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Davos: Kettensägenmann Javier Milei: Die Ideologie hinter dem vermeintlichen Wirrkopf

Davos

Kettensägenmann Javier Milei: Die Ideologie hinter dem vermeintlichen Wirrkopf

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    Argentiniens Präsident Javier Milei machte beim Weltwirtschaftsforum in Davos Schlagzeilen.
    Argentiniens Präsident Javier Milei machte beim Weltwirtschaftsforum in Davos Schlagzeilen. Foto: Markus Schreiber, dpa

    Wo er auftritt, sorgt der seit Dezember amtierende argentinische Präsident Javier Milei für Aufsehen. Das hat der energiegeladene Mann mit der Sturmfrisur gerade wieder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos unter Beweis gestellt. Dort sagte er, der Westen sei in Gefahr, weil sich die freie Welt vom Sozialismus habe vereinnahmen lassen. Weiter erklärte er der versammelten Polit- und Unternehmerelite, dass soziale Gerechtigkeit "von Natur aus ungerecht" sei. Er wetterte gegen den Feminismus, der nur dazu diene, eine parasitäre Bürokratie zu schaffen, und bezeichnete Umweltschutz als eine neomarxistische Agenda. Doch der Argentinier ist kein wirrer Populist, er ist überzeugter Anhänger der libertären Ideologie. 

    Was besagt die libertäre Idee?

    Libertarismus ist im 18. Jahrhundert entstanden. Er sieht, anders als der Liberalismus, allein in der Freiheit den wichtigsten gesellschaftlichen Wert, dem alle anderen aufklärerischen Ideale wie Brüderlichkeit und Gleichheit untergeordnet werden müssen. Libertäre versuchen, individuelle Autonomie und politische und wirtschaftliche Freiheit zu maximieren. Sie sind antiautoritär; der Staat als Apparat und seine Gesetze und Regulierungen sind ihnen suspekt. Sie stehen daher im ideologischen Spektrum eher den Anarchisten nahe als klassischen, demokratischen Liberalen. Inzwischen ist die Bewegung näher an faschistische Ideologien gerückt, die sie ursprünglich bekämpfen wollte.

    Wie wurde die Idee verbreitet?

    Der moderne Libertarismus speist sich aus dem Neoliberalismus in der Wirtschaftswissenschaft. Dieser hat seine Wurzeln im 20. Jahrhundert und ist eine Gegenreaktion auf den Zweiten Weltkrieg und die totalitäre Erfahrung in Europa. Ihr bekanntester Theoretiker, der Österreicher Friedrich von Hayek, glaubte, mit der Stärkung des Individuums und der freien Wirtschaft könne man ein Bollwerk schaffen gegen totalitäre Versuchungen. Er gründete 1947 in der Schweiz die Mont Pelerin Gesellschaft, der Akademiker, Unternehmer und Journalisten angehörten. Sie beschlossen, zukünftige Generationen von wirtschaftsliberalen Ideen zu überzeugen. Es war die Geburtsstunde der neoliberalen Denkfabriken. Eine der ersten war das 1955 in Großbritannien entstandene Institute of Economic Affairs (IEA).

    Wie arbeiteten diese Denkfabriken?

    Die Institute wurden erst belächelt und wenig ernst genommen. Der Gründer des IEA, Antony Fisher, entstammte einer reichen Bergbaufamilie aus Großbritannien. Er steckte einen Teil seines Vermögens, das er aus Legehennen-Batterien gewonnen hatte, in das Institut. Seine Ökonomen publizierten Studien, die darlegten, weshalb Steuererleichterungen für Konzerne positiv seien und begründet dies unter anderem mit dem Trickle-Down-Effekt, der von Thomas Piketty inzwischen widerlegten Idee, die besagt, dass eine Reichtumsvermehrung der obersten Schichten automatisch nach unten durchsickere.

    Wer finanzierte diese Studien?

    In den Siebzigerjahren entdeckten Erdölmultis wie Shell und BP die libertären Thinktanks, wie der australische Klimaforscher Jeremy Walker herausgefunden hat. Damals hatte die Diskussion über den Klimawandel begonnen, und die Erdölfirmen gerieten unter Druck. Die neoliberalen Denkfabriken halfen den Ölmultis, die öffentliche Debatte zu manipulieren und ihre Profitinteressen über Dritte, vermeintlich unparteiische Akteure in der Welt zu verbreiten. Medien griffen diese Debatten und Studien auf, die Zweifel am Klimawandel schürten. 

    Wie und wo fanden diese Ideen dann Eingang in die Politik?

    Vorreiter war Chile nach dem Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1973. Damals, zum Höhepunkt des Kalten Krieges, fand ein geopolitischer Machtkampf zwischen dem Kommunismus und den USA statt. Der neue chilenische Machthaber, General Augusto Pinochet, wollte den Chicago Boys, chilenische Schüler des neoliberalen Ökonomen Milton Friedman, der in Chicago lehrte. Kernstück ihrer Politik waren Privatisierungen auch des Bildungs-, Gesundheits- und Rentenwesens. 1981 entstand in den USA unter Mitwirkung von Antony Fisher das libertäre Atlas-Netzwerk. Ziel war, die Ideologie weltweit zu verbreiten. 

    Wie groß und einflussreich ist das Netzwerk inzwischen?

    Derzeit gehören dem Netzwerk über 500 Denkfabriken in über 90 verschiedenen Ländern an, darunter das Fraser-Institut in Kanada, die Heritage Foundation in den USA und die UK Independence Party von Nigel Farage, der ein wichtiger Strippenzieher hinter dem Brexit war. Hinter dem Koch-Brüder, die Tabak- und Bergbauindustrie oder Pressemagnaten wie Rupert Murdoch. In Deutschland gehört das Freiheitsinstitut Prometheus zum Atlas-Netzwerk. Gegründet wurde es vom FDP-Abgeordneten Frank Schäffler, der sich als "Klimaskeptiker" bezeichnet.

    Was ist der Haken an den libertären Ideen?

    Sie vernachlässigen wichtige Pfeiler des gesellschaftlichen Zusammenhalts, wie Solidarität und Gleichheit vor dem Gesetz. Damit werden Demokratie und Rechtsstaat untergraben. Libertäre verteidigen einseitig Interessen von Reichen, etwa die Schaffung von Steuerparadiesen und die Freigabe von Ländern im globalen Süden für die rücksichtslose Ausbeutung von Bodenschätzen. Milei sieht in seinem neuen Gesetzespaket eine Beschneidung des Demonstrationsrechts vor. Sozialhilfeempfängern drohen Kürzungen, wenn sie sich gegen die Regierung auflehnen. Wer Straßen blockiert, muss mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen. 

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