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Gewaltprävention: Dirk Baier erforscht Ursachen von Messerangriffen

Interview

Kriminologe zum Kampf gegen Messerangriffe: „Wir haben keine Blaupause“

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    Waffenverbotszonen sind nach Einschätzung des Kriminologen Dirk Baier nur ein kurzfristiges Instrument, um der Zunahme von Messerangriffen entgegenzuwirken. Langfristig müsse es hingegen andere Lösungen geben.
    Waffenverbotszonen sind nach Einschätzung des Kriminologen Dirk Baier nur ein kurzfristiges Instrument, um der Zunahme von Messerangriffen entgegenzuwirken. Langfristig müsse es hingegen andere Lösungen geben. Foto: Thomas Banneyer, dpa

    Herr Baier, erst am Montag griff eine Frau Polizisten mit dem Messer in einem Supermarkt an. Viele Menschen in Deutschland haben das Gefühl, dass Messerattacken in den vergangenen Jahren häufiger geworden sind. Stimmt das oder ist die Wahrnehmung verzerrt?
    DIRK BAIER: Ein Stück von beiden. Einerseits stimmt es schon, dass wir in den vergangenen Monaten eine hohe Aufmerksamkeit für dieses Thema haben. Die Medien berichten intensiv darüber, das formt natürlich auch unsere Bilder, die wir über Kriminalität haben. Andererseits stehen uns nicht viele Statistiken in dem Bereich zur Verfügung. Aber sie deuten tatsächlich auf einen Anstieg der Messerkriminalität hin. Es gibt etwa die vom Bundeskriminalamt geführte polizeiliche Kriminalstatistik, die zeigt, dass im Vergleich von 2022 auf 2023 die Zahl der Messerangriffe um etwa zehn Prozent zugenommen hat. Wir haben auch Daten aus Jugendbefragungen. Da fragen wir, ob die Jugendlichen ein Messer mitnehmen, denn das ist im Prinzip der erste Schritt. Auch da sehen wir schon länger leichte Anstiege. Aber ob das jetzt Thema Nummer eins sein müsste, darüber könnte man streiten. Das sind Politik und Medien, die einander befeuern und dieses Thema in den vergangenen Monaten groß gemacht haben.

    Was heißt konkret, es gibt wenige Daten?
    BAIER: Es gibt die polizeiliche Kriminalstatistik, die hängt immer etwa ein halbes Jahr hinterher. Das ist im Prinzip die einzige wirkliche Statistik. Aber da steht nur das drin, was wirklich bei der Polizei angezeigt wird. Es gibt immer ein Dunkelfeld, selbst bei Messer-Kriminalität. Die Sammlung dieser Daten erfolgt erst seit 2021. Die Polizeien müssen noch eine einheitliche Routine der Erfassung entwickeln. Auch das deutet darauf hin, dass die Daten, die wir haben, noch nicht 100 Prozent verlässlich sind. Manche Krankenhäuser haben angefangen, Zahlen zu Einweisungen mit Stichverletzungen zu veröffentlichen, wie die Charité Berlin vor Kurzem. Was ich finde: Die Zahlen, die wir haben, sind ernst zu nehmen. Die Kriminalstatistik weist aus, dass 2023 fast 9000 gefährliche Körperverletzungen mit Messern ausgeführt worden sind. Es wäre zweifellos gut, wenn wir dieses Phänomen in den Griff bekommen würden.

    Welche Ansätze sehen Sie, mit diesem Problem umzugehen?
    BAIER: Ein Problem ist: Wir haben keine Blaupausen aus dem Ausland, die wir übernehmen können. Wir müssen also selbst Maßnahmen finden, die passen könnten. Ein Vorhaben von Innenministerin Faeser ist, das Gesetz entsprechend anzupassen. Das ist ein typisches Instrument der Politik, den Gesetzesrahmen und darüber dann hoffentlich das Verhalten der Menschen zu verändern. Aber das ist kriminologisch leider nicht ganz so einfach.

    Was wäre besser?
    BAIER: Es gibt ein, zwei Sachen, die man umsetzen könnte. Das Erste ist immer Aufklärung, Sensibilisierung. Die Menschen, insbesondere die jungen Menschen, müssen wissen, dass es riskant ist, Messer mit sich zu führen, dass es eine Gefahr darstellt, dass es teilweise auch jetzt schon verboten ist. Ein zweiter Schritt ist die Kontrolle von Vertriebswegen. Es ist immer noch viel zu einfach, an Messer zu kommen. Die kann man im Internet relativ einfach bestellen. Im öffentlichen Raum muss es Kontrollen geben, um Messer abzunehmen. Es muss sozusagen unattraktiv gemacht werden, das Messer mit sich zu führen. Ein dritter Schritt ist aus meiner Sicht, dass es prinzipiell Gewaltprävention bedarf. Wir schauen zurzeit etwas zu stark auf das Messer. Es steigt aber ganz grundsätzlich das Gewaltverhalten unter den Menschen an. Wir sehen mehr Körperverletzungen, wir sehen mehr Raubtaten. Ich glaube, wir sollten so früh wie möglich Menschen dazu bringen, auf jede Form von Gewalt zu verzichten. Das können wir über Empathie- oder Konfliktlösetrainings, also alles, was man Kindern schon früh in der Schule, bestenfalls im Elternhaus, beibringen kann. Über solche Frühgewaltprävention sollten wir wieder intensiver reden, weil wir darüber auch Messerkriminalität in den Griff bekommen können.

    Gibt es den bestimmten Typ Messertäter?
    BAIER: Wir würden künstlich eine Gruppe konstruieren, die so nicht existiert, weil das Phänomen in verschiedener Hinsicht komplex ist. Wir reden etwa zurzeit nicht über Messerkriminalität, die im häuslichen Gewaltbereich stattfindet. Wir reden eher über Messerkriminalität im öffentlichen Raum und selbst da ist es auch kein klarer Typus. Das Einzige, was die Täter tatsächlich verbindet, ist das männliche Geschlecht. Frauen sind so gut wie gar nicht auffällig, weil die gar kein Messer mit sich führen. Weitere Merkmale werden schon schwieriger zu bestimmen.

    Was ist mit der Staatsangehörigkeit?
    BAIER: Hier wissen wir durch Sonderauswertungen beispielsweise aus Berlin, dass 50 Prozent der Täter keine Deutschen sind – aber natürlich sind auch 50 Prozent Deutsche. Die Nichtdeutschen sind dabei eine heterogene Gruppe. Dieses eine Bild des Messertäters zu zeichnen, ist nicht wirklich hilfreich. Wir haben es teilweise mit Personen zu tun, die das Messer mit sich führen, weil sie wirklich Straftaten begehen wollen. Wir haben aber auch junge Männer, die haben das als Routine in der Hosentasche und wollen das auch gar nicht einsetzen. Irgendwann aber kommen sie mal in eine Konfliktsituation und dann ist es schnell gezogen. Diese ganze Vielfalt ist schwierig unter einen Nenner zu bringen, deswegen bin ich ein bisschen vorsichtig.

    Warum greift man denn zum Messer?
    BAIER: Im häuslichen Umfeld passiert es bei partnerschaftlichen, innerfamiliären Streitigkeiten. In dieser Konfliktdynamik ist es eben greifbar, wir haben ja alle Messer zu Hause. Und dann haben wir junge Menschen, junge Männer, die bewusst Straftaten begehen wollen. Sie brauchen das Messer, um jemandem zu drohen, etwa wenn sie einen Kiosk überfallen. Aber die große Mehrzahl hat das Messer dabei, weil etwa ihre Freunde das auch machen. Oder sie fühlen sich selber unsicher, wenn sie draußen unterwegs sind, und gegen dieses Unsicherheitsgefühl hilft eine Waffe. Oder, weil das Messer ein Symbol ist und man damit Eindruck machen kann, es unterstreicht, dass man ein gefährlicher Typ ist. Es gibt also ganz verschiedene Motive: Freunde, Unsicherheit, Männlichkeit.

    Ist Messer gleich Messer?
    BAIER: Nein, gerade für die jungen Männer sind viele Messer unattraktiv. Also etwa Taschenmesser, Küchenmesser, auch die Teppichmesser, von denen immer mal wieder gesprochen wird. Das ist alles nicht das, was ihre Männlichkeit unterstreicht. Es müssen gefährliche Messer sein, zum Teil auch jetzt schon verbotene Messer wie Butterfly-Messer. Die Messer sollen in die Hosentasche wandern, dürfen also nicht groß sein. Das ist auch wichtig, man will nicht behindert werden in seinem Alltag. Es muss also einigermaßen gut verstaubar sein, aber muss, wenn es dann zum Einsatz kommen sollte, auch Eindruck machen. Das sind Springmesser, Klappmesser, die sich automatisch öffnen.

    Dirk Baier forscht an der ZHAW in Zürich unter anderem dazu, warum Jugendliche überhaupt ein Messer mitnehmen, wenn sie das Haus verlassen.
    Dirk Baier forscht an der ZHAW in Zürich unter anderem dazu, warum Jugendliche überhaupt ein Messer mitnehmen, wenn sie das Haus verlassen. Foto: ZHAW

    Gibt es Orte, wo es vermehrt zu Vorfällen mit Messern kommt?
    BAIER: Von der Polizei werden immer wieder Bahnhöfe, Bahnhofsgelände und der öffentliche Personennahverkehr als Hotspots diskutiert. Ich bin mir aber nicht sicher, ob dem wirklich eine systematische Analyse zugrunde liegt. Klar, am Bahnhof ist es nicht überraschend, weil wir da viel Durchgangsverkehr haben. Man müsste eigentlich schauen, sind Orte überproportional betroffen im Verhältnis zu der Anzahl an Personen, die sich dort immer wieder aufhalten.

    Wie bewerten Sie die von Innenministerin Nancy Faeser geplanten Waffenverbotszonen?
    BAIER: Ich glaube, eine Waffenverbotszone ist eine Maßnahme, die helfen kann, das Problem einzudämmen, besser jedenfalls als einfach nur ein Gesetz zu erlassen. Verbotszonen sind konkret an bestimmte Orte geknüpft, die gefährlich sind, an denen es nachweislich zu Häufungen kommt. An diesen Orten ist dann mehr Polizei präsent, allein das hat schon einen Effekt. Wenn Polizei sichtbar ist, erhöht sich das Sicherheitsgefühl und Täter werden tendenziell eher abgeschreckt. Was wir aus den bisherigen Waffenverbotszonen wissen, ist, dass da auch Messer einkassiert werden. Meine Kritik ist eher, dass ich nicht glaube, dass eine Verbotszone das Thema langfristig löst. Es bringt kurzfristig sicherlich eine gewisse Entspannung. Langfristig ist die Frage, wo sind die Menschen, die Messer tragen, wo halten die sich dann jetzt auf? Haben wir wirklich deren Verhalten und deren Einstellungen zu Messern nachhaltig geändert durch solche Verbotszonen?

    Das heißt, man müsste doch wieder mehr auf Prävention und Aufklärung setzen.
    BAIER: Genau, frühzeitig versuchen, die Einstellungen zu prägen, Eltern mit ins Boot holen, dass die auf ihre Kinder achtgeben. Man sagt ja auch, Kriminalität hat in der Regel soziale Ursachen. Also müssen wir schauen, dass wir das soziale Umfeld beeinflussen, dass wir in Familien, Schulen dafür werben, keine Messer mit sich zu führen. Diesen Kampf um die Köpfe der Kinder müssen wir versuchen zu gewinnen. Und das gelingt je früher, umso besser natürlich.

    Aber es sind ja nicht Kinder, die andere mit Messern angreifen.
    BAIER: Es sind sogar kaum Kinder. Das ist in Deutschland nicht so typisch, das sehen wir häufiger in Großbritannien. Zurzeit reden wir in Deutschland mehrheitlich über die Gruppe von 20- bis 30-Jährigen, also ältere Jugendliche, Heranwachsende. Das ist die Gruppe, die mit Messerkriminalität in Erscheinung tritt. Da wird es natürlich schwierig, sie mit Prävention zu erreichen, denn sie besuchen keine Schulen mehr. Da helfen Aufklärungskampagnen, die man versuchen kann. Und auch Kontrollen, denn ich sage gern: Wenn man zum dritten Mal sein Messer abgenommen bekommt, lässt man es vielleicht tatsächlich irgendwann zu Hause. Dass wir jenseits davon für Erwachsene wenig Konzepte haben, ist ein Grundproblem von Gewaltprävention: Ab einem bestimmten Alter erreichen wir die Menschen nicht mehr so einfach. In Kindergarten, Schule oder Berufsschule haben wir noch viele Möglichkeiten, auf sie einzuwirken. Es ist daher grundsätzlich wichtig, zu verhindern, dass wieder eine Generation heranwächst, die messeraffin ist.

    Muss ich als Privatperson Angst haben, Opfer eines Messerangriffs zu werden, wenn ich mich draußen bewege?
    BAIER: Die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen das passiert, liegt gerundet bei null Prozent. Aber leider ist sie eben nicht komplett null Prozent, sonst hätten wir nicht 9000 Fälle der schweren Körperverletzungen pro Jahr. Doch selbst wenn dieses Risiko klein ist, ist das natürlich unschön für eine Gesellschaft, die Sicherheit verspricht. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass, wenn Sie in Richtung Bahnhof gehen, angepöbelt oder bedroht werden, viel größer, als wenn Sie in Ihrem Garten bleiben würden. Aber das soll uns nicht davon abhalten, zum Bahnhof zu gehen. Es ist gerade wichtig, dass möglichst viele Menschen, die nichts mit Gewalt am Hut haben, an Orte gehen, die den Ruf haben, schwierig zu sein. Falls dann mal ein Täter vor Ort ist, können viele Umstehende eingreifen. Wir dürfen uns nicht zurückziehen, sondern müssen weiterhin auch den öffentlichen Raum besetzen und dadurch sicher machen.

    Zur Person: Dirk Baier ist als Professor an der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften tätig. Er arbeitet unter anderem in der Befragungsforschung, um Ursachen und Motive des Messertragens bei Jugendlichen zu untersuchen.

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    2 Kommentare
    Josef Reitmayer

    Der Vorstoß der Innenministerin ist seit langem der erste der im Waffenrecht Messer betrifft, sonst trifft es immer nur Waffenbesitzer wie Sportschützen und Jäger. Aber hat schon jemand mal darüber nachgedacht den Vertrieb von "Freizeitmessern" zu verbieten, die in Supermärkten - nicht einmal in Waffengeschäften - sogar als Sonderangebote verkauft werden? Die Bevölkerung umzuerziehen dürfte der weitaus schwierigere Prozess zu sein, denn vor allem in süd- und osteuropäischen Kulturen hat das Tragen von (großen) Messern im öffentlichen Raum eine ganz andere Bedeutung als in einheimischen Gesellschaften. Der Hirschfänger in der Lederhose hat eine völlig untergeordnete Bedeutung.

    Franz Xanter

    Das Einzige, was definitiv zu erkennen ist, ist, dass Politiker sich mal wieder über überhäufen, unsinnige und realitätsferne Vorschläge zu unterbreiten. Alles dem Wähler geschuldet, um ihn glauben zu machen, dass etwas durch die Partei XY geschieht. Man sollte vielmehr einmal darüber nachdenken, wie denn irgendwelche weiteren Verschärfungen, Verbote, zusätzlich zu den bereits bestehenden, umgesetzt und vor allen Dingen kontrolliert werden können? Wie sollen Veranstaltungen von Tausenden von Menschen auf Waffen, Messer, etc. kontrolliert werden? Was bedeutet dies für Verbotszonen? Völlige Abgrenzung und geballte Kontrolle jeden Einzelnen? Durch wen bzw. wo ist das verfügbare Personal? Populistische politische Äußerungen wie durch die derzeitige Innenministerin bringen uns keinen Schritt weiter! Diese dienen lediglich der Beruhigung der Wählerschaft.

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