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Flüchtlinge aus der Ukraine: Bürgergeld und Kriegsdienst

Krieg in der Ukraine

Bürgergeld, Kriegsdienst: Das Dilemma mit den ukrainischen Geflüchteten

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    Tetiana Balazh lebt seit einem Jahr in Deutschland.
    Tetiana Balazh lebt seit einem Jahr in Deutschland. Foto: Margit Hufnagel

    Am Tag, als der Krieg nach Kiew kam, brummte Tetiana Balazh der Schädel. Gemeinsam mit Freunden, der Familie, ihrem Sohn hatte sie am 23. Februar 2022 ihren Geburtstag gefeiert. Der Himmel über Kiew war klar. Es wurde ein schöner, ein ausgelassener Abend, 43 war sie geworden. Wie immer hatte es gut und viel zu essen gegeben, kochen ist ihre Leidenschaft. Doch das, was Balazh am Morgen des 24. spürte, war nicht nur der Kater nach einer feucht-fröhlichen Nacht. Das Dröhnen kam von den Flugzeugen und Raketen, die über die ukrainische Hauptstadt donnerten. Noch ehe die Sonne aufgegangen war, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin den Marschbefehl gegeben. „Ich habe meinen Sohn geweckt und ihm gesagt: Der Krieg hat angefangen“, erinnert sie sich.

    Mehr als zwei Jahre sind seither vergangen, vom früheren Leben der Ukrainerin sind nur noch Bruchstücke übrig geblieben. „Ich dachte eigentlich, der Krieg geht so schnell vorbei wie ein Regenschauer“, sagt sie. Es war ein Irrtum. Ein Ende der Kämpfe ist auch an Tag 870 nach der Invasion nicht in Sicht. Zehntausende Menschen sind getötet worden in diesem schlimmsten Blutvergießen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

    Tetiana Balazh flüchtete, erst in die Katakomben der U-Bahnstation, dann auf einen Evakuierungszug in Richtung Westen. Zog nach Lettland, dann zurück nach Kiew, wo ständig die Sirenen vor Luftangriffen warnen. Heute lebt die 45-Jährige in Augsburg, hat ein Zimmer in einer WG mit zwei anderen Frauen. Ihr Sohn, Anfang 20, darf die Ukraine nicht verlassen. Balazh steht beispielhaft für einen Konflikt, der sich gerade über Europa zusammenbraut. Da ist zum einen der zutiefst menschliche Wunsch von Geflüchteten wie Tetiana, sich sicher zu fühlen, ihrem Leben wieder Struktur zu geben, und ja, auch das, die Krise – selbst wenn das nach einem billigen Kalenderspruch klingen mag – zu einer persönlichen Chance zu machen. Und dann sind da zum anderen die politischen Gesetzmäßigkeiten, die Feinheiten der Paragrafen, die gesellschaftlichen Stimmungsschwankungen, wie sie immer zu sehen sind, wenn Krisen sich in die Länge ziehen und den Alltag stören. Populismus wechselt sich ab mit Empörungsritualen. Doch wer genau hinschaut, erkennt auch ein echtes Dilemma.

    Die Solidarität mit den ukrainischen Flüchtlingen wird brüchig

    Balazh ist eine von 1.176.179 Flüchtlingen aus der Ukraine, die sich derzeit offiziell in Deutschland aufhalten. Selbst wenn man davon ausgehen kann, dass es in Wirklichkeit weniger sind, weil einige von ihnen bereits zurückgekehrt sind in die Heimat: Die Zahl ist gigantisch. Zu gigantisch, sagen manche. Die Stimmung verschiebt sich, ganz langsam nur, aber spürbar. Die schier grenzenlose Solidarität, die den Kriegsflüchtlingen entgegengebracht wurde, weicht einer zunehmenden Skepsis, das Wohlwollen wird von kritischen Fragen abgelöst: Warum arbeitet nur ein Bruchteil der Zugezogenen? Wie kann es sein, dass ukrainische Männer sich in Deutschland dem Wehrdienst entziehen können? Und überhaupt, wie lange soll das alles noch dauern?

    Der Ton wird drängender und das nicht nur in Deutschland. Im Nachbarland Polen, einem der wichtigsten Ukraine-Unterstützer, hat sich einer Umfrage der Universität Warschau zufolge die Stimmung gegenüber den Geflüchteten verschlechtert. Zwar findet immer noch eine überwältigende Mehrheit von 78 Prozent der Befragten, dass Polen flüchtende Ukrainer aufnehmen soll. Doch noch im Juni 2023 lag dieser Wert mit 89 Prozent deutlich höher. In Deutschland sprechen sich laut einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) inzwischen 41 Prozent der Menschen dafür aus, die Ukraine zu einem Friedensabkommen mit Russland zu drängen, nur 31 Prozent sind noch dafür, die Ukraine bei der Rückeroberung der besetzten Gebiete voll zu unterstützen.

    Geht die Solidarität mit der Ukraine langsam verloren?
    Geht die Solidarität mit der Ukraine langsam verloren? Foto: Heiko Rebsch, dpa

    Tetiana Balazh ist eine freundliche Frau mit offenem Blick, die blonden Haare fallen über ihre Schulter. „Ich mag Deutschland“, sagt sie. Seit Mai 2023 lebt sie hier, in ihrem Sprachkurs gehört sie zu den besten Schülerinnen, am Wochenende unterrichtet sie ukrainische Kinder oder hilft im ukrainischen Verein - in ihrer Heimat hat sie zunächst als Erzieherin bei einer Familie gearbeitet, später als Köchin in verschiedenen Restaurants in der Hauptstadt. Könnten sich die Deutschen einen Wunsch-Flüchtling backen, es käme wohl jemand wie die 45-Jährige dabei heraus. Wäre da nicht ein Detail: Balazh bezieht Bürgergeld. Ein Reizwort in der öffentlichen Debatte.

    Ob sie wegen der guten staatlichen Hilfen nach Deutschland gekommen sei? Ihr Blick wird ernst. „Wenn man flieht, hat man einfach Angst, man versucht sich zu retten“, sagt sie. „Ich will arbeiten, ich lerne die Sprache, ich bin bereit.“ Ihre Kindheit verbrachte sie in Transkapatien, viele Nachbarn hatten deutsche Wurzeln, die Mentalität war ihr vertraut. Vom Staat abhängig zu sein, das kannte sie vorher nicht. Doch hier, in dem neuen Land, wo sie sich und ihr Leben wieder ordnen will, braucht sie noch ein wenig Zeit. In Deutschland sei eben vieles anders, die bürokratischen Hürden höher. Zeugnisse und Diplome waren ihren Vorgesetzten in der Ukraine nie wichtig. „Man arbeitet zur Probe und sieht dann, ob es passt“, erzählt sie. Entmutigen lässt sie sich nicht. Im Gegenteil: Putin mag ihre Vergangenheit zerbombt haben, ihre Zukunft will sie ihm nicht schenken.

    Menschen erhalten Schutz nach der Massenzustromrichtlinie

    Balazh schmiedet Pläne, freut sich auf das, was vor ihr liegt. Im September wird sie ihren Deutschkurs auf Sprachniveau B1 beenden, der bescheinigt allen, die ihn bestanden haben, sich im Alltag ohne Probleme verständigen zu können. Es soll ein halbjähriger B2-Kurs folgen. Dann, so hat sie das mit ihrem Berufsberater besprochen, will sie eine Ausbildung machen zur Kinderpflegerin. Fachkräfte in diesem Bereich werden dringend gesucht. Die entscheidende Frage ist: Sieht man in der Geflüchteten eine kurzfristige Belastung – oder einen langfristigen Gewinn? „Ich will in Deutschland bleiben“, sagt sie. „Deutschland hat mir die Tür geöffnet.“

    Doch wie lange die offen bleibt, kann im Moment kaum jemand sagen. Im kommenden Jahr, spätestens im übernächsten muss die Politik eine Antwort geben, wie Deutschland künftig mit den Menschen aus dem Kriegsland umgehen wird. Im März 2026 läuft die sogenannte „Massenzustromrichtlinie“ aus, die den Ukrainerinnen und Ukrainern unkomplizierten Schutz sichert. Danach wird die Regierung nicht nur entscheiden müssen, ob die Menschen künftig doch einen Asyl-Prozess wie alle anderen durchlaufen müssen – sondern auch, ob Ukrainer, die bereits in Deutschland sind, zurückmüssen in ihre Heimat. Laut einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung will fast die Hälfte der ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland bleiben, unabhängig davon, wie und wann der Krieg endet.

    Schon jetzt steigen die politischen Testballons in den Himmel und loten aus, wie weit man zumindest in den Details gehen kann. Alexander Dobrindt, CSU-Landesgruppenchef, ließ seinen zu hoch fliegen, es knallte. „Es muss jetzt über zwei Jahre nach Kriegsbeginn der Grundsatz gelten: Arbeitsaufnahme in Deutschland oder Rückkehr in sichere Gebiete der Westukraine“, hatte er gesagt und dafür Prügel sogar aus der eigenen Parteienfamilie einstecken müssen. Doch man musste nicht zwischen den Zeilen lesen, um zu sehen: Es ging seinen Kritikern eher um den Ton, vielleicht auch noch um das Timing - in der Sache argumentieren immer mehr Politiker nicht nur aus CDU und CSU, sondern auch aus der FDP ähnlich. Der Zugang zum Bürgergeld müsse eingeschränkt werden. Über den Sommer soll nun ein Gutachten erarbeitet werden, spätestens im Herbst dürfte die Debatte also noch einmal Fahrt aufnehmen. Bis dahin könnten noch einige Testballons am Horizont auftauchen.

    Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine kostete Zehntausende das Leben. Im Bild der Unabhängigkeitsplatz in Kiew, an dem an die Toten erinnert wird.
    Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine kostete Zehntausende das Leben. Im Bild der Unabhängigkeitsplatz in Kiew, an dem an die Toten erinnert wird. Foto: Andreas Stroh, dpa

    Tetiana Balazh zuckt mit den Schultern. Die große Politik interessiert sie nicht. „Politiker sind Politiker“, wehrt sie ab. Kateryna Matey wird da schon deutlicher. Sie ist im Vorstand des „Ukrainischen Vereins“ in Augsburg. Allein der Name Dobrindt treibt ihren Blutdruck in die Höhe. Doch so wirklich überrascht hat sie die Debatte nicht. „Ich hätte erwartet, dass sie schon viel früher beginnt“, sagt sie. Immer wenn die Energiepreise stiegen, immer wenn Putin drohte, wuchs bei ihr die Sorge, dass die Stimmung kippen könnte. Doch sie kippte nicht. Bis jetzt. „Das macht einem schon Angst“, sagt sie. Besonders die russischstämmige Community in der Stadt werde mutiger, aggressiver, nutze den bröckelnden Rückhalt für die Ukrainerinnen und Ukrainer. Und überhaupt, wo denn diese angeblich sicheren Gebiete in der Ukraine sein sollen, von denen immer wieder die Rede ist.

    Gibt es in der Ukraine sichere Gebiete?

    Einer, der sich seit Beginn der russischen Großoffensive für die Ukraine und die Menschen einsetzt, ist der Grüne Anton Hofreiter. Nicht alle in seiner Partei sind begeistert vom Kurs des Bayern, doch Hofreiter lässt sich nicht beirren. „Ich halte nichts von der Debatte um angeblich sichere Gebiete in der Ukraine“, sagt er. „Russland greift die gesamte Ukraine an, Putin will das ganze Land erobern.“ Wie zum Beweis ließ die russische Armee in dieser Woche Bomben auf die Hauptstadt regnen, ein Kinderkrankenhaus wurde getroffen, 20 Menschen starben. „Kleine Krebs- und Dialysepatienten sitzen mit ihren Müttern auf dem Bürgersteig“, schrieb der deutsche Botschafter Martin Jäger auf X. Dabei gilt Kiew als die am besten geschützte Stadt des Landes, Raketenabwehrsysteme halten die Angriffe aus der Luft weitgehend ab, oft sind es herabfallende Trümmerteile, die Schäden in geringerem Ausmaß anrichten. Doch die schwere Attacke zwang offenbar selbst die moderne Technik in die Knie.

    „Auch die Region Lwiw im äußersten Westen der Ukraine ist regelmäßig von russischen Raketen- und Drohnenangriffen aus der Luft betroffen“, sagt Hofreiter. „Es ist schwer zu fassen, dass Alexander Dobrindt Frauen und Kinder, die zu uns geflüchtet sind, jetzt zurück in ein Kriegsgebiet schicken will.“ Vorstöße, wie die des CSU-Politikers, würden die deutsche Gesellschaft spalten, Neid und Missgunst schüren. Experten wie Joachim Krause, emeritierter Chef des Instituts für Sicherheitspolitik in Kiel, versuchen zu differenzieren. „Die Ukraine ist nach Russland das flächenmäßig größte Land Europas, da gibt es immer sichere Räume“, sagt er. „Nur ist die Sicherheit immer relativ, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine russische Rakete wie aus dem Nichts Zerstörung mit sich bringt.“

    Ein russischer Luftangriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew sorgte weltweit für Entsetzen.
    Ein russischer Luftangriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew sorgte weltweit für Entsetzen. Foto: Maxym Marusenko, AFP

    Doch Hofreiter geht es noch um einen anderen Punkt: „Die Union muss sich bewusst machen: Wenn man auf diese Art und Weise Stimmung gegen Menschen aus der Ukraine macht, nutzt das am Ende vor allem dem Herrscher im Kreml und seiner Propaganda“, sagt der Grüne. Tatsächlich dürfte auch hinter Putins Angriffen auf zivile Einrichtungen mehr stecken als Zerstörungswut. Seit Monaten lässt er gezielt die Infrastruktur des Landes bombardieren. Mehr als die Hälfte der nichtnuklearen Stromerzeugungskapazität sei zerstört oder schwer beschädigt, schätzen Experten. Der kommende Winter dürfte für die Menschen damit noch härter werden als die der vorherigen Jahre. Für Deutschland heißt das, dass womöglich noch mehr Menschen in die Flucht getrieben und um Aufnahme bitten werden. Und die Debatten noch härter geführt werden.

    Auch in Kiew selbst. Die Massenflucht ist für die Ukraine ein ernsthaftes Problem. Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge sind seit Kriegsbeginn rund 6,5 Millionen Menschen aus der Ukraine ins Ausland geflohen. Dem Land fehlen nicht nur Arbeitskräfte, es fehlen auch Steuerzahler. Wer geblieben ist, ärgert sich über jene, die gegangen sind. Viele Firmen suchen nach Mitarbeitern. „Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, diese Menschen sollten Steuern zahlen“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang des Jahres in einem Interview der ARD. Diese Steuern brauche man, um das Militär zu finanzieren.

    Nicht nur militärisch, sondern auch finanziell hängt das Land am Tropf des Westens. Hinzu kommt ein weit größerer Konflikt: Unter den Flüchtlingen sind wehrpflichtige Männer, dabei gehört der Nachschub an Soldaten zu den größten Herausforderungen für die Ukraine. Mehr als 700.000 wehrpflichtige Ukrainer sind allein in der EU als Flüchtlinge registriert. In Deutschland halten sich 196.766 Männer über 18 Jahren auf.

    Viele Männer entziehen sich dem Kriegsdienst

    Oleksandr Khytryi ist in diesen Tagen wieder von Augsburg aus nach Kiew gefahren. Den Transporter hat er vollgeladen mit Hilfsgütern, die er hier gemeinsam mit anderen Exil-Ukrainern in Deutschland gesammelt hat. „Ich möchte nützlich sein für die Ukraine“, sagt der 42-Jährige. „Wir müssen diesen Krieg gewinnen, etwas anderes will ich mir gar nicht vorstellen.“ Sobald er in der ukrainischen Hauptstadt ist, dem Ort, der Heimat für ihn und seine Familie war, wird ihn einer seiner ersten Wege auch zu den örtlichen Militärbehörden führen. Er muss seine Papiere aktualisieren lassen, denn im Land gilt eine allgemeine Mobilmachung. Männern im wehrpflichtigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren ist nur unter Ausnahmen die Ausreise gestattet. Offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wer sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern muss - oder mehr als drei Kinder hat.

    Auch Khytryi hatte kurz nach Ausbruch des Krieges mit seiner Einberufung gerechnet. Er fuhr seine Frau und die Kinder mit dem Auto westwärts an die Grenze, um sie in Sicherheit zu bringen. „Die Männer an der Grenze haben mich gefragt: Warum fährst du nicht mit, du hast vier Kinder, du musst nicht zur Armee“, erzählt er. Khytryi fuhr. 9, 14, 17, 23 sind seine Buben und Mädchen, sie sind so etwas wie seine Lebensversicherung. Und was ist mit denen, die diese Versicherung nicht haben, die trotzdem lieber ihr eigenes Leben als ihr Land retten? Die selbst Söhne, Männer, Enkel sind? Kann man jemanden dafür verurteilen, dass er nicht im Krieg sterben will? Ein Bekannter, erzählt Oleksandr, habe sich durch Schmiergeldzahlungen freigekauft. „Er sagt, dass er das nicht kann, dass er in der Armee ohnehin für nichts gut wäre“, sagt er. „Jeder entscheidet für sich selbst.“ Khytryi hat Verständnis. Patriotismus ja, doch kritiklos ist er auch in Kriegszeiten nicht. Die Regierung sei doch selbst schuld, vom Sold, der den Männern und Frauen gezahlt wird, könne kaum jemand seine Familie ernähren. Es sei schon vor dem Krieg nicht attraktiv gewesen, sich dem Militär anzuschließen. „Das ist die harte Realität“, sagt er. Der 42-Jährige kennt die Stimmung gut, die sich unter den Soldaten breit gemacht hat: Sein 23-jähriger Sohn ist im Land geblieben, dient in der Armee, ist in der Region Kiew stationiert. Auch wenn das weit entfernt ist von der Front im Osten, sagt Khytryi: „Als Vater habe ich immer Angst, dass der Tag kommen kann….“

    Oleksandr Khytryi mit seiner Frau Iryna und der neunjährigen Tochter Sofiia.
    Oleksandr Khytryi mit seiner Frau Iryna und der neunjährigen Tochter Sofiia. Foto: Margit Hufnagel

    So geschlossen, wie die Haltung der Ukrainer wirkt, ist sie zumindest in der Frage der eigenen Kampfbereitschaft nicht. Zu Tausenden versuchen Männer, sich dem Kriegsdienst durch Flucht ins Ausland zu entziehen. Einer Umfrage zufolge können sich nur gut 20 Prozent der infrage kommenden 25- bis 59-Jährigen vorstellen, in der Armee zu kämpfen. Putin setzt seit Langem darauf, dass dem Nachbarn irgendwann die Leute ausgehen. Der russische Präsident hat selbst nicht nur die Zahl der Soldaten erhöht, sondern lockt auch Tausende Freiwillige vor allem mit vergleichsweise hohem Sold an die Front.

    Eines der größten Probleme der Ukraine ist der Mangel an Soldaten.
    Eines der größten Probleme der Ukraine ist der Mangel an Soldaten. Foto: Ukrinform, dpa

    Soll Deutschland also zumindest wehrfähige ukrainische Männer zurückschicken? „Wir haben in unserer Verfassung das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verankert“, sagt Anton Hofreiter. „Ich sehe es daher als problematisch an, ukrainische Männer zur Rückkehr in die Ukraine zu zwingen.“ Eine wirkliche Handhabe hätte die Bundesregierung ohnehin nicht, selbst wenn sie den Schutzstatus verändern würde, würden wohl die meisten Asylanträge von Kriegsverweigerern anerkannt werden. Auch moralisch ist die Debatte mindestens schwierig: Im Falle eines militärischen Angriffs auf Deutschland, ermittelte das Institut YouGov, wäre sogar nur jeder zehnte Befragte bereit, sein Land zu verteidigen. Jeder vierte dagegen würde fliehen.

    Den richtigen Ton zu finden, ist gar nicht so einfach. „Grundsätzlich habe ich großes Verständnis, dass Ukrainer Angst haben vor dem Krieg, verwundet zu werden oder zu sterben“, sagt Roderich Kiesewetter vorsichtig. „Krieg ist schrecklich, besonders der barbarische Krieg, den Russland führt. Deshalb flüchten so viele.“ Der CDU-Verteidigungspolitiker ist Oberst a.D., war selbst auf dem Balkan und in Afghanistan stationiert. Der Sieg der Ukraine ist für ihn eine der wichtigsten sicherheitspolitischen Weichenstellungen der Zeit. An der Frage, wie weit der Westen Putin gehen lässt, entscheide sich das Schicksal vieler weiterer Länder. Auch deshalb fordert er schon seit Monaten, dass sich die Debatte über den Umgang mit wehrfähigen Ukrainern ändern müsse. „Es geht nicht um Kriegsdienstverweigerung, sondern um die Existenz eines Landes“, sagt Kiesewetter.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat massive finanzielle und personelle Probleme.
    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat massive finanzielle und personelle Probleme. Foto: Ukrainian Presidential Press Office, dpa

    Und doch gehört auch etwas anderes zur Wahrheit dazu: Die Opferzahlen der ukrainischen Armee sind auch deshalb so hoch, weil der Mangel an Munition und militärischem Gerät die Soldaten zu einer fast schon archaischen Kriegsführung zwingt. Experten vergleichen die Kämpfe mit den Schlachten des Ersten Weltkrieges. „Das ist ein Versäumnis Europas beziehungsweise Deutschlands“, sagt Kiesewetter. „Insofern sollten wir dieses sensible Thema mit der nötigen Selbstkritik und dem Realismus angehen, dass Anreize verstärkt werden, der Druck auf im Ausland lebende Wehrfähige erhöht werden muss, anders geht es nicht mehr.“ Die baltischen Staaten und Polen hätten bereits angekündigt, die ukrainische Regierung bei der freiwilligen Rückkehr ukrainischer wehrfähiger Männer zu unterstützen – Deutschland, so der CDU-Politiker, sollte dem Beispiel folgen und Anreize zur freiwilligen Ausreise erhöhen.

    Doch was soll der Preis sein, der das eigene Leben aufwiegt? Für den Militärexperten gibt es noch einen Zwischenweg. „Wer partout nicht militärisch kämpfen will, dem muss die Ukraine einen Ersatzdienst zusichern“, sagt er. „Es fehlt auch Personal im Sanitätsdienst, bei der Feuerwehr oder der Rüstungsproduktion.“ Die Mobilisierung werde mit jedem Monat ungerechter und schwieriger, da Männer aus Bereichen mobilisiert werden müssten, die für die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Landes wichtig seien. „Das ist eine Belastung für den Zusammenhalt der Gesellschaft“, sagt Kiesewetter. „Die Frage der gerechten und effektiven Mobilisierung wird eine emotionale Belastung für die Familien in der Ukraine und ist eine zentrale Frage der Gesellschaft momentan.“

    Tetiana Balazh weiß nicht, wann sie ihren Geburtstag wieder unbeschwert feiern kann, wann das aufhört, dass sie sich den Weg zu Unterführungen einprägt, um sich im Notfall in Sicherheit bringen zu können, wann sie ihren Sohn wieder in die Arme schließen kann - oder ob auch er an die Front geschickt wird. Nur eines weiß sie: „Alle Welt erwartet, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt“, sagt sie. „Auch ich will eine freie Ukraine - und ich will Enkelkinder.“

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    4 Kommentare
    Rainer Kraus

    Es ist mühselig über die 1,5 Millionen Ukrainer zu diskutieren, die unkontrolliert von unseren Politikern ins Land gelassen wurden. Solange die deutschen Bürger dies widerspruchslos akzeptieren, hat nur die Geschichte das Recht auf Bewertung.

    Thomas Keller

    Wohin werden sie vor dem fliegendem Blei weglaufen, Herr Kraus? In die Niederlande? Nach Frankreich? Ich bin Kriegsdienstverweigerer, werde aber ins Lazarett müssen.

    Rainer Kraus

    Wird Zeit, dass die kriegstüchtigen Ukrainer zurück geschickt werden, um ihrem Land zu dienen.

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    Jochen Hoeflein

    Wieso sollten Männer im wehrpflichtigen Alter zurück in die UA gehen um nach einer kurzen Einweisung an die Front geschickt zu werden mit hoher Wahrscheinlichkeit dort ihr Leben oder ihre Gesundheit zu lassen. Für wen, was und warum? Im Vielvölkerstaat identifizieren sich nicht alle mit der Kiewer Führung und deren Anspruch; je nach Ethnie lehnen sie sie sogar ab. Besser wäre sie in DEU in Arbeit zu bringen.

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