Wer ein Faible für politische Spektakel hat, war mit den hitzigen Debatten in der französischen Nationalversammlung um die Rentenreform gut bedient. Da wurde geschrien und gepfiffen, angeklagt und gebrüllt. Aurélien Santoul von der Linkspartei bezeichnete den Arbeitsminister Olivier Dussopt im Eifer des verbalen Gefechts sogar als „Hochstapler und Mörder“, sei dieser doch mitverantwortlich für den Anstieg der tödlichen Arbeitsunfälle in Frankreich. Sein Parteikollege Thomas Portes veröffentlichte ein Foto von sich, wie er seinen Fuß auf einen Ball stellte, der Dussopts Kopf abbildete. Beide erhielten Strafen.
Eine Abgeordnete wandte sich besonders vehement gegen solche Fehltritte, obwohl sie die Opposition vertritt. In gesetztem Tonfall mahnte sie, die Rentenreform nur mit Argumenten zu bekämpfen. „Wenn man sich darauf zurückbesinnen würde, dass man in der Politik keine Feinde hat, sondern Gegner, könnte man solche Entgleisungen vermeiden.“ Selbstverständlich drücke ihre gesamte Fraktion dem Arbeitsminister ihre Unterstützung angesichts dieser „schweren Beleidigung“ aus. Die Frau, die so sprach, war Marine Le Pen.
Unter Applaus erhoben sich die 86 weiteren Abgeordneten ihrer rechtsextremen Partei Rassemblement National (RN), deren Fraktionschefin sie ist. Dussopt sagte später anerkennend über die 54-Jährige, sie habe sich „in diesem Moment sehr viel republikanischer verhalten“ als ein Teil des linken Zusammenschlusses Nupes („Neue ökologische und soziale Volks-Union“). Auch Innenminister Gérald Darmanin warf dem linken Bündnis vor, das Land ins Chaos zu stürzen. Mehr als 17.000 Änderungsanträge für die Rentenreform hatte die Allianz eingebracht. Aufgrund der strikt begrenzten Zeit der parlamentarischen Debatten verhinderte sie so, dass die Nationalversammlung über alle Artikel, darunter die umstrittene Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre, abstimmen konnte.
Die RN-Abgeordneten zeigten sich hingegen diszipliniert und diskret. An den Protestmärschen gegen die Rentenreform beteiligten sie sich nicht, da die Gewerkschaften Rechtsextreme in ihren Reihen ablehnen. Das schadet Le Pen kaum, sagte der Soziologe Luc Rouban: „Der soziale Konflikt mit den Gewerkschaften droht nicht von Erfolg gekrönt und auch nicht mehr sehr beliebt zu sein, wenn er zu Blockaden führt.“ Dies könnte ab diesem Dienstag eintreten, wenn auf unbestimmte Zeit Streiks angekündigt sind. Die meisten Menschen wollten zwar keine Rentenreform, aber auch keine Lähmung des Landes, so Rouban. „Für Le Pen ist es am günstigsten, nichts zu machen.“ Und genau das tut sie.
Marine Le Pen steht für den Protest gegen die geplante Rentenreform in Frankreich
Trotzdem verkörpert sie mehr als alle anderen Politiker oder Gewerkschaftsführer den Widerstand gegen die unpopuläre Reform. Das sagten 46 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen in einer Studie des Meinungsforschungsinstitutes Ifop. Zeitungen stellten auf ihren Titelseiten die Frage, welche politische Kraft am meisten von den Debatten um die Erhöhung des Renteneintrittsalters profitiert, und gaben in ihren Reportagen selbst die Antwort darauf: Le Pen. „Die leise Eroberung“, überschrieb das Magazin Le Nouvel Observateur eine Titelgeschichte über sie. Ihre Strategie, die Partei gemäßigter erscheinen zu lassen, offen rassistische Töne oder Symbole zu verbieten und den RN damit zu „entdiabolisieren“, zeigt Erfolg.
Dem Umfrageinstitut Kantar Public zufolge verstärkte sich in der französischen Bevölkerung im sechsten Jahr in Folge die Zustimmung zu den Ideen des RN: 31 Prozent heißen sie gut. Die meisten Anhänger finden sich unter den einfachen Arbeitern und Angestellten, den Geringverdienern vor allem in ländlichen Regionen. Auch die Zahl derer, die die extreme Rechte als Gefahr für die Demokratie einstufen, ist permanent rückläufig und mit 46 Prozent auf dem niedrigsten Niveau seit 40 Jahren. Vier von zehn Befragten glauben, der RN sei in der Lage, sich an einer Regierung zu beteiligen. In den Köpfen der Menschen nähert sich Le Pen längst der Macht.
Dabei erschien sie politisch erledigt, als sie in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 2017 nach einem misslungenen TV-Duell gegen Macron mit 34 Prozent klar scheiterte. Bei ihrem dritten Anlauf fünf Jahre später erhielt sie mit dem ultrarechten Journalisten Éric Zemmour zunächst eine ernsthafte Konkurrenz, doch er trat so radikal auf, dass Le Pen plötzlich moderat wirkte, was sie für viele wählbarer machte. Sogar die Tatsache, dass eine russische Bank ihrer Partei jahrelang Kredite gewährt hatte, schadete ihr im Wahlkampf nicht, obwohl Russland zu diesem Zeitpunkt bereits die Ukraine überfallen hatte. Schließlich war Le Pen nicht die einzige französische Politikerin, die jahrelang dem Kreml nahestand. Mit langen Rechtfertigungen musste sie sich gar nicht erst aufhalten.
Le Pen bleibt Strippenzieherin ihrer rechtsextremen Partei Rassemblement National
In der Stichwahl gegen Macron erzielte sie 41,5 Prozent. Ein Triumph gelang in den darauffolgenden Parlamentswahlen, als der RN zunächst 89 Sitze gewann, von denen er später zwei verlor – gegenüber acht in der vorherigen Legislaturperiode. Um sich ganz der Arbeit im Parlament zu widmen, gab sie den Parteivorsitz an den 27-jährigen Jordan Bardella ab. Er gilt als treuer Gefolgsmann; die eigentliche Strippenzieherin bleibt Le Pen. In Umfragen wird sie inzwischen als zweitbeliebteste Politikerin des Landes gehandelt, direkt hinter Macrons früherem Premierminister Édouard Philippe. Dieser bereitet sich auf eine Kandidatur bei der nächsten Präsidentschaftswahl in vier Jahren vor. Er sagte aber auch: „Die Favoritin für 2027 ist Marine Le Pen. Sie verfolgt weiterhin ihren Weg der Normalisierung.“
Obwohl in einem Schloss im Pariser Nobelvorort Saint-Cloud aufgewachsen, gibt sich die zweifach geschiedene Mutter von drei erwachsenen Kindern bodenständig und gilt als Sprachrohr der einfachen Menschen. Ihr Mandat gewann sie in ihrer Hochburg im strukturschwachen Norden. In den sozialen Netzwerken veröffentlicht sie ab und zu Fotos und Videos von ihren Hauskatzen. Als bei einer Begegnung mit ausländischen Journalisten ein Handy in einer Handtasche aufdringlich klingelte, reagierte sie nicht genervt, sondern mit einem verständnisvollen Lächeln. „Ich kenne das“, versicherte sie. „Und ausgerechnet in solchen Situationen kann man das Ding einfach nicht finden.“ Marine Le Pen, die nahbare Politikerin, posierte im Anschluss für Selfies. Als sie in einer bekannten Fernseh-Reihe über erfolgreiche Frauen in der Politik ausführlich porträtiert wurde, lud Le Pen die Moderatorin auf ihr Sofa zu sich nach Hause ein. Sie fand auch warme Worte über ihren Vater: Im Falle eines Wahlsiegs wäre Jean-Marie Le Pen der Erste, an den sie in Dankbarkeit denken würde, gestand sie.
Marine Le Pen: Neuer Parteiname, bewährt nationalistischer Kurs
Auch das schadet ihr nicht – obwohl ihr Vater vor gut 50 Jahren an der Seite von ehemaligen Nazi-Kollaborateuren und Mitgliedern der Waffen-SS stets als antisemitischer, rassistischer Provokateur auftrat. Mehrmals wurde er unter anderem wegen Aufstachelung zum Rassenhass verurteilt. 2011 übernahm seine jüngste Tochter die Partei von ihm. Als er ihren Kurs offen als zu soft angriff, ließ sie ihn ausschließen und benannte den einstigen Front National 2018 um in Rassemblement National. Das Programm basiert aber weiterhin auf einem strikt nationalistischen Kurs, dem Ausschluss von Migrantinnen und Ausländern. So hielt sich Le Pen bei der Debatte um die Rentenreform mit Alternativvorschlägen zurück, abgesehen von Ideen zur stärkeren Unterstützung von Familien, um die Geburtenrate in Frankreich zu steigern. Diese ging zuletzt zwar zurück, bleibt aber die höchste in Europa. Von Hilfen profitieren sollten allerdings nur Paare, bei denen mindestens ein Elternteil die französische Staatsbürgerschaft hat. Einwanderer, die in Frankreich leben, Steuern und Abgaben bezahlen, will sie von solchen staatlichen Leistungen ausnehmen, gemäß ihrem Konzept der „nationalen Bevorzugung“.
Eine Spezialistin für die Sprache der Rechtsextremen, Cécile Alduy, sieht darin den Beweis für eine „ideologische Sichtweise der Gesellschaft“: „Die auf der Ethnie beruhende Geburtenpolitik des RN schreibt sich nicht in eine Familienpolitik der sozialen Gerechtigkeit ein, sondern zielt auf die Fortpflanzung allein der französischen Gesellschaft ab.“
Im vergangenen Oktober trug sich eine andere bezeichnende Szene im Parlament zu. Astrid Panosyan-Bouvet von der Regierungsmehrheit Renaissance warf dem RN vor, „seit 50 Jahren eine ausländerfeindliche DNA“ zu haben und erhielt dafür eine Rüge von der Präsidentin der Nationalversammlung, ihrer eigenen Parteifreundin Yaël Braun-Pivet. Gegen einen Sturm der Entrüstung verteidigte sich Braun-Pivet später, sie respektiere nur das Votum der Franzosen: „Als Politikerin bekämpfe ich den RN, aber nicht, indem ich ihn ausschließe.“ Le Pen hatte an diesem Tag eine weitere Stufe auf ihrem Weg zur Normalisierung erklommen.
Sie selbst hält es bislang offen, ob sie bei der Präsidentschaftswahl 2027 nochmals antreten wird. „Ich werde sehen, ob ich dann in der besten Position bin, mich zu bewerben oder nicht“, antwortet sie nur auf diese Frage. Und klingt dabei entspannt. Das kann sie auch sein: Viel muss Le Pen nicht tun. Die Zeit, so scheint es, arbeitet für sie.