Für manche Beobachter mag es bemerkenswert erscheinen, dass die britische Regierung bislang nicht allzu viel an Vorbereitung auf den 1. Januar erkennen ließ. Dabei ist zum bevorstehenden Jahreswechsel der Brexit auch in wirtschaftlicher Hinsicht vollzogen, und es drohen Zölle und Kontrollen. Noch laufen die Verhandlungen zwischen Brüssel und London über ein künftiges Handelsabkommen. Aber seit der Ankündigung aus der Downing Street, mit einem umstrittenen Gesetz Teile des bereits ratifizierten Austrittsvertrags, auf dessen Basis das Königreich die Staatengemeinschaft bereits Ende Januar verlassen hat, untergraben und damit internationales Recht brechen zu wollen, steigt die Sorge vor einem Abbruch der Gespräche. Kommt es am Ende doch zu einem No Deal, dem Schreckgespenst der Wirtschaft?
Trotz aller Warnungen hat das britische Unterhaus am Dienstagabend für das umstrittene Binnenmarktgesetz gestimmt, mit dem Großbritannien Teile des bereits gültigen Brexit-Deals mit der EU aushebeln will. Mit 340 zu 256 Stimmen brachte Premier Boris Johnson das Gesetz mit einer klaren Mehrheit durch das Londoner Parlament. Als nächstes muss das Gesetz noch das Oberhaus passieren.
Dieser Tage nun hat Staatsminister Michael Gove, der im britischen Kabinett für die No-Deal-Planungen zuständig ist, einen Brief veröffentlicht, der – käme er nicht von einem Brexit-Hardliner – wohl von den Europaskeptikern als "Angstmacherei" verunglimpft worden wäre. In dem Schreiben warnt Gove davor, dass sich in der Grafschaft Kent bald bis zu 7000 Lastwagen stauen könnten, weil sie auf die nötigen Kontrollen am Hafen in Dover oder am Ärmelkanal-Tunnel warten müssen. Unternehmen, so Gove, müssten sich auf eine Verzögerung von zwei Tagen einstellen, um Güter vom Königreich in die EU auszuführen. Er rief die Wirtschaft auf der Insel dazu auf, sich auf die neuen Formalitäten einzustellen. Hinzu kommt, dass er weitere Wartezeiten an der Grenze prognostiziert, da zahlreiche Betriebe Anfangsschwierigkeiten mit dem korrekten Ausfüllen der Papiere haben dürften. Kritiker vonseiten der britischen Handelsverbände monieren derweil, dass die Regierung sie im Stich lässt mit der Vorbereitung auf die neuen Gegebenheiten. Das Problem: Noch weiß niemand, wie diese genau aussehen werden.
Mit dem Brexit drohen Zölle, die den Handel für EU und Großbritannien verteuern würden
Kommt es überhaupt zu einem Handelsdeal, und wie gestaltet sich dieser? Oder werden ab 2021 für Großbritannien die Regeln der Welthandelsorganisation greifen? Damit würden Zölle erhoben, die Import und Export von Produkten verteuern – in beide Richtungen. Die Einfuhr von Rohstoffen, der freie Warenverkehr und Lieferketten wären betroffen.
Noch immer heißt es hinter den Kulissen in London, dass Premierminister Boris Johnson einen Deal anstrebt, auch weil er innenpolitisch aufgrund der Corona-Pandemie unter massivem Druck steht. Aber selbst wenn es zu einem No Deal käme, erwarten Experten zwar Chaos, aber kein völliges Desaster. "Der Unterschied zwischen einem Szenario mit Abkommen und einem ohne Abkommen ist deutlich geringer geworden", sagt Politikwissenschaftler Anand Menon. Das liege zum einen am vereinbarten Austrittsvertrag, der einige Bereiche bereits abdecke. "Zum anderen fordert diese Regierung deutlich weniger als etwa die Vorgängerregierung unter Theresa May." Was aber will Großbritannien? Und was die EU?
Streit um Brexit: Die beiden größten Brocken sind Fischerei und Staatshilfen
Die beiden großen Streitpunkte drehen sich um die Fischerei und die Staatshilfen. Bei letzteren beharrt London auf vollständiger Autonomie. Johnson will offenbar in Zukunft den britischen Technologiesektor staatlich fördern, um die Abhängigkeit von den USA und China zu verringern, am besten zu beenden. Nach dem Willen der EU sollen Staatsbeihilfen aber nur nach strengen Kriterien erlaubt sein, wie sie auch in der 27er-Gemeinschaft gelten. Oberstes Kriterium: Der Wettbewerb darf durch staatliche Subventionen nicht verzerrt werden. Bei den geltenden Standards soll das Königreich das Niveau der EU übernehmen, damit es auf keinen Fall zu einer Art Dumping kommt. Dies würde zu gewaltigen Verschiebungen auf dem Binnenmarkt führen, so die Begründung der Union.
Bei der Fischerei spielen derweil Emotionen eine bedeutende Rolle. Diese Branche macht weniger als ein Prozent des britischen Bruttoinlandsproduktes aus, besitzt aber großen symbolischen Wert. Die Brexit-Befürworter streben an, ein unabhängiger Küstenstaat zu werden und damit bisherige vertragliche Verpflichtungen loszuwerden. London, so heißt es aus der Downing Street, fordere eine einfache, separate Rahmenvereinbarung über Fangrechte und Zugang. Die Quoten in den britischen Gewässern sollen zur Unterstützung der heimischen Flotte jährlich neu festgelegt werden. Die EU dagegen möchte, dass alles beim Status quo bleibt.
Die große Frage lautet: Wer gibt als erster nach? EU oder Großbritannien?
Europäische Trawler wollen auch künftig freien Zugang zu den britischen Fanggründen haben. Als Grundlage will Brüssel eine Übernahme der Beschränkungen, die die EU auch für andere Meere wie die Nordsee vereinbart. Die große Frage lautet deshalb: Wer gibt als Erstes nach? Oder anders herum: Wer würde es wagen, den Verhandlungstisch zu verlassen und damit für das Scheitern der Gespräche verantwortlich gemacht zu werden?
Immerhin, mit seinem jüngsten Schachzug scheint Boris Johnson nicht zu punkten. Allzu offensichtlich, so heißt es in Brüssel, sei die Attacke des Premiers gegen das von ihm selbst unterzeichnete Ausstiegsabkommen ein Versuch, die 27 Amtskollegen der EU unter Druck zu setzen, damit sie noch kurz vor dem Jahreswechsel einem oberflächlichen Handelsvertrag nach Johnsons Gusto zuzustimmen. Diese Rechnung ging bislang nicht auf.
Die Union reagierte desillusioniert – und schwieg. Kein Aufschrei, keine wütenden Proteste – man nehme Johnson den Wind besser dadurch aus den Segeln, indem man ihn ins Leere laufen lasse, sagen Diplomaten in Brüssel. Das mag politisch stimmen, juristisch aber scheint die Gemeinschaft überfordert. Niemand weiß derzeit, wie man auf eine harte Grenze zwischen der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland reagieren soll. Beim auf nächste Woche verschobenen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Union spielen die Spätfolgen des Brexits nur unter "Verschiedenes" eine Rolle.
Optimisten wie Kommissionschefin von der Leyen hoffen auf einen Durchbruch im Brexit-Streit
Es habe "keinen Sinn" mehr, sich über das sogenannte "Level Playing Field", die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen, Gedanken zu machen. Der Streit um einen gleichen Umgang mit Staatsbeihilfen und Standards im Arbeits-, Umwelt-, Sozial- und Wettbewerbsrecht schwelt seit langem – und weiter. Die Union müsse sich jetzt darauf vorbereiten, dass es zu einem No-Deal-Szenario kommt, heißt es im Umfeld von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Gleichzeitig spekulieren die Optimisten um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen darauf, dass es kurz vor dem mutmaßlichen Stichtag Mitte Oktober doch noch zu einem Durchbruch kommen könnte.
Das Verständnis für Johnsons Versuch, die von ihm selbst ausgehandelte und unterschriebene Nordirland-Lösung wieder aufzubrechen, ist bestenfalls begrenzt. "Ohne Gesichtsverlust kommt er da nicht wieder raus", heißt es unter Brüsseler Diplomaten. Dabei gehört zu den roten Linien der EU-Unterhändler unter Michel Barnier, dass das Karfreitagsabkommen von 1998 nicht angetastet werden darf. Alles, was den Frieden in der damaligen Bürgerkriegsregion Nordirland gefährden würde, wird die EU ablehnen. Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass Nordirland nicht zu einem Einfallstor in die EU für Produkte wird, die nicht den europäischen Standards entsprechen.
Ebenfalls heikel: Für Fragen, die das Gemeinschaftsrecht betreffen, soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zuständig bleiben. Das muss nach dem Willen der Gemeinschaft auch für alle Bereiche gelten, die EU-Bürger innerhalb des Vereinigten Königreiches betreffen. Das lehnt London ab. (mit dpa)
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