Es kommt nicht oft vor, dass sich Olaf Scholz zu aktuellen Themen äußert, über die das halbe Land diskutiert. Der Bundeskanzler lässt sich seine Agenda ungern von außen aufzwängen, vermittelt eher den Eindruck, über den Aufgeregtheiten des Alltags zu stehen. Doch das, was gerade geschieht in der Republik, lässt offenbar auch ihn nicht kalt. „Gewalt bedroht die Demokratie, und deshalb müssen wir dagegen zusammenstehen als Bürgerinnen und Bürger“, sagte der SPD-Politiker am Samstag bei einer Veranstaltung in Potsdam. „Das ist alles nicht hinnehmbar, und zwar in keinem Fall – egal, gegen welche Partei sich das richtet.“ Er betonte: „Wir dürfen nicht achselzuckend denken, es wird schon nicht so schlimm sein.“
Seit einigen Wochen schon hält eine regelrechte Serie an Übergriffen auf Politikerinnen und Politiker an. Besonders der brutale Angriff auf den sozialdemokratischen Europapolitiker Matthias Ecke in Dresden hatte für Empörung gesorgt. Denn das, was in Sachsen geschehen ist, war längst nicht nur eine ärgerliche, aber harmlose Rempelei – der Mann wurde krankenhausreif geschlagen, das Jochbein und die Augenhöhle sind gebrochen. Das Auge ist noch blau, die Wunden sind noch längst nicht verheilt, da wurden bereits die nächsten Attacken öffentlich.
Es geht – wenn man das so zynisch sagen kann – Schlag auf Schlag: Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey wurde bei einem Termin in einer Bibliothek mit einem Beutel, in dem sich ein harter Gegenstand befand, auf den Kopf geschlagen. In Halle in Sachsen-Anhalt bedrohte ein betrunkener Mann den Grünen-Landtagsabgeordneten Wolfgang Aldag an einem Infostand. In Miesbach in Oberbayern erteilte ein Wirt der AfD kurzfristig eine Absage für eine geplante Wahlkampfveranstaltung in seinem Biergarten – er begründete den Schritt mit Anfeindungen und permanenten Bedrohungen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Zahl der Übergriffe auf Politiker ist in Bayern anhaltend hoch
Die Häufung der Übergriffe ist mehr als ein subjektiver Eindruck. Allein in Bayern wurden im vergangenen Jahr 1013 Straftaten gegen politische Amts- und Mandatsträger gezählt. Das geht aus der Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der Landtags-Grünen hervor. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 waren lediglich 245 Straftaten gegen politische Amts- und Mandatsträger gezählt worden. Ganz neu ist der Trend allerdings nicht: Sogar noch einmal deutlich höher war die Zahl mit 1575 Straftaten im Jahr 2021 – das Jahr war von Protesten gegen die Anti-Corona-Politik geprägt.
Ursula Münch ist Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Akademie für politische Bildung in Tutzing. Sie glaubt, dass die Pandemie tatsächlich so etwas wie der Beginn eines gesellschaftlichen Kipppunktes war. Verschwörungstheorien hätten sich in diesen Jahren rasend schnell verbreitet und eine Saat gelegt, die inzwischen zur Freude der Populisten und Extremisten gedeiht. Wer Politiker angreift, fühlt sich auf der Seite derer, die im Recht sind, die das tun, was andere sich nur nicht trauen – so zumindest die Selbstwahrnehmung. Eine Entwicklung, die durchaus gefährlich ist. „Wenn sich diese Leute stark fühlen, wenn sie den Eindruck haben, vielleicht keiner Mehrheit, aber eben auch keiner Minderheit mehr anzugehören, dann bestärkt das“, sagt Münch. Statt Ablehnung gebe es sogar Beifall. „Und das treibt manche Menschen an, immer noch eins obendrauf zu setzen.“ Von „Gewaltbilligung“ sprechen Soziologen.
Der politische Gegner soll eingeschüchtert werden
Dazu beigetragen hat paradoxerweise auch das politische Personal selbst. Aktuell stehe nicht nur die Europawahl an, in vielen Orten im Land werden Kommunalwahlen abgehalten, im Herbst wichtige Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Entsprechend aufgeheizt sei die Stimmung – auch, weil manche politischen Akteure verbal zündeln. Die Funken fliegen, von links wie von rechts. Selbst wenn es nicht die Absicht sei, den politischen Gegner Schläger auf den Hals zu hetzen, habe das bewusste Abwerten eben doch Folgen. Andersdenkende werden nicht zu Mitstreitern, sondern zu Feinden gemacht. „Wer das macht, trägt zumindest nicht zur Deeskalation bei“, sagt Ursula Münch. Im Gegenteil: „Er gibt jenen eine argumentative Abfederung, die das nur zu gerne in ihrem Sinne auslegen.“ Dass man es jenen an der Regierung, die es eben nicht können, mal zeigen müsse. Dass man sich die Demokratie zurückholen müsse. Dass diese Sätze missverstanden werden können, wird billigend in Kauf genommen.
Angriffe auf Politiker hat es immer gegeben: Bundeskanzler Helmut Kohl wurde mit Eiern beworfen, der grüne Außenminister Joschka Fischer von einem Farbbeutel getroffen, der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble gar von einem Attentäter so schwer verletzt, dass er zeit seines Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen war. Und doch spricht Münch von einer anderen Qualität der Gewalt, die das Land aktuell erlebe. „In dieser Massivität, die wir gerade sehen, gab es das früher nicht“, sagt sie. Gewandelt habe sich zudem das Ziel: „Es geht um Einschüchterung, es geht darum, den politischen Gegner unsichtbar zu machen – das ist eine neue Dimension“, sagt sie.
Noch bedenklicher sei, dass dieses Ziel durchaus Chancen auf Erfolg habe. Vor allem in der Kommunalpolitik fällt es den Parteien immer schwerer, Nachwuchs zu finden, erfahrene Mitstreiter springen ab, weil sie die persönliche Belastung nicht mehr aushalten. Direkt betroffen sind seltener die ganz Großen in der Politik, die Ministerinnen und Minister, sondern eher jene, die ohne Personenschutz unterwegs sind. In Workshops versuchen die Parteien inzwischen, ihre Wahlkämpfer auf Konflikte vorzubereiten. Ruhe bewahren, zu zweit unterwegs sein, im Zweifel die Polizei einschalten. Die Verunsicherung, wie die Politik auf diese Entwicklung reagieren kann, ist groß.
Gewalt gegen Politiker: Lässt sich das Problem durch mehr Polizei lösen?
Mit einer Sonderkonferenz versuchten die Innenminister der Bundesländer in der vergangenen Woche, auf die Entwicklung zu reagieren. Doch die Chancen, dass das Problem rasch gelöst werden könnte, sind eher überschaubar. „Der Versuch, das gesellschaftliche Problem einer allgemeinen Verrohung der politischen Auseinandersetzung mit dem Strafrecht allein zu lösen, wird scheitern“, sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann.
Davon ist auch der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul überzeugt. „Ist doch irre, zu glauben, wir könnten alle Politiker einzeln beobachten“, sagte er kürzlich auf WDR 5. „Allein von der Menge geht’s nicht. Es sind doch Zehntausende.“ So viele Polizisten gebe es gar nicht, zumal die auch noch alles andere machen müssten. Überhaupt gehe es doch um etwas anderes: „Ich will so eine Gesellschaft auch nicht, wo neben jedem Politiker auf der Straße auch noch ein Polizist steht. Ist schon schlimm genug, wenn ich welche um mich rum habe.“ Und weiter: „Wir dürfen uns nicht von ein paar Verrückten unsere Gesellschaft und unsere Art, Politik zu machen und Demokratie zu organisieren und miteinander zu reden und Bürgernähe zu haben, kaputt machen lassen.“ (mit dpa)