Was wurde seitens der Politik nicht schon alles versucht, um die Deutschen in Schwung zu bringen. Ulla Schmidt etwa rief im Mai 2005 dazu auf, jeden Tag 3000 Schritte extra zu tun. Die damalige Bundesgesundheitsministerin verteilte ein paar Tausend analoge Schrittzähler und verordnete dem trägen Volk unter dem Motto: „Deutschland wird fit. Gehen Sie mit“ rund 2,4 Kilometer mehr Bewegung täglich. Deutschland allerdings blieb lieber sitzen. Obwohl regelmäßige und ausreichende Bewegung vor Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychischen Probleme und einigen anderen Leiden schützen kann, verharrt das Land und ist nun einer aktuellen Studie zufolge bei einem neuen Negativrekord angelangt: Im Schnitt verbringen die Menschen mehr als neun Stunden eines Werktages im Sitzen.
„Wir müssen einfach verstehen, dass das Sitzen der Feind der Gesundheit ist“, warnt Ingo Froböse, er ist Professor an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Zusammen mit dem Institut für Sportwissenschaften der Julius-Maximilians-Universität Würzburg untersucht sein Institut im Auftrag des Krankenversicherers DKV das Gesundheits- und Bewegungsverhalten der Deutschen. Das Ergebnis: Die körperliche Aktivität stagniert seit 2016.
Bewegungsmangel verursacht in Deutschland Milliardenschäden
Zwar gaben knapp drei Viertel der 2800 repräsentativ Befragten an, dass sie sich so bewegen, wie es für einen zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen empfohlen wird. Doch ein Gutteil dieser „Bewegung“ geht aufs Konto von Aktivitäten während der Arbeit, schweres Schleppen beispielsweise. Die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO, mindestens zweimal pro Woche gezielt die Muskeln zu trainieren, schaffen nur 40 Prozent. Dafür hat sich in den letzten sieben Jahren die durchschnittliche Sitzzeit an Werktagen kontinuierlich gesteigert. Sie stieg seit der letzten Befragung im Jahr 2021 um 31 auf 554 Minuten und in den letzten sieben Jahren insgesamt sogar um anderthalb Stunden. Das Bundesland mit den meisten Sitzenbleibern ist demnach Nordrhein-Westfalen mit fast zehn Stunden.
Froböses Zahlen decken sich mit anderen Erhebungen. Die WHO und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnten im Frühjahr davor, das jeder und jede Dritte in der Europäischen Union sich nicht ausreichend bewegt. Wäre das anders, würde das wohl mehr als 10.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr verhindern. Mehr Bewegung könnte demnach bis 2050 rund 11,5 Millionen Fälle von sogenannten nicht übertragbaren Krankheiten (Diabetes, Herz-Kreislauf und andere) vermeiden helfen, darunter 400.000 Fälle von verschiedenen Krebsarten. Schätzungen zufolge gehört Deutschland neben Italien und Frankreich zu den EU-Ländern, in denen die finanziellen Auswirkungen von Bewegungsmangel am größten sind und in die Milliarden gehen.
Gesundheitsminister Lauterbach setzt vieles in Bewegung
Weder Schmidts 3000-Schritte-Aktion noch die vor sieben Jahren veröffentlichten „Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung“ haben bisher offenbar den gewünschten Erfolg gebracht. Schmidts engster Berater ist heute ihr Nach-Nachfolger, und auch Karl Lauterbach (beide SPD) versucht sich als Motivator. Sein Ministerium lässt bis Mitte kommenden Jahres „Bestandsaufnahmen zur Bewegungsförderung für verschiedene Altersgruppen“ erstellen. Es gibt einen „Runden Tisch Bewegung und Gesundheit“, bei dem verschiedene Akteure seit Herbst vergangenen Jahres darüber diskutieren, „wie Bewegung und aktiver Lebensstil bei allen Menschen sektorenübergreifend gefördert werden kann“. Für Ende August ist zum Abschluss des Prozesses „ein Konsenspapier vorgesehen, in dem Vereinbarungen zur Umsetzung Erfolg versprechender Ansätze getroffen werden“.
Im Grund genommen ist der Regierung klar, was nötig ist. Im Dezember fand in Berlin ein „Bewegungsgipfel“ mit Bund, Ländern, Kommunen und dem organisierten Sport statt. Die Runde versprach in der Abschlusserklärung unter anderem: „Um die aktive Alltagsmobilität mit dem Rad und zu Fuß zu stärken, finanziert und fördert der Bund bereits jetzt den Bau flächendeckender, möglichst vom Kraftfahrzeugverkehr getrennter und sicherer Radinfrastrukturen vor Ort und im Fernradwegenetz. Dies wird er auch zukünftig weiter verstetigen.“
Diese Bewegung indes scheint ins Stocken zu geraten. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) kritisiert, dass die Gelder für den Ausbau der Radwegenetze im Bundeshaushalt 2024 im Vergleich zu 2022 fast halbiert würden. Damals waren rund 750 Millionen Euro eingeplant, für dieses Jahr sind 560 Millionen Euro vorgesehen, im kommenden Jahr nur noch rund 400 Millionen Euro. Damit Schwung in die Sache käme, wäre jedoch eine Milliarde Euro nötig.