Die Nerven lagen am Sonntag blank. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen Mittag zur dritten Verhandlungsrunde über den Wiederaufbau-Fonds und den Haushaltsrahmen eintraf, wählte sie ihre Worte mit Bedacht: „Ob es zu einer Lösung kommt, kann ich nach wie vor nicht sagen... Es kann sein, dass wir heute kein Ergebnis haben.“ Wenige Augenblicke später wurde die Aussage unter der Überschrift „Merkel schließt Scheitern des Gipfels nicht aus“ verbreitet. Postwendend sah sich die deutsche Seite genötigt klarzustellen: Von „Scheitern“ habe Angela Merkel nicht gesprochen. Man war spitzfindig und dünnhäutig geworden.
Bis zum Sonntagabend gab es aber immer noch keine Bewegung bei allen wichtigen Fragen: Die „sparsam“ genannten Regierungen der Niederlande, Dänemarks, Schwedens und Österreichs hatten Verstärkung aus Finnland bekommen. Nun waren es fünf, denen ein Wiederaufbau-Fonds mit 500 Milliarden Euro an Zuschüssen zu viel war – plus 250 Milliarden an Krediten. So sah der ursprüngliche Entwurf von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus. Daran war jedoch nicht zu denken.
Deutschland hätte im ursprünglichen Entwurf 133,3 Milliarden Euro geben müssen
Zwar hatte Mark Rutte, der Premier aus Den Haag, einen wichtigen Teilsieg errungen und einen doppelten Sicherheitsmechanismus zur Kontrolle der Ausgaben durchsetzen können: Demnach dürften die Mitgliedstaaten Zweifel an einzelnen Projekten, die aus dem Fonds finanziert werden, anmelden, was der Europäische Rat sowie die Kommission dann prüfen müssten. „Ein richtiger Schritt in die richtige Richtung“, kommentierte ein niederländischer Diplomat diesen Kompromiss. Das reiche nicht, machte Rutte selbst wieder alle Hoffnung zunichte. Er avancierte zum Buhmann dieses Gipfels.
Als am Samstagabend dann auch noch die Forderung der meisten Mitgliedstaaten nach einer Bindung der Zuwendungen an Rechtsstaatlichkeit wenig überraschenderweise von Polen und Ungarn blockiert wurde, rutschte die Stimmung auf den Nullpunkt. Berichte machten die Runde, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron habe die Anordnung erteilt, seine Präsidentenmaschine für 23 Uhr zum Rückflug startklar zu machen. Er blieb dann doch, wollte wohl Merkel nicht allein lassen und am Ende für ein Scheitern des Gipfels verantwortlich sein.
Denn genau genommen saß nicht nur die Kanzlerin zwischen allen Stühlen, sondern auch der französische Präsident und etliche andere, die deren Positionen unterstützten: Sollten sie auf rechtsstaatlichen Grundsätzen als Kriterium der Geldvergabe bestehen, könnte das Treffen platzen. Dann aber wäre auf der Wiederaufbau-Fonds vorerst nur ein Papiertiger und der Haushalt stünde in den Sternen.
Der Grund für die Schärfe der Auseinandersetzungen wird beim Blick auf eine Tabelle der EU-Kommission deutlich. Diese hatte im Mai ausgerechnet, wer bei einem Aufbau-Fonds in Höhe von insgesamt 750 Milliarden Euro wie viel einzahlen muss und wer auf welche Auszahlungen hoffen kann. Demnach würde Spanien mit 82,2 Milliarden Euro rechnen können. Italien bekäme 56,7 Milliarden. Es folgen Polen und Griechenland. Ungarn erhielte immerhin noch 7,3 Milliarden Euro. Dagegen müsste Finnland 7,7 Milliarden Euro einzahlen, Dänemark sogar 12,2 Milliarden, Österreich 14, Schweden 16,6 und die Niederlande 31 Milliarden Euro. Frankreich und Deutschland hätten den Fonds mit 52,3 Milliarden beziehungsweise 133,3 Milliarden Euro zu füttern, ohne Leistungen zu bekommen.
Probleme bleiben: Diplomaten wollen Gipfel nicht verschieben
Bei Fertigstellung dieses Artikels schien die Lage trotz eines späten Kompromissangebots der „Sparsamen Fünf“ weiter verfahren: Die wollten den Aufbau-Fonds um 50 Milliarden auf 700 Milliarden Euro kürzen. Nur die Hälfte, also 350 Milliarden Euro, waren in ihrem Plan als Zuschüsse ohne Rückzahlung vorgesehen. Der Anteil an Krediten könnte demnach in gleicher Höhe liegen. Aber Rutte war noch nicht zufrieden. Im Namen aller Fünf sprach er sich dafür aus, nicht nur bei den künftigen Haushaltsmitteln, sondern auch bei der Gewährung dieser Pandemie-Hilfen die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze zur Bedingung zu machen.
Damit brachte er den ungarischen Premier Viktor Orbán gegen sich auf, der daraufhin mit einem Veto gegen das Gesamtpaket drohte. Die Blockade erschien kaum überwindbar, weil jede Bewegung immer Widerstand bei irgendjemand anderem bewirkte.
Deswegen rieten Diplomaten zu einer Art Konklave, also Fortsetzung des Gipfels bis zum Durchbruch. Ihr Argument: „Die Probleme wären bei einem weiteren Sondergipfel in einer Woche die gleichen, also können wir es auch jetzt versuchen.“
Tatsächlich wurden am Sonntagabend erneute Beratung am heutigen Montag nicht mehr ausgeschlossen – wie beim legendären EU-Gipfel von Nizza im Jahre 2000. Der gilt als legendär und mit vier Tagen als bisheriger Rekord. Noch.
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