Es ist 12.35 Uhr, als der Offizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg im «Führerhauptquartier» in Ostpreußen eine Bombe unter einen Konferenztisch legt. In unmittelbarer Nähe steht Adolf Hitler. Stauffenberg verlässt unter einem Vorwand den Raum. Um 12.42 Uhr explodiert der Sprengsatz. Der Attentäter startet den Umsturz zur Entmachtung der Nationalsozialisten. Doch Hitler hat überlebt. Wenige Stunden später, am Abend des 20. Juli 1944, ist alles zu Ende. Stauffenberg wird hingerichtet, etwa 200 Mitstreiter ebenfalls getötet oder in den Selbstmord getrieben.
Die Geschichte des gescheiterten Hitler-Attentats wird seit 80 Jahren immer neu erzählt. Von den Nazis wurden die Beteiligten denunziert als «ehrgeizzerfressene Offiziere». Selbst nach dem Untergang des sogenannten Dritten Reichs galten sie vielen als Verräter. Dann wurden sie Helden. «Die Scham, in die Hitler uns Deutsche gezwungen hatte, wurde durch ihr Blut vom besudelten deutschen Namen wieder weggewischt», sagte der damalige Bundespräsident Theodor Heuss 1954. Und heute? Von «Pflicht zum Widerstand» ist wieder viel die Rede, unter so ganz anderen politischen Umständen. Der 20. Juli - ein Auftrag?
Für Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius ist die Sache klar. «Die Widerstandskämpfer des 20. Juli sind ein Vorbild für alle», sagt der SPD-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. «Immer, wenn Grundwerte unseres Zusammenlebens in Gefahr sind, gilt es aufzustehen und Unrecht anzusprechen. Immer wenn unsere Demokratie leidet, braucht es den Mut, nicht wegzusehen.» Die Streitkräfte seien, auch wegen des 20. Juli 1944, in besonderer Weise dem «gewissensgeleiteten Gehorsam» verpflichtet. Diese Erinnerung halte Bundeswehr lebendig, auch mit öffentlichen Gelöbnissen, sagt Pistorius.
Eine «verzweifelt kleine Minderheit»
Für den Politikwissenschaftler Johannes Tuchel ist der 20. Juli mehr als die Aktion einiger Militärs. Von den 200 bis 300 Eingeweihten seien mindestens die Hälfte Zivilisten gewesen, sagt der Leiter der Gedenkstätte deutscher Widerstand. Gemeinsames Ziel war nach seinen Worten eine zivile Regierung und die Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit. «Man sollte das nicht reduzieren auf das Militärische, dann tut man den Beteiligten Unrecht», sagt Tuchel.
Das Gedenkdatum 20. Juli stehe im übrigen stellvertretend für andere Oppositionelle im NS-Staat, darunter Georg Elser, die Geschwister Scholl, die Rote Kapelle. Es waren mehr Menschen, als dies lange wahrgenommen wurde - und doch im Vergleich zu den vielen Millionen Deutschen sehr wenige. «Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus eignet sich nicht, sich ein gutes Gewissen zu machen», sagt Tuchel. «Es war eine sehr, sehr kleine Minderheit, eine verzweifelt kleine Minderheit, die ihn geleistet hat.»
So erklärt der Experte auch, warum die Beteiligten in den Nachkriegsjahren eher Verachtung als Anerkennung erfuhren. «Der Widerstand war tatsächlich für die meisten Deutschen eine Herausforderung. Denn er zeigte: Auch gegen die Diktatur wäre ein Handeln möglich gewesen. Aber genutzt haben diese Räume nur die allerwenigsten.»
«Gegen den Druck der Masse auflehnen»
Eine Konsequenz ist der Artikel 20 im Grundgesetz, der alle Bürgerinnen und Bürger erinnert: «Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.» Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte vor fünf Jahren zum 20. Juli: «Es gibt Momente, in denen Ungehorsam eine Pflicht sein kann – Momente, in denen man nur dann Anstand und Menschlichkeit wahrt, wenn man sich gegen einen Befehl, gegen den Druck von Vorgesetzten oder auch den Druck der Masse auflehnt und gegenhält. Es gibt Momente, in denen der Einzelne die moralische Pflicht hat, zu widersprechen und sich zu widersetzen.»
Das «Nie Wieder» sitzt bei vielen in Deutschland tief - zu Jahresbeginn gingen dafür Hunderttausende Menschen friedlich auf die Straße. Für Verteidigungsminister Pistorius waren diese Demonstrationen gegen Rechtsextremismus ein ermutigendes Zeichen: «Unsere Demokratie ist stark und wehrhaft», sagt der Minister. Doch sie werde auch stärker angegriffen, durch autokratische und totalitäre Kräfte, durch Desinformation, durch Störung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. «Daher muss uns jeden Tag bewusst sein: Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss verteidigt werden.»
Der Unterschied zwischen Rechtsstaat und Diktatur
Andererseits gibt es auch so etwas wie eine Inflation des Widerstands. «Wenn Unrecht zu Recht wird, dann wird Widerstand zur Pflicht», darauf beriefen sich unter anderem Aktivisten der Klimagruppe Letzte Generation bei ihren Straßenblockaden und Farbattacken. Auf der anderen Seite des Spektrums nutzen Rechtsradikale und Querdenker «Widerstand» gegen Staat und Politiker als Kampfbegriff.
Tuchel hält das für abwegig. «Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Opposition in einem Rechtsstaat und dem Widerstand gegen eine Diktatur», sagt der Politikwissenschaftler. «Wenn beides vermengt wird, kann man das nur mit großer Sorge betrachten.» Der 20. Juli sei auch Anlass, darüber grundsätzlich zu reden. «Wir sollten überlegen: Was ist Widerstand tatsächlich gewesen und was meint ihr heute damit? Lasst uns das mal sauber auseinander rechnen.»
«Keine makellosen Helden»
Darauf pochen zum 80. Jahrestag des Hitler-Attentats auch Nachkommen der Beteiligten in einem Manifest, das die früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck, Christian Wulff und Horst Köhler und Hunderte weitere Persönlichkeiten mittragen. Opposition gegen eine gewählte Regierung und gegen Mehrheitsentscheidungen sei eben nicht zu verwechseln mit Widerstand gegen eine totalitäre Diktatur, heißt es in dem Papier der Stiftung 20. Juli.
«Deshalb weisen wir den Versuch von rechten wie linken und auch von religiös motivierten Populisten und Extremisten zurück, den Begriff des Widerstands gegen unsere freiheitliche Demokratie zu instrumentalisieren.» Die Widerständler gegen den NS-Staat seien keine makellosen Helden gewesen, aber sie hätten «Mut zur Umkehr» gehabt und sich zusammengerauft. Heute schwäche der Rückzug in Unmut und Empörung die Demokratie. Gefordert sei stattdessen Verantwortung für Staat und Gesellschaft, heißt es im Manifest.
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