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Gastbeitrag: Darum ist das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein Eigentor

Gastbeitrag

Darum ist das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein Eigentor

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    Im Corona-Abstand verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil, in dem es Abstand nimmt zur Praxis der Staatsanleihen in Europa.
    Im Corona-Abstand verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil, in dem es Abstand nimmt zur Praxis der Staatsanleihen in Europa. Foto: Sebastian Gollnow, dpa

    Das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 ist eine historische Entgleisung. Es legt die Axt an die Wurzel der Europäischen Union und beschädigt das deutsche Ansehen in der EU erheblich. Der Karlsruher Richterspruch ist das Ergebnis eines national verengten Blicks auf die europäische Rechtsordnung. Es überzeugt inhaltlich nicht und verletzt ohne Zweifel EU-Recht, zu dem die Bindung nationaler Gerichte an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof gehört. Aber von vorne:

    Die EU ist eine Antwort auf zwei materiell und moralisch verheerende Weltkriege. Ihre Werte und Ziele verfolgt sie seit jeher als Rechtsgemeinschaft durch das Instrument des Rechts. Auf dieser Grundlage können Güter und Dienstleistungen frei ausgetauscht werden und Menschen frei entscheiden, wo in dem 27 Staaten umfassenden Binnenmarkt sie reisen, leben und arbeiten wollen.

    Diese Rechtsordnung wird durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zusammengehalten. Ihm können mitgliedstaatliche Gerichte Fragen zur Auslegung des europäischen Rechts stellen; an die Antworten sind sie gebunden. Mit gutem Grund: Eine Rechtsgemeinschaft funktioniert nur, wenn das Recht einheitlich ausgelegt wird. Hierzu hat sich Deutschland vertraglich verpflichtet.

    EZB-Urteil: Deutsche Verfassungsrichter haben die Grundlage der EU in Frage gestellt

    Diese Grundlage der EU haben die deutschen Verfassungsrichter nun infrage gestellt. Inhaltlich geht es um mehrere Beschlüsse der Europäischen Zentralbank von 2015, durch die ein Anleihenkaufprogramm aufgelegt wurde. Dieses Programm („Public Service Purchase Programm“, PSPP) soll über den Ankauf öffentlicher Anleihen durch die Zentralbanken der Mitgliedstaaten Einfluss auf das Zinsniveau nehmen und damit eine währungspolitische Aufgabe der EZB erfüllen: die Inflation auf einem Niveau um zwei Prozent zu halten. Von Anfang war strittig, ob das PSPP nicht in Wahrheit fiskal- und wirtschaftspolitisch motiviert war, insbesondere den krisengebeutelten Staaten günstige Kredite zu verschaffen. Hierzu hätte die EZB aber keine Kompetenz, weil Wirtschaftspolitik Sache der Mitgliedstaaten ist.

    In der Tat: Die billionenschweren Anleihenkäufe der nationalen Zentralbanken, darunter auch der Bundesbank, senkten das Zinsniveau erheblich – zur Stabilisierung der Märkte und zur Entlastung der öffentlichen Kassen, aber auch mit Folgen für die Sparer. Hatte die EZB ihre Kompetenzen überschritten? Dies vermuteten jedenfalls die Kläger (darunter Peter Gauweiler) in ihrer gegen das PSPP gerichteten Verfassungsbeschwerde. Damit nutzten sie einen – mit Unionsrecht eigentlich unvereinbaren – Karlsruher Schleichweg, über den das Verfassungsgericht Rechtsakte der EU darauf kontrolliert, ob sie offensichtlich kompetenzwidrig („ultra-vires“) sind. Hierüber kam es nun zum Konflikt.

    Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte im Dezember 2018 auf Frage des Bundesverfassungsgerichts das PSPP der EZB für kompetenzgemäß gehalten. Diesem (bindenden!) Urteil wollten die Karlsruher Richter nicht folgen und haben erstmals offen Unionsrecht und Gerichtshof die Gefolgschaft aufgekündigt. Mit überaus drastischen Worten: Die Erwägungen der europäischen Richter seien nicht nachvollziehbar und methodisch unzutreffend, ja offensichtlich falsch. Vernichtender kann juristische Kritik kaum formuliert werden.

    Inhaltlich wurde moniert, dass die EZB die Verhältnismäßigkeit ihrer PSPP-Beschlüsse nicht hinreichend begründet hatte. Dass große Teile der Fachwelt anderer Meinung waren und daher der Kompetenzverstoß keineswegs „offensichtlich“ war, störte das BVerfG nicht; dass die Begründungskultur am EuGH anderen Traditionen folgt und für die (ebenfalls monierte) richterliche Zurückhaltung bei der Kontrolle der EZB gute Gründe streiten: irrelevant. Übrigens war es Deutschland selbst gewesen, das 1992 auf die strikte Unabhängigkeit der EZB bestanden hatte. Bei allem hätte sich das Gericht darauf beschränken können, die Verfassungsmäßigkeit bei zukünftig besserer Begründung der EZB zu bejahen. Die Karlsruher Richter wollten aber wohl um jeden Preis den Europäischen Gerichtshof in die Schranken weisen.

    Die EU könnte nach dem EZB-Urteil zerfallen

    Was sind die Auswirkungen? Wird den Urteilen des EuGH nicht mehr gefolgt, zerfällt die Rechtsgemeinschaft und mit ihr womöglich die EU. Das ist keineswegs theoretisch: Nachahmer in Warschau, Budapest und anderswo stehen bereit, unangenehme Urteile des EuGH für unwirksam zu erklären.

    Kein Wunder, dass die Kommission alarmiert ist und Klage gegen Deutschland angekündigt hat. Dazu sollte man es jedoch nicht kommen lassen. Es ist jetzt an der Politik, die verfahrene Situation zu lösen und der Bundesbank die weitere Beteiligung am PSPP-Programm zu ermöglichen.

    Auf europäischer Ebene ist die Position Deutschlands erheblich geschwächt. Berlin wird Zugeständnisse machen müssen, etwa durch einen größeren finanziellen Spielraum der EU. Und auch das Verfassungsgericht muss mehr Verantwortung für die europäische Integration übernehmen. Im deutschen Interesse an der Erhaltung unserer einmaligen Friedens-, Freiheits- und Werteordnung.

    Zum Autor: Prof. Friedemann Kainer, 48, leitet den Lehrstuhl für bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Uni Mannheim.

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