Der Herbst hat gerade begonnen, als Angela Merkel eine düstere Prognose wagt. Am 29. September tritt die Bundeskanzlerin in Berlin vor die Presse, hinter ihr liegen Beratungen mit den Ministerpräsidenten zur Corona-Krise. Es ging um Obergrenzen für Feiern, um Bußgelder und Falschangaben in Restaurants. Die Kanzlerin will nun eine Botschaft loswerden, die an diesem Tag geradezu alarmistisch erscheint: 19.200 Menschen könnten sich zu Weihnachten täglich mit dem Virus anstecken, wenn die Infektionszahlen sich so weiterentwickelten. „Ich habe das mal ausgerechnet“, sagt Merkel, die Wissenschaftlerin. „Wenn das in den nächsten drei Monaten Oktober, November, Dezember weiter so wäre, dann würden wir von 2400 auf 4800, auf 9600, auf 19.200 kommen.“
Einige Kommunen in Nordrhein-Westfalen haben zu diesem Zeitpunkt den Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner überschritten. Aber fast 20.000 Infektionen an einem Tag in Deutschland? Das will kaum einer glauben.
Vier Wochen später sitzt die Bundeskanzlerin wieder mit den Ministerpräsidenten zusammen, wieder geht es um die Corona-Krise, die Zahl der Neuinfektionen liegt bei fast 15.000 am Tag. Am Ende steht der Beschluss: Deutschland fährt runter, ein zweiter Lockdown wird verhängt, diesmal begrenzt. Wie konnte es so weit kommen? Ein Rückblick auf die vergangenen vier Wochen.
30. September
Während der Generaldebatte im Bundestag wendet die Bundeskanzlerin sich mit einem ungewöhnlich emotionalen Appell an die Bevölkerung. „Geben wir alle als Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft wieder mehr aufeinander acht“, bittet die CDU-Politikerin. Sie erlebe aktuell, dass die Vorsicht der Menschen nachlasse. „Wir riskieren gerade alles, was wir in den letzten Monaten erreicht haben.“
2. Oktober
Das Robert-Koch-Institut verzeichnet mehr als 2600 Corona-Neuinfektionen und damit den höchsten Wert seit April. In den USA wird Hope Hicks, Beraterin von Donald Trump, positiv auf das Coronavirus getestet. Der US-Präsident und seine Frau Melania begeben sich in Quarantäne. Kurz darauf wird bekannt: Auch die beiden haben sich einen Monat vor der US-Wahl mit dem Virus infiziert. Noch am selben Tag wird Trump in ein Militärkrankenhaus gebracht.
7. Oktober
Zum Start der Herbstferien erlässt Bayern ein Beherbungsverbot für Reisende aus innerdeutschen Corona-Hotpots. Ministerpräsident Markus Söder nennt den Schritt eine notwendige „Sicherheitsmaßnahme“ – sowohl für die Touristen als auch die Gastronomie. Frankreich erreicht einen neuen Höchststand bei den Corona-Infektionen. In Deutschland spricht die Bundesregierung von einer „diffusen Verbreitung“ des Virus. „Wir haben sprunghaft ansteigende Zahlen, insbesondere in einigen deutschen Großstädten“, betont Regierungssprecher Steffen Seibert. Fälle seien nicht mehr einem „einzelnen Infektionsgeschehen zuzuordnen“.
8. Oktober
Die Zahl der Corona-Neuninfektionen steigt in Deutschland sprunghaft an. Das Robert-Koch-Institut verzeichnet 4058 positiv getestete Menschen. Das sind 1200 mehr als am Vortag. Die Nervosität wächst – und doch gelten die Deutschen noch immer als Vorbilder in der Krise. In Großbritannien blickt der Guardian fasziniert nach Deutschland als das Land des regelmäßigen Lüftens: Berlin-Korrespondentin Kate Connolly erläutert den Unterschied zwischen „Stoßlüften“ und „Querlüften“. Lüften gilt als ein Baustein in der deutschen Strategie gegen die Ausbreitung des Coronavirus.
9. Oktober
Die Weltgesundheitsorganisation meldet erstmals mehr als 100.000 Neuinfektionen an einem Tag in Europa. Berlin führt eine Sperrstunde von 23 bis 6 Uhr morgens ein. Draußen dürfen sich vorerst nur noch fünf Menschen oder Personen aus zwei Haushalten treffen. Frankreich verzeichnet erstmals fast 27.000 neue Corona-Fälle.
12. Oktober
Das Innenministerium schließt nicht aus, dass es wieder zu Kontrollen an den deutschen Grenzen kommen könnte. Man beobachte in angrenzenden Ländern teils eine "sehr starke Steigerung" der Fälle, sagt ein Sprecher, betonte aber auch: "Wir versuchen, mit diesen Maßnahmen das Notwendige sicherzustellen ohne über andere Maßnahmen an den Grenzen nachdenken zu müssen." In Großbritannien kündigt Premierminister Boris Johnson ein Drei-Stufen-System an, mit dem das Virus wieder unter Kontrolle gebracht werden soll. Einen Lockdown wie im Frühjahr wolle er aber um jeden Preis verhindern.
13. Oktober
In Augsburg wird der Grenzwert von 50 Neuinfektionen in sieben Tagen überschritten. Die Stadt verkündet eine Maskenpflicht im Freien für Teile der Innenstadt. Gleichzeitig dürfen sich nur noch fünf Personen oder Menschen aus zwei Haushalten treffen. Österreich und die Schweiz melden erneut Rekordwerte bei den Corona-Infektionen. Das Wiener Gesundheits- und Innenministerium zählt 1346 neue Fälle, in der Schweiz und Liechtenstein sind es 2823 und damit doppelt so viele wie am Vortag. In Frankreich verkündet Präsident Emmanuel Macron Ausgangssperren für Paris und weitere große Städte. Großbritannien zählt fast 20.000 Neuinfektionen an einem Tag.
15. Oktober
In Deutschland steigen die Corona-Zahlen wieder deutlich an. Die Gesundheitsämter melden nach Angaben des Robert Koch-Instituts 6638 Neuinfektionen – rund 1500 mehr als am Vortag. Bayerns Ministerpräsident Söder erlässt neue, schärfere Corona-Vorschriften: Steigt der Sieben-Tage-Inzidenzwert auf mehr als 50, dürfen sich nur noch zehn Personen zu privaten Feiern treffen – egal, ob sie drinnen oder draußen.
16. Oktober
Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus nimmt zu. 43 Prozent der Menschen in Deutschland geben in einer YouGov-Umfrage an, "sehr große" oder "eher große Angst"; im Juli waren es 40 Prozent gewesen. In Berlin kippt das Verwaltungsgericht die vom Senat beschlossene Sperrstunde. Aus Sicht der Richter gibt es keine überzeugende Begründung für die Schließung der Gaststätten um 23 Uhr.
17. Oktober
Ein Personenschützer von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird positiv auf das Coronavirus getestet. Steinmeier begibt sich in Quarantäne, ein erster Corona-Test ist negativ. Bundeskanzlerin Angela Merkel wählt in ihrer wöchentlichen Videobotschaft dramatische Worte: „Wir müssen jetzt alles tun, damit das Virus sich nicht unkontrolliert ausbreitet. Dabei zählt jetzt jeder Tag“, sagt die CDU-Politikerin und bittet: „Verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend notwendig ist, auf jede Feier, die nicht wirklich zwingend notwendig ist. Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause, an Ihrem Wohnort.“
19. Oktober
Die Corona-App warnt jetzt auch länderübergreifend vor Ansteckungen mit dem Coronavirus. Im ersten Schritt tauschen die Apps aus Deutschland, Irland, und Italien Daten aus. In Bayern verzeichnen mehr als die Hälfte aller Landkreise und kreisfreien Städte Inzidenzwerte über 35 beziehungsweise 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen. Ministerpräsident Markus Söder warnt vor den Folgen der massenhaften Verbreitung des Coronavirus: "Entweder schaffen wir es, in den nächsten vier Wochen wieder die Zahlen unter Kontrolle zu bekommen - oder es wird sehr schwierig", betont der CSU-Chef. "Dann wird es ein einsames Weihnachten."
20. Oktober
Der Landkreis Berchtesgadener Land geht als erste Region wieder in einen Lockdown. Die Einwohner dürften das Haus nur noch mit einem triftigen Grund verlassen, Restaurants schließen, Hotels müssen Urlaubsgäste ausquartieren. Hunderte Touristen reisen überstürzt ab. Die Sieben-Tage-Inzidenz in dem Landkreis liegt zu diesem Zeitpunkt bei 272,8. In München wird Serge Gnabry, Fußball-Nationalspieler und Offensivspieler des FC Bayern, positiv auf das Coronavirus getestet. Dem 25-Jährigen "geht es gut", heißt es in einer knappen Mitteilung des Vereins.
21. Oktober
Bundesgesundheitsminister Spahn gibt bekannt, dass er positiv auf Corona getestet wurde. Der CDU-Politiker tagte noch vor dem Schnelltest mit den Mitgliedern des Bundeskabinett. Alle Anwesenden lassen sich vorsorglich untersuchen, keiner der Kabinettsmitglieder wird positiv auf das Coronavirus getestet. Ministerpräsident Markus Söder führt auf der bayerischen Corona-Ampel eine neue Farbe ein: dunkelrot, die ab dem Inzidenzwert von 100 gelten soll. Überschreitet eine Region diesen Wert, gelten strengere Regeln.
22. Oktober
Mehrere Länder in Europa ergreifen harte Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus. In Tschechien schließen fast alle Geschäfte. Irland ruft alle Beschäftigten auf, wenn möglich im Homeoffice zu arbeiten. Geschäfte sind geschlossen, Treffen bis auf wenige Ausnahmen untersagt. Die italienische Region Lombardei, die schon im Frühjahr stark von der Pandemie betroffen war, verhängt nächtliche Ausgangssperren. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, geht davon aus, dass das Coronavirus sich in Deutschland zu diesem Zeitpunkt regional unkontrolliert ausbreiten kann. Das RKI verzeichnet 11.287 neue Corona-Fälle - und damit erstmals mehr als 10.000.
23. Oktober
In den USA melden die Forscher der Johns-Hopkins-Universität mehr als 70.000 Corona-Neuinfektionen an einem Tag. Polen schließt alle Restaurants, Rom sperrt beliebte Plätze am Wochenende für Besucher. In Berlin berichtet Regierungssprecher Steffen Seibert, dass die Gesundheitsämter in mehreren deutschen Städten überlastet seien und Kontakte von Corona-Infizierten nicht mehr nachvollziehen könnten.
25. Oktober
FC-Bayern-Spieler Gnabry darf die Quarantäne wieder verlassen. Nach seinem positiven Ergebnis war er zwei Mal negativ getestet worden. Das Münchner Gesundheitsamt geht davon aus, dass der positive PCR-Test vom vergangenen Dienstag falsch-positiv war. Das Robert-Koch-Institut meldet rund 14.700 neue Corona-Infektionen - so viele wie noch nie seit Beginn der Pandemie. In Bayern überschreiten 20 Städte und Kreise den kritischen Wert von 100 Neuinfektionen binnen sieben Tagen, unter anderem Stadt und Landkreis Augsburg, der Kreis Donau-Ries und Memmingen.
26. Oktober
In Augsburg gibt es fast nur noch ein Thema: Kommt ein Lockdown in der Stadt? Der 7-Tage-Inzidenzwert überschreitet den Wert von 200. „Die Lage ist ernst“, sagt Oberbürgermeisterin Eva Weber. Im Kreis Rottal-Inn stellt man sich diese Frage nicht mehr. Der niederbayerische Landkreis geht als zweite Region im Land in den Lockdown.
27. Oktober
Bundeskanzlerin Angela Merkel zieht die für Freitag angesetzten Beratungen von Bund und Ländern um zwei Tage vor. In Spanien tritt eine nächtliche Ausgangssperre in Kraft, in ganz Italien schließen Bars und Restaurants um 18 Uhr. Auch Kinos, Theater, Fitnessstudios, Bäder, Skiresorts und Konzerthallen dürfen nicht mehr öffnen.
28. Oktober
Vertreter des Bundes treffen sich zu Beratungen mit den Ministerpräsidenten. Schon am Vorabend hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Telefonschalte versucht, die Politiker von ihrem Kurs zu überzeugen. Am Nachmittag dringen immer mehr Meldungen aus den Beratungen an die Öffentlichkeit. Am Abend ist klar: Von November an fährt Deutschland das öffentliche Leben wieder deutlich herunter.
Erfahren Sie hier, welche Regeln ab Montag gelten: Massive Einschränkungen: Diese Corona-Regeln gelten ab 2. November
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