Die Ironie dürfte selbst den EU-Spitzen kaum entgangen sein. Ausgerechnet im Schatten der maurischen Alhambra, diesem berührenden Meisterwerk islamischer Kultur, diskutierten die 27 Staats- und Regierungschefs darüber, wie Migranten aus Nordafrika von der Überfahrt nach Europa abgehalten werden können. Zwar hatten sich die EU-Länder nach monatelangem Streit kurz vor dem Start des informellen Gipfels im spanischen Granada endlich auf eine weitreichende europäische Asylreform einigen können. Doch der Ärger einiger Partner hallte nach.
Orbán zu EU-Vorschlag zum Thema Migration: „Wir wurden rechtlich vergewaltigt"
So wütete der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán am Freitag, dass der Vorschlag, der eine Pflicht zur Solidarität mit besonders stark von Migration betroffenen Staaten vorsieht, gegen den Willen von Ungarn und Polen durchgesetzt worden sei. „Wir wurden rechtlich vergewaltigt", schimpfte er. Aus seiner Sicht gebe es deshalb für die nächsten Jahre keinerlei Chance mehr auf Kompromisse und Vereinbarungen in dieser Frage. Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke verlangte deshalb gegenüber unserer Redaktion mehr Mut von Seiten der Union, Orbán Grenzen aufzuzeigen. „Putin-Trolle dürfen nicht die EU blockieren.“
Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte den Kompromiss ebenfalls verurteilt – als „Diktat aus Brüssel und Berlin“. Budapest und Warschau fordern, dass alle Beschlüsse bei Migrationsthemen einstimmig auf Ebene der Staats- und Regierungschefs gefällt werden. Laut EU-Vertrag reicht eine qualifizierte Mehrheit aus, das heißt, es genügt das Ja von 15 Ländern, die für mindestens 65 Prozent der europäischen Bevölkerung stehen. Würden Orbán und Morawiecki die gemeinsame Abschlusserklärung aus Protest blockieren? Um kein Veto zu riskieren, wurde Migration am Ende komplett aus dem Papier herausgestrichen. Die Reform – geleitet vom Gedanken der Abschreckung und Abschottung – sieht zahlreiche Verschärfungen vor, um irreguläre Einwanderung zu begrenzen.
Italiens Regierungschefin Meloni ärgert sich über Deutschland
Gesprächsbedarf mit Bundeskanzler Olaf Scholz schien derweil die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gehabt zu haben. Berlin und Rom hatten der Vereinbarung zwar zugestimmt, waren aber weiterhin uneins über die sogenannte Krisenverordnung, ein zentrales Element der EU-Asylreform. Diese sieht Ausnahmeregeln für Krisenfälle vor, wenn ein Mitgliedstaat etwa einen besonders starken Anstieg der Migration verzeichnet.
Dem Land soll dann erlaubt sein, die haftähnliche Unterbringung zu verlängern und auch bei Menschen aus Staaten mit hoher Anerkennungsquote die geplanten strengen Grenzverfahren anzuwenden. Deutschland gab in der vergangenen Woche seinen Widerstand dagegen auf, nachdem ein Passus eingefügt wurde, laut der Maßnahmen der humanitären Hilfe „nicht als Instrumentalisierung von Migranten betrachtet werden“ sollten. Es geht um die finanzielle Unterstützung Deutschlands für Nichtregierungsorganisationen, die Bootsflüchtlinge an Land bringen. Der rechtsnationalen Regierung in Rom zufolge konterkarieren die Seenotretter jedoch den Kampf gegen irreguläre Migration über das Mittelmeer. Beim Treffen am Freitag verwiesen die beiden Politiker jetzt aber auf die „ausgezeichnete Zusammenarbeit“.
Erweiterung der EU? Im Dezember wird über Beitrittsverhandlungen mit Moldau und der Ukraine entschieden
Die Einigung im Gremium der 27 Mitgliedstaaten ermöglicht nun Verhandlungen mit dem Europaparlament über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems.
Das andere Großthema des Gipfels waren die Erweiterung der Union und die Frage, wie sich die EU reformieren kann. In der Abschlusserklärung bekräftigten die Staats- und Regierungschefs, dass „die Zukunft unserer Beitrittskandidaten und ihrer Bürger in der Europäischen Union liegt“. Im Dezember soll entschieden werden, ob mit Moldau und der Ukraine Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden und ob Georgien den Kandidatenstatus erhält.