte vor den regierenden Konservativen, denen nach 14 Jahren an der Macht vernichtende Verluste drohen. Der Niedergang der Conservative Party, umgangssprachlich Tories, ist die Wiederauferstehung der Labour-Partei. Großbritannien dürfte mit Labour-Chef Keir Starmer einen neuen Premierminister bekommen, er dürfte den zunehmend glücklos agierenden Rishi Sunak ablösen. Und für etwas mehr Ruhe in der Politik sorgen? Die vergangenen Jahre jedenfalls waren überaus turbulent. Die Stimmung im Land ist schlecht. Sie ist es auch in Kirkby-in-Ashfield.

    "Viele haben das Gefühl, dass die Konservativen versagt haben. Nichts funktioniert mehr"

    Die Sozialdemokraten hatten den Wahlkreis Ashfield nördlich von Nottingham 2019 verloren. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ging er mit einer großen Mehrheit an die Konservativen. Verantwortlich dafür war zum einen Boris Johnson, der im Juli 2019 Chef der Conservative Party wurde und kurz danach Nachfolger Theresa Mays. Plötzlich war der umstrittene "Mr. Brexit" Premierminister. Mit seinem Charisma und dem Versprechen, den Austritt aus der EU durchzuziehen, überzeugte er. Verantwortlich für den Verlust des Wahlkreises war aber auch die abschreckende Wirkung des als radikal links geltenden damaligen Labour-Chefs Jeremy Corbyn. Die Red Wall, die "rote Mauer", die sich von Küste zu Küste durch Mittelengland zog, fiel. Die Landkarte wurde blau, die Farbe der Tory-Partei.

    Doch seit 2019 hat sich viel verändert, wie der Politikwissenschaftler Tim Bale von der Queen Mary University of London bei einem Gespräch in einem Café unweit von Downing Street 10, dem Amtssitz des Premiers, erklärt. In dem Café werden heiße Getränke in blauen und roten Tassen serviert. Die Sitzkissen sind mit Union-Jack-Stoff bezogen. Und auf einem Bild an der Wand werden Dinge aufgezählt, die als typisch britisch gelten. Neben Fish and Chips und einer guten "cuppa tea", einer Tasse Tee, wird auch der Nationalstolz beschworen. Doch wie ist es um die Nation bestellt, so kurz vor der Wahl?

    Zunehmend glücklos: Rishi Sunak, konservativer Premierminister von Großbritannien.
    Zunehmend glücklos: Rishi Sunak, konservativer Premierminister von Großbritannien. Foto: Kin Cheung, dpa

    "Viele haben das Gefühl, dass die Konservativen versagt haben. Nichts funktioniert mehr. Alles scheint kaputt zu sein. Es gibt sehr lange Wartezeiten im Gesundheitswesen. Die Straßen sind voller Schlaglöcher", beginnt Bale seine Antwort. Er könnte die Liste lange fortsetzen: Da war der katastrophale Mini-Haushalt der konservativen Ex-Premierministerin Liz Truss, der die britische Wirtschaft im Herbst 2022 in eine Krise stürzte und die Zinsen für Hypotheken nach oben trieb. Die Partys in der Downing Street während der pandemiebedingten Ausgangssperren. Die wirtschaftlichen Folgen des Brexit.

    Der versprochene Aufschwung nach dem Brexit blieb aus

    In Ashfield stimmten die meisten Menschen für den Austritt aus der EU. Doch der versprochene Aufschwung für die Region blieb aus. Es herrscht, könnte man sagen, Apathie. Fotos aus dem frühen 20. Jahrhundert zeigen eine Gemeinschaft von Minenarbeitern, Feste, das Kino in voller Pracht. Heute sind die meisten Läden geschlossen. Der Wahlkreis ist in einigen Bereichen stark benachteiligt, im Bildungswesen zum Beispiel. Es gibt einen Lehrermangel. Tagsüber wirkt Kirkby-in-Ashfield wie ausgestorben. Viele pendeln ins Umland. "Die Stadt ist im Niedergang begriffen", sagt Trevor, Mitglied einer evangelisch-methodistischen Kirche.

    Gerade die Älteren fühlen sich übergangen und gegenüber irregulär eingereisten Migranten benachteiligt. Nicht wenige sympathisieren deshalb mit der rechtspopulistischen Partei Reform UK unter Nigel Farage. Der habe den Mut zu sagen, was alle denken, so der Tenor einiger Senioren in der 25.000-Einwohner-Stadt. Ihr Abgeordneter war bis zuletzt Lee Anderson. Er wurde Anfang des Jahres von den Konservativen wegen islamfeindlicher Aussagen aus der Partei ausgeschlossen und wechselte daraufhin zu Reform UK. Die Jugend in Ashfield wiederum fühlt sich chancen- und perspektivlos. Sie glaubt nicht an die Beteuerungen der Regierung. "Die scheren sich nicht um uns", sagt der 22-jährige Mckenzie Bull-Jones. "Die Leute haben einfach die Nase voll", sagt Ali, der einen Barbiersalon betreibt. "Alles ist zu teuer, wir arbeiten nur noch, um die Rechnungen bezahlen zu können." Ausgehen? Essen gehen? Fehlanzeige. Dennoch glaubt er, dass Wandel möglich ist: "Wir hoffen, dass Labour gewinnt und sich etwas ändert."

    Der Vorsitzende der Labour-Partei, Keir Starmer, wird die Wahl wohl gewinnen.
    Der Vorsitzende der Labour-Partei, Keir Starmer, wird die Wahl wohl gewinnen. Foto: Jon Super/AP, dpa

    Dass Labour gewinnen könnte, geht auch aus den Zahlen von John Curtice hervor, ein renommierter Meinungsforscher. Die Partei liege mit großem Abstand in Führung. Auch in Ashfield sei ein Sieg wahrscheinlich. Damit habe Keir Starmer in gewisser Weise ein Wunder vollbracht, meint Politikwissenschaftler Tim Bale. Schließlich hätten die meisten Experten 2019 wohl gelacht, wenn man ihnen gesagt hätte, dass Labour in fünf Jahren eine Parlamentswahl gewinnen könnte. Bale spricht von den Fehlern der Konservativen. "Aber man muss auch in der Lage sein, diese auszunutzen."

    Starmer jedenfalls machte deutlich, dass seine Partei in die Mitte des politischen Spektrums gerückt sei, weg vom radikalen Sozialismus der Jahre unter Jeremy Corbyn, seinem Vorgänger als Labour-Chef. "Das ist bedeutungsvoll für jene, die sich von den Konservativen abwenden", analysiert Bale. Das tun Briten offenbar in Scharen. Die Tories kamen in Umfragen kürzlich auf etwa 20 Prozent. Es ist der niedrigste Wert aller Zeiten für sie. Der konservative Verteidigungsminister Grant Shapps antwortete auf die Frage, ob ein Sieg seiner Tories unwahrscheinlich sei: "Ich denke, das ist die realistische Position, nicht wahr?" Er lebe in der realen Welt.

    Unsicherheit, Unbehagen und Wut greifen um sich

    Wer den Zusammenbruch der Conservative Party besser verstehen will, muss von Westminster, der Londoner Heimat des Parlaments, aus nicht weit reisen. Eine Fahrt mit der S-Bahn genügt, um in die Vororte und Städte südlich der britischen Hauptstadt zu gelangen. Diese gelten immer noch als konservatives Kernland. Jetzt allerdings greifen Unsicherheit, Unbehagen und Wut um sich. Parteibindungen werden auch dort drastisch erschüttert.

    Nicht wenige sympathisieren mit der rechtspopulistischen Partei Reform UK und Nigel Farage.
    Nicht wenige sympathisieren mit der rechtspopulistischen Partei Reform UK und Nigel Farage. Foto: Kirsty O'connor/PA Wire, dpa

    Godalming ist eine lebhafte Kleinstadt, gut eine Stunde von London entfernt. Eingebettet in die Landschaft von Surrey mit dem Fluss Wey liegt der Ort in einer Gegend, die bei wohlhabenden Menschen beliebt ist. Mit seinen charmanten Häusern und Gassen und seiner Mischung aus Geschäften und gepflegten Pubs ist Godalming so etwas wie die englische Stadt schlechthin. Sie wirkt beständig und konservativ. Fast 20 Jahre lang wurde Godalming von Jeremy Hunt repräsentiert, einem "big beast" der Tories, einem hohen politischen Tier. Er gewann mit einer Mehrheit von Zehntausenden Stimmen; inzwischen sagt selbst er, dass sein Sitz "auf Messers Schneide" stehe. Denn die dominierende Mittelschicht, die 2016 mehrheitlich gegen den Brexit stimmte, hat Vorstellungen von wirtschaftlichem Handeln, die in scharfem Kontrast zu der Politik der Regierungspartei der vergangenen Jahre stehen.

    Dazu kann man zum Beispiel Robert Carder befragen. Der Schuhhändler macht seinem Ärger Luft. Es sei eine Schande, dass Leute mit Verstand offenbar nicht mehr in die Politik gehen wollten. Es mangele an vernünftigen Politikern mit Köpfchen, die Unternehmen führten und verstünden, wettert er. "Ich bin desillusioniert." Laut einer YouGov-Umfrage könnten die Liberaldemokraten in dem Wahlkreis gewinnen. Es wäre ein weiteres Novum: Noch nie hat ein Finanzminister – und das ist Jeremy Hunt – seinen Sitz bei einer Parlamentswahl verloren.

    Labour-Chef Keir Starmer wird mit Tony Blair verglichen

    In London diskutieren derweil Experten der Denkfabrik "UK in a Changing Europe" die missliche Lage der konservativen Partei. "Sie sind in der schlechtesten Position aller Zeiten", sagt Rob Ford von der University of Manchester. Derzeit sieht es so aus, als könnten von den bekannten Gesichtern insbesondere die rechten Hardliner ihre Posten behalten, darunter die umstrittene ehemalige Außenministerin Suella Braverman, sagt die Politologin Sophie Stowers. Die Folge könnte ein weiterer Rechtsruck sein. Dass die rechtspopulistische Partei Reform UK unter Farage, die sich vor allem für eine stärkere Kontrolle der Einwanderung ausspricht, genug Stimmen bekommt, um die Tories quasi abzulösen, glauben die Experten gleichwohl nicht. "Die Reformer haben eine sehr starke Anziehungskraft, aber es gibt viele Wähler, die definitiv nicht für sie stimmen werden", sagt Rob Ford. Er rechnet in den kommenden Jahren eher mit einer Erholung der Konservativen. Viele Beobachter sind sich einig, dass es auch in Zukunft einen Platz für die Tories im Parlament geben wird.

    Tatsächlich ist es eine andere Frage, die Experten intensiver beschäftigt: Labour will seinem Wahlprogramm zufolge die Einkommensteuern, die Sozialabgaben und die Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Damit grenzt sich Parteichef Starmer von früheren Labour-Zeiten unter dem Sozialisten Corbyn ab. Auch die großen industriepolitischen Träume mit zig Milliarden Subventionen für "grünes Wachstum" hat er heruntergekocht. Doch woher soll das versprochene Wachstum dann kommen?

    Der frühere Premier Tony Blair. Er stand einst für eine neue Ära, für "New Labour" und "Cool Britannia".
    Der frühere Premier Tony Blair. Er stand einst für eine neue Ära, für "New Labour" und "Cool Britannia". Foto: Daniel Leal, dpa

    Keir Starmer wird mit Tony Blair verglichen, von dem es 1997 hieß, er habe den Wahlkampf geführt, als müsse er eine teure Ming-Vase über einen polierten Boden tragen. Auch Starmer macht vorsichtige Schritte, möchte kein Risiko eingehen, niemanden verprellen. Dennoch hinkt der Vergleich mit Blair gewaltig. Starmer, ein 1962 in London geborener Anwalt, gilt als langweilig. Über Blair konnte man das nicht sagen. Als Blair 1997 Premierminister wurde, mit 43 Jahren, versprach "New Labour" Aufbruch. Es war die Zeit des "Cool Britannia", des Britpop, der Lässigkeit. Doch auch damit hatte es bald ein Ende. Starmer immerhin verkörpert eine gewisse "Arbeiterklasse"-Biografie. Als einziges von vier Kindern besuchte er eine weiterführende Schule. Nach dem Jura-Studium in Leeds und Oxford wurde er Anwalt für Menschenrechte. 2008 machte ihn die Labour-Regierung zum obersten Staatsanwalt, 2015 holte er einen Parlamentssitz, im Jahr darauf wurde er Brexit-Beauftragter seiner Partei. Und jetzt Premier? 

    Labour werde wohl gewinnen, sagt der Politologe Karl Pike von der Queen Mary University of London. Die echte Herausforderung aber komme nach der Wahl.

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