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Europäische Union: Hinter den Kulissen: Was Sie über die Europawahl wissen müssen

Europäische Union

Hinter den Kulissen: Was Sie über die Europawahl wissen müssen

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    Vorhang auf für die Europawahl: Wir haben für Sie hinter die Kulissen geschaut.
    Vorhang auf für die Europawahl: Wir haben für Sie hinter die Kulissen geschaut. Foto: Boris Roessler, dpa

    ... die wirklich spannenden Gespräche im Hotel Amigo geführt werden?

    Irgendwo muss man doch mal in Ruhe reden können, selbst in Brüssel. Während Europaabgeordnete ihre Meetings gerne in eine der Kneipen am Place du Luxembourg vor dem Europaparlament auslagern (besonders beliebt ist dabei die Beer Factory), bevorzugen Staats- und Regierungschefs eine noblere Adresse, wenn auch mit einem etwas zwielichtig anmutenden Namen: das Hotel Amigo.

    Schon seit Helmut Kohls Kanzlerschaft hat sich die Adresse im Zentrum der belgischen Hauptstadt für Berlin wie auch für Paris als feste Unterkunft während der EU-Gipfel etabliert. Gerhard Schröder und Jacques Chirac luden in dem Hotel Journalisten zu Hintergrundgesprächen ein oder liefen sich im schicken Restaurant über den Weg. Mal mehr und mal weniger zufällig. Auch italienische Regierungsvertreter gehören inzwischen zu den Stammgästen. 

    Dass Bundeskanzler Olaf Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni dank der räumlichen Nähe immer häufiger am Vorabend von EU-Gipfeln in der Hotelbar bei einem Glas Rotwein zusammensitzen und offenstehende Fragen im kleinsten Kreis ausloten, sorgt allerdings zunehmend für Irritationen bei einigen Partnern, die sich von den Vertretern der drei größten Mitgliedstaaten außen vor gelassen fühlen.

    Das Trio scheint es zu mögen: Politik bei gedimmtem Licht und im Poloshirt abseits der sterilen Konferenzräume. Beitritt der Ukraine, Migration, EU-Haushalt, Ungarns Blockadeversuche – hätten die Wände des Luxushotels nur Ohren und könnten von den vielen Geschichten und Geheimnissen, Anekdoten und Auseinandersetzungen erzählen.

    Einst stand hier ein Gefängnis, im Jahr 1522 errichtet. Nachdem es einmal zerstört und wiederaufgebaut wurde, saß Mitte des 19. Jahrhunderts sogar der deutsche Philosoph Karl Marx einmal eine Nacht hier ein. Heute zieren das Hotel fünf Sterne. Die Nacht kostet ab rund 350 Euro. Dann geht es aufwärts bis zur 180 Quadratmeter großen und teuersten Suite im Haus – mit Kamin, Dachterrasse und herrlichem Blick. Diese, so erzählt man es sich, trug im Übrigen lange den Spitznamen „Merkel-Suite“.

    ... tief in der Nacht nur noch der Beichtstuhl hilft?

    Als nach der vergangenen Europawahl das mühsame Postengeschachere um den nächsten EU-Kommissionspräsidenten begann, stand einmal wieder das berühmt-berüchtigte Brüsseler Hinterzimmer im Fokus. In diesem nämlich fanden die sogenannten Beichtstuhlverfahren statt. Es handelt sich dabei um ein diplomatisches Gesprächsformat, das immer wieder in Verhandlungssituationen angewandt wird, die völlig aussichtslos erscheinen. Zum Beispiel spät nachts bei den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs – wie jenem im Juli 2019.

    Der EU-Ratspräsident, damals hieß er Donald Tusk, hatte seinerzeit die Staats- und Regierungschefs zu Einzelgesprächen kommen lassen, um herauszuhören, ob und inwieweit sie bereit wären, bestimmte Kompromisse einzugehen. Über allem stand die Frage: Wer sollte Chef (oder Chefin) der mächtigen EU-Kommission werden? Gelöst wurde die festgefahrene Situation bekanntlich recht überraschend: Keiner der offiziellen Spitzenkandidaten erhielt den Posten, stattdessen wurde Ursula von der Leyen quasi aus dem Beichtstuhl gezaubert.

    So viel zu den Dramen bei Gipfeln. Gerne wird das Beichtstuhlverfahren aber auch von der EU-Kommission selbst genutzt, um Verhandlungsspielräume auszuloten. Dabei bittet die Behörde Vertreter der EU-Länder um eine vertrauliche „Beichte“, zu welchen Zugeständnissen sie bereit wären. Als die Kommission etwa kurz nach der Invasion Russlands in die Ukraine ein sechstes EU-Sanktionspaket gegen Moskau schnüren wollte, inklusive eines zunächst umstrittenen Öl-Embargos, fragte sie in den Tagen zuvor aus den Hauptstädten erst einmal solche „Geständnisse“ ab. Wie sehen die Positionen aus? Wie weit kann Berlin, wie weit will Paris gehen? Erst im Anschluss an jenes Ausloten präsentierte die Kommission ihre Vorschläge für weitere Maßnahmen gegen Russland.

    ... den wichtigsten Job nicht der Wähler vergibt?

    Es ist der aktuell wohl bekannteste deutsche Begriff in der Europäischen Union, mit dem Dänen und Portugiesen genauso um sich werfen wie Polen und sogar die Franzosen: das Spitzenkandidatenprinzip. Demnach ernennen die politischen Lager jeweils eine Politikerin oder einen Politiker zum Spitzenkandidaten. Wer bei der Wahl am stärksten abschneidet, soll dann die Spitze der EU-Kommission besetzen. Mit der Europawahl 2014 sollte dieses Prinzip auf EU-Ebene eigentlich zum Standard werden. Doch schon fünf Jahre später scheiterte das System.

    Die Staats- und Regierungschefs bestimmten 2019 statt CSU-Mann Manfred Weber, der Spitzenkandidat der christdemokratischen Europäischen Volkspartei gewesen war, die am meisten Stimmen bekommen hatte, Ursula von der Leyen als Chefin der mächtigen Brüsseler Behörde. Und das, obwohl die CDU-Politikerin auf keinem Wahlzettel aufgetaucht war. Der ausgebootete Weber sprach damals von einem „schweren Schaden für die Demokratie“. Schließlich stand damit fest: Über den wichtigsten EU-Posten entscheiden nicht unbedingt die Wählerinnen und Wähler. 

    Für die Europawahl im Juni wurde Ursula von der Leyen nun zwar ganz offiziell zur Spitzenkandidatin von Europas Christdemokraten gekürt, fürs Parlament kandidiert sie allerdings nicht. Und somit wird sie wieder auf keiner Wahlliste stehen.

    ... man jetzt schon ab 16 Jahren wählen darf?

    In anderen Staaten der Europäischen Union gab es das schon, doch für viele junge Menschen in Deutschland ist diese Wahl ein Meilenstein. Erstmals dürfen Jugendliche schon ab 16 Jahren abstimmen. Bis dato hatte das Mindestwahlalter bei 18 Jahren gelegen. Die Änderung hatte der Bundestag im November 2022 auf Betreiben der Ampelkoalition beschlossen – gegen die Stimmen von CDU, CSU und AfD. Die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP hatten ihren Vorstoß damit begründet, dass junge Menschen, die sich schon jetzt gesellschaftlich engagieren und in den politischen Prozess einbringen wollen, nicht länger vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben sollen. Außerdem habe sich durch den demografischen Wandel die Altersverteilung der Wahlberechtigten zulasten der jüngeren Generationen verschoben. 

    Auch in Belgien, Österreich und Malta darf man schon ab 16 Jahren bei der Europawahl mitbestimmen, in Griechenland ab 17 Jahren, in allen anderen EU-Mitgliedsstaaten nach wie vor erst ab 18 Jahren. 

    Bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr wird übrigens auch in Deutschland weiterhin das Mindestwahlalter von 18 Jahren gelten. Bis Anfang der 70er-Jahre durfte man sogar erst ab 21 Jahren wählen.

    ... in Brüssel die berühmteste Pommesbude der Welt steht?

    Eine Tüte Pommes, dazu die würzig-pikante „Sauce Andalouse“ – als Angela Merkel vor acht Jahren dem EU-Gipfel entfloh, um sich einen Snack um die Ecke zu genehmigen, gingen die Bilder um die Welt. Die Kanzlerin an der Pommesbude, wie kam es dazu?

    Wie so oft bei Spitzentreffen sollte die Taktik des Aushungerns und Mürbemachens eigentlich David Cameron, den damaligen Premierminister des Vereinigten Königreichs, zum Einlenken bewegen. Doch der Brite gab sich stur, ein Brexit-Referendum sollte her. Um jeden Preis. Der Rest ist Geschichte. 

    Merkel knurrte derweil an jenem Februarabend 2016 der Magen. Mit ihrer Entourage spazierte sie zum rund zehn Minuten entfernten Place Jourdan. Der ist nicht besonders hübsch, aber in der Mitte steht das Maison Antoine, ein Fritten-Mythos seiner selbst. Gegründet 1948 in Brüssel-Etterbeek brutzelt dort mittlerweile die dritte Generation. Dabei scheiden sich die belgischen Geister vor allem an einer Frage: Welche Sauce ist die beste? Insgesamt 32 Versionen stehen bei Antoine zur Auswahl.

    Merkel bestellte damals dem Verkäufer zufolge mehr als 40 Portionen für ihr gesamtes Team, wahlweise mit Mayonnaise oder Sauce Andalouse, einer Mischung aus Mayonnaise, Tomatenpaste und Pfeffer. 3,70 Euro, inklusive Topping. Mittlerweile hat auch der berühmte Fastfood-Kiosk bei den Preisen aufgeschlagen, günstig bleibt es weiterhin.

    Die Friterie ist eine Institution. Zu den Kunden zählten schon die Schauspielerin Catherine Deneuve und Rockstar Mick Jagger. Vor allem aber kommen gerne Politiker vorbei – wie EU-Ratspräsident Charles Michel, die belgische Premierministerin Sophie Wilmes, der luxemburgische Ex-Premier Xavier Bettel oder Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Und es gibt vermutlich keinen Europaabgeordneten, der hier nicht schon mal zwischen Terminen und Abstimmungsrunden eine Kleinigkeit gegessen hat.

    Dabei müssen Hungrige Zeit mitbringen. So legendär wie die Fritten selbst sind auch die langen Schlangen, die sich mittags, abends und nachts bilden. Meist wird dann auf einer der harten Parkbänke gegessen, aber auch die vielen Bars und Cafés erlauben es ihren Gästen per Aushang, mit Pommestüte in der Hand ein frisch gezapftes belgisches Bier zu bestellen.

    ... auf einen EU-Abgeordneten fast 18 Lobbyisten kommen?

    Als Europas Abgeordnete 2023 beschlossen, stärker gegen Korruption im eigenen Haus vorzugehen, saß in der letzten Reihe des Parlaments auch jene Frau, wegen der es diese Abstimmung überhaupt gab: Eva Kaili. Die griechische Politikerin war der Auslöser dafür, dass es nun etwa striktere Vorgaben für die Übernahme von Reisekosten durch Dritte sowie strengere Regeln für die Annahme von Geschenken gibt. Und dass Treffen mit Diplomaten und Lobbyisten aus Drittstaaten veröffentlicht werden müssen.

    Kaili ist das Gesicht des größten EU-Skandals der jüngeren Vergangenheit. Bei „Katargate“ ging es um den Vorwurf, dass sich Länder wie Katar und Marokko politischen Einfluss in der EU erkauft haben sollen. Hat das EU-Parlament mit seinen 705 Abgeordneten hier ein Problem? Insider verweisen auf das Transparenz-Register, in dem mehr als 12.500 Lobbyisten (freiwillig) registriert sind. Oft findet der Austausch zwischen Lobbyisten und EU-Gesetzgebern aber fernab der Öffentlichkeit statt, „was der Transparenz schadet und sich negativ auf das Vertrauen der Öffentlichkeit auswirkt“, sagt Jorg Kristijan Petrovic vom Europäischen Rechnungshof. 

    Im Prinzip soll sich zwar jeder registrieren, der einen EU-Vertreter treffen will. Tatsächlich aber passiert das nur bei den ranghöchsten Bürokraten der Institutionen. Spontane Treffen, Telefonate oder Mails müssen nicht formell festgehalten werden. Und die allermeisten Brüsseler Beamten und Mitarbeiter dürfen sich auch mit nicht-registrierten Lobbyisten von Organisationen, Firmen, Ländern oder Verbänden verabreden. Das Lobbying hat einen schlechten Ruf. Der Rechnungshof nannte es jedoch „ein wichtiges demokratisches Instrument, das es Organisationen und Einzelpersonen ermöglicht, einen Beitrag zur Politikgestaltung und Entscheidungsfindung zu leisten“. Solange die Grenzen eingehalten werden jedenfalls.

    ... die Europawahl vier Tage dauert?

    Die Europawahl findet in diesem Jahr am 9. Juni statt. Also in Deutschland jedenfalls. Doch in Wahrheit zieht sich die Abstimmung vier Tage hin, denn nicht in allen EU-Staaten gehen die Menschen am Sonntag wählen. Die Frage stiftet alle fünf Jahre Verwirrung: Warum stimmen die Niederländer am Donnerstag ab, die Iren am Freitag, die Letten, Malteser und Slowaken am Samstag und die Deutschen (wie auch der große Rest der Mitgliedstaaten) erst sonntags? Und warum sind in der Tschechischen Republik und in Italien die Bürgerinnen und Bürger gar an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zum Wählen aufgerufen?

    In Deutschland findet die Europawahl am Sonntag, 9. Juni, statt.
    In Deutschland findet die Europawahl am Sonntag, 9. Juni, statt. Foto: Claudia Stegmann

    Traditionell hört man darauf die klassische Antwort, die Leute immer dann geben, wenn sie nicht weiterwissen: Es sei eben Tradition. Tatsächlich ergeben sich die unterschiedlichen Wahltage aus nationalen Gepflogenheiten. Die Niederländer etwa schlossen 1918, damals aus Rücksicht auf die protestantische Bevölkerung, Wahlen an einem Sonntag aus. Die meisten setzen also ihr Kreuzchen vor der Arbeit oder hetzen in der Mittagspause ins Wahllokal. Das calvinistische Erbe eines Landes könnte tatsächlich für die verschiedenen Wahltage auch in anderen Ländern verantwortlich sein. Da man sich früher an Feiertagen – und das waren Sonntage – nicht politisch betätigen sollte, blieb der siebte Tag der Woche tabu. 

    Deutschland macht es umgekehrt und hat im Bundeswahlgesetz festgeschrieben, dass der Wahltag ein Sonntag oder gesetzlicher Feiertag sein muss. Und wer zwei Tage lang abstimmen lässt, erhöht laut Statistik die Wahlbeteiligung.

    ... das EU-Parlament als Wanderzirkus unterwegs ist?

    Der Gruppenausflug unter der Europaflagge beginnt um 8.57 Uhr auf Gleis 6, Bahnhof Brüssel-Midi. EU-Abgeordnete, Übersetzer, Journalisten und Parlamentsmitarbeiter klappen ihre Laptops auf, während sie im roten Sonderzug ins 400 Kilometer entfernte Straßburg rasen. Jan Rößmann sitzt am Fenster und muss schmunzeln. „Es ist, als ob du mit vielen Kolleginnen und Kollegen durch halb Europa fährst, um dann dort dieselbe Arbeit zu machen“, sagt der Pressesprecher der deutschen SPD-Europaabgeordneten.

    Zwölfmal im Jahr reist der Tross aus rund 4000 Menschen von Brüssel oder direkt aus den Wahlkreisen nach Straßburg zu den jeweils von Montag bis Donnerstag dauernden Plenartagungen. Dort schwärmen sie dann in Richtung Hotel, in Privatunterkünfte oder ins Parlament aus. Da stehen in den Mini-Fluren vor den Abgeordnetenbüros bereits von Mitarbeitern gepackte Boxen mit Akten, Stiften, Mikros oder persönlichen Gegenständen, die Logistiker zuvor in Brüssel abgeholt hatten.

    Der FDP-Abgeordnete Moritz Körner zählt zu den Kritikern des Systems der multiplen Sitze, das 1992 in den EU-Verträgen offiziell festgeschrieben wurde. „Der monatliche Wanderzirkus ist ein Wahnsinn und keinem Steuerzahler vermittelbar“, sagt der Liberale. Tatsächlich hat der Europäische Rechnungshof 2014 eine Prüfung vorgenommen. Darin heißt es, dass „allein ein Umzug von Straßburg nach Brüssel zu Einsparungen von jährlich 114 Millionen Euro führen“ könnte.

    Eins von zwei: das Parlamentsgebäude in Straßburg.
    Eins von zwei: das Parlamentsgebäude in Straßburg. Foto: Philipp von Ditfurth, dpa

    Die Diskussionen kochen regelmäßig hoch, etwa nachdem das Parlament aufgrund der Coronapandemie knapp 15 Monate leer geblieben war. Und wer konnte während der Energiekrise rechtfertigen, zwei riesige Gebäude parallel zu unterhalten? 

    Offiziell hat die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten genug vom Wanderzirkus. Das Problem: Das EU-Parlament hat keinerlei Macht in der Frage. Um das aktuelle System anzupassen, bedarf es einer Änderung der EU-Verträge. Die wiederum erfordert Einstimmigkeit im Kreis der 27 Mitgliedstaaten. Doch Frankreich sträubt sich heute wie vor 40 Jahren. 

    Bis heute gehört eine Episode aus dem vergangenen Jahr zu den Treppenwitzen in der EU-Blase. Da sorgte eine Irrfahrt des montagmorgendlichen Sonderzugs für Erheiterung, als dieser statt in Straßburg zunächst im Disneyland Paris landete.

    ... ohne Trilog gar nichts geht?

    Die einen feierten einen „historischen Moment“, die anderen beklagten den De-Facto-Tod des individuellen Rechts auf Asyl. Sichtlich erschöpft waren sie jedenfalls alle an jenem frühen Mittwochmorgen im vergangenen Dezember. Denn es gab einen Durchbruch im sogenannten Trilog über die Reform des europäischen Asyl- und Migrationssystems.

    Trilog werden die finalen Verhandlungen der drei EU-Institutionen – also Europaparlament, EU-Kommission und Ministerrat (das Gremium der 27 Mitgliedstaaten) – über einen Gesetzesvorschlag bezeichnet. Oft schlagen sich dabei Dutzende Verhandler viele Tage und gerne auch mal Nächte um die Ohren, wie etwa beim Dauerstreitthema Migration. 

    Und aus langer Erfahrung ist die Trickkiste des Brüsseler Jargons auch auf mögliche Steigerungsformen vorbereitet. Weil damals gleich fünf Verordnungen parallel auf dem Tisch lagen, erhielt das Event im Megaformat sicherheitshalber gleich das Attribut „Jumbo-Trilog“, um die schiere Größe mancher Verhandlungen zu verdeutlichen.

    Der bei einem solchen Trilog vereinbarte Kompromiss muss im Anschluss noch vom Rat und den Europaabgeordneten formell und final verabschiedet werden.

    ... es in der EU viele 24 Sprachen und eine Geheimsprache gibt?

    Als das Drama um den Brexit vorbei und das Vereinigte Königreich endgültig draußen war, witterten die Franzosen ihre Chance. Die EU solle aufhören, „eine Art gebrochenes Englisch“ zu sprechen, forderte im Jahr 2021 Clément Beaune, damals Frankreichs Minister für EU-Angelegenheiten. Stattdessen seien konkrete Maßnahmen erforderlich, um die „sprachliche Vielfalt“ zu fördern, sagte er vor internationalen Journalisten – auf Französisch. 

    Was er mit sprachlicher Vielfalt meinte: Es lebe le Français, die Sprache Molières und eine der drei Arbeitssprachen der EU. Doch mag Paris auch gegen die Übermacht des Englischen auf EU-Ebene kämpfen und die vermeintliche Diskriminierung – Mon Dieu! – beklagen: In den Büros der EU-Kommission dominiert seit der Osterweiterung Englisch als Mittel der Kommunikation, auch wenn es angesichts der verschiedenen Akzente und Wortneuschöpfungen oft kaum noch Ähnlichkeit mit dem feinen British Englisch aufweist.

    Shakespeare jedenfalls wäre vermutlich allein wegen des „Eurospeak“ zum Brexit-Lager übergelaufen. 24 Amtssprachen gibt es in der Gemeinschaft. Mehr als 5000 Übersetzer und Simultan-Dolmetscher sind bei den Institutionen und Agenturen der Union beschäftigt. 

    Und dann gibt es noch eine Art Geheimsprache im EU-Kommunikations-Dschungel. Coreper, DSA, MdEP oder Passerelle – der Brüsseler Jargon ist an Kürzeln und Sprachperlen keineswegs arm. Coreper etwa ist die französische Kurzbezeichnung für den Ausschuss der Ständigen Vertreter der EU-Länder, der auf Deutsch wiederum die Abkürzung AStV trägt. DSA steht für das Gesetz über Digitale Dienste, ein MdEP ist „Mitglied des Europäischen Parlaments“ und bei der Passerelle-Klausel handelt es sich um ein einfacheres Verfahren, qualifizierte Mehrheitsentscheidungen einzuführen. Ganz einfach, oder?

    ... ein bayerischer Maibaum in Brüssel steht?

    Es regnet in Strömen, als die acht Männer den Maibaum im Innenhof der Bayerischen Vertretung in Brüssel aufstellen. Alphornisten blasen, die Besucher frieren und die Freiwilligen ziehen, wie es der Brauch verlangt, den 16 Meter langen Baum per Hand und gegen den Wind kämpfend in die Senkrechte. Drinnen gibt es Bier, Brezen und Blasmusik. 

    Das Aufstellen des Maibaums hat sich zum fixen Termin im Brüsseler Kalender entwickelt. Damit wolle man „bayerisches Brauchtum und Gastlichkeit präsentieren“, sagte einst Markus Söder, als er die Idee in der Außenstelle etablierte. Ist das der Versuch einer Bajuwarisierung der europäischen Hauptstadt? Tatsächlich gehe es nicht nur darum, ein Schaufenster der Region zu sein, wie es heißt.

    Markus Söder stellte schon im Jahr 2018 in Brüssel einen bayerischen Maibaum auf.
    Markus Söder stellte schon im Jahr 2018 in Brüssel einen bayerischen Maibaum auf. Foto: Sven Hoppe, dpa

    Mit solchen Netzwerk-Veranstaltungen generieren die Bayern – wie auch die anderen 14 Landesvertretungen in Brüssel – Kontakte zu Europaabgeordneten, Kommissionsmitarbeitern, Diplomaten und Vertretern aus Wirtschaft und Kultur. Man könnte auch sagen: Sie arbeiten wie klassische Lobbyisten, nur dass sie den Landesregierungen und schlussendlich dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Es ist der Versuch, auf die politische Willensbildung Einfluss zu nehmen und die jeweils regionalen Interessen gegenüber den EU-Institutionen kundzutun, idealerweise schon vor dem Start des europäischen Gesetzgebungsprozesses.

    Zudem geht es darum, die Staatsregierung in Bayern auf dem Laufenden zu halten und Ansprechpartner zu sein für Unternehmen und Bürger aus der Heimat. Auch in Sachen Empfänge sind die Bundesländer umtriebig. Bayern etwa richtet alle zwei Jahre ein Oktoberfest aus und lockt allein schon wegen des schmucken Anwesens im Herzen des Europaviertels die Mächtigen an. Es wirkt so herrschaftlich, dass die Vertretung bei der Eröffnung scherzhaft „Schloss Neuwahnstein“ getauft wurde.

    ... täglich um Punkt Zwölf Katz und Maus gespielt wird?

    Das werktägliche Katz- und Mausspiel beginnt um 12 Uhr im fensterlosen Pressesaal im Untergeschoss des Berlaymont, Hauptquartier der Europäischen Kommission. Hier Hunderte EU-Korrespondenten, dort die 18 Sprecher der Brüsseler Behörde. Und jedes der beiden Lager verfolgt ein völlig anderes Ziel. 

    Während die Journalisten hoffen, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen und beim Entlocken oft große Kreativität aufwenden, versuchen die Behördenvertreter, mit geschliffenen Floskeln so wenig wie möglich zu sagen. Das Ritual heißt „Midday Briefing“ und gleicht nicht selten einem rhetorischen Gefecht um Info-Krümel.

    Die Sprecher stellen die – aus Sicht der EU-Behörde – wichtigsten Themen oft vor leeren Rängen vor, denn viele Reporterinnen und Reporter verfolgen die Pressekonferenz mittlerweile aus Zeitgründen virtuell. Meist wird zwischen Englisch und Französisch gesprungen, Profis übersetzen simultan. „2 Englisch, 3 Französisch“, informiert die Anzeige neben der Bühne über die Tastenauswahl der Kopfhörer. Nur mittwochs werden weitere Sprachen angeboten.

    Den ganzen Vormittag bereiten sich die Sprecher auf den Schlagabtausch vor. Sie versuchen zu antizipieren, welche Themen aufkommen könnten und legen sich ihre Sätze und Phrasen entlang der offiziellen Linie der Behörde fest. Je vager und komplizierter, desto geeigneter, so scheint jedenfalls die Devise. Dementsprechend groß ist häufig der Frust bei den mehr als 800 akkreditierten Medienleuten auf der anderen Seite. 

    Während Chefsprecher Eric Mamer das „Midday“ als „etwas ganz Besonderes“ und „Zeichen für die Transparenz der Kommission“ preist, schimpfen Journalisten immer wieder über die Abfertigung am Mittag. „Wenn man Hintergründe erfragen will, wird man abgewiesen“, kritisiert etwa Anita Bethig vom Fernsehsender Phoenix. Statt genaueren Informationen erhalte man „auswendig gelernte“ oder „ausgestanzte“ Phrasen. Alles, was gesagt werden dürfe, sei „sehr kontrolliert“, sagt die Fernsehreporterin. 

    Schmerzlich vermisst werden mittags übrigens die britischen Kolleginnen und Kollegen. Während der Brexit-Verhandlungen versuchten sie – teils mit gewohntem Humor, teils mit bissiger Hartnäckigkeit – Informationen aus den Sprechern herauszuquetschen. Das hatte immerhin Unterhaltungswert.

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