Auf den ersten Blick könnten die Hauptdarsteller im Corona-Horrorfilm unterschiedlicher kaum sein. Da ist auf der einen Seite Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch-Instituts. Meistens ernst und immer sehr eng an den Fakten orientiert, arbeitet er sich seit Monaten an der Pandemie ab und verzweifelte nicht selten an der Politik. Nach der Bundestagswahl hat er da einen Ansprechpartner bekommen, der quirlig durch die Medien mäandert und es mit den Fakten manchmal ein wenig übertreibt. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach verkörpert einen anderen Politiker-Typus als sein Vorgänger Jens Spahn (CDU), Wieler muss sich umstellen. Die ersten Tage ihrer Zusammenarbeit zeigen indes, dass beide zu Abstrichen bereit und um Annäherung bemüht sind.
Was die Titel angeht, hat Wieler schon mal die Nase vorn. „Prof. Dr. Dr. h.c. mult.“ darf der 60-Jährige seinem Namen voranstellen. Lauterbach kommt auf ein „Prof. Dr.“ und hat in der täglichen Arbeit Nachholbedarf. Der SPD-Politiker kommentierte das Corona-Geschehen bislang von der Seitenlinie. Seit er Minister ist, zählt seine Einzelmeinung nur noch wenig. Der 58-Jährige, dessen Beruf auf der Internetseite seines Ministeriums mit „Universitätsprofessor“ angegeben wird, muss die Haltung der gesamten Bundesregierung vertreten. Da ist Zurückhaltung gefragt, seine private Homepage hat der Dürener offenbar abgeschaltet, seine Bemerkungen auf Twitter sind weniger und moderater im Ton geworden. Dem in zahlreichen Auftritten vor der Bundespressekonferenz gestählten Wieler kommt das entgegen.
Wieler wollte nicht in die erste Reihe
Vor Weihnachten lieferten sich die beiden Leitfiguren einen viel beachteten Showdown. Wieler hatte sich vor den Bund-Länder-Beratungen zu Corona mit Empfehlungen an die Öffentlichkeit gewandt, die weit über die Beschlussvorlage der Politik hinausgingen. Sein Vorstoß war nicht mit Lauterbach abgestimmt, Kanzler Olaf Scholz (SPD) reagierte angesäuert. Zum Eklat ließen es Wieler und Lauterbach dennoch nicht kommen. „Hier kam erstmal die Frage, ob ich zu Herrn Wieler noch stehe", sagte Lauterbach vor der Hauptstadtpresse. „Das lässt sich leicht beantworten: Sonst säße er hier nicht." Wieler nahm den Ball geschickt auf: „Sie sitzen aber auch momentan." Lauterbach quittierte es lächelnd.
Anders als der zunächst omnipräsente Virologe Christian Drosten hat sich Wieler nicht in die erste Reihe gedrängt. „Diese Rolle habe ich tatsächlich nicht aktiv gesucht, aber sie hat sich so ergeben. Es ist sinnvoll, dass in einer solchen Situation in der Öffentlichkeit politische Entscheidungsträger und deren wissenschaftliche Berater Seite an Seite auftreten“, sagte er im Interview mit der Apotheken Umschau. In zwei Jahren Pandemie hat Wieler deutlich gemacht, dass er dabei mehr sein will als ein Stichwortgeber. Mehrfach beschwerte er sich öffentlich, dass die Politik nicht ausreichend auf die Empfehlungen seines Instituts reagiert habe. „Wir sind trotz massiver Warnungen in eine fulminante vierte Welle hineingeraten. Also sehenden Auges? Ja“, bekräftigte er in dem Interview. Schon im Juli habe das RKI eine Modellierung veröffentlicht, die genau das vorausgesagt habe.
Der Glaube gibt Wieler Kraft
Dem Lauterbach’schen Naturell dürfte dieses Selbstbewusstsein entgegenkommen. Frühere Weggefährten erinnern sich mit einem Schmunzeln an „den Karl“, als er 2005 erstmals in den Bundestag einzog. Lauterbach habe damals die Private Krankenversicherung als unsolidarisch gebrandmarkt, er setzte sich später folgerichtig für eine Bürgerversicherung im Gesundheitswesen ein, die das Zwei-Klassen-System zwischen gesetzlich und privat Versicherten aufheben sollte. Das ehemalige CDU-Mitglied bürstete oft SPD-Positionen gegen den Strich, es ging ihm wohl nicht selten um den Showeffekt. Das Schalkhafte hat Lauterbach zwar grundsätzlich abgelegt, wie seine Fliege. Ab und an blitzt es aber noch auf, und das hat er mit Wieler gemein. Der RKI-Chef ist nur meistens ernst – in den letzten Pressekonferenzen mit Jens Spahn an seiner Seite wirkte er oft nahezu versteinert – manchmal aber zieht ein feines Lächeln über sein Gesicht. Bei allzu unkundigen Journalistenfragen etwa, oder eben bei gemeinsamen Auftritten mit Lauterbach.
Im Corona-Stress hat Wieler der Glaube Kraft gegeben. „Mir hilft sicher ein gesundes christliches Menschenbild, aber insbesondere meine Familie und mein Freundeskreis. Ohne ein stabiles Umfeld, auch beruflich, ist es natürlich schwer, so eine Krise durchzustehen“, sagte der Katholik, der verheiratet und Vater von zwei Töchtern ist, der Apotheken Umschau. Lauterbach trat unter dem Eindruck der Fälle von sexuellem Missbrauch aus der katholischen Kirche aus, hat aber nicht ausgeschlossen, wieder einzutreten. Man sollte die Suche nach Gemeinsamkeiten nicht übertreiben, gleichwohl mag es auch hier ein Band geben, das die beiden Entscheider verbindet.
Vor allem jedoch schweißt der Druck der Corona-Pandemie Wieler und Lauterbach zusammen. Am Mittwoch beklagte der Minister eine „Untererfassung“ der Corona-Infizierten. Die tatsächliche Corona-Inzidenz sei „zwei bis drei Mal so hoch“ wie die ausgewiesenen Zahlen. Lauterbach rief die Bevölkerung auf, vorsichtig zu sein und sich zu Silvester allenfalls in kleinen Gruppen zu treffen. Das ging nicht nur in die gleiche Stoßrichtung, die Wieler vorgegeben hatte. Lauterbachs Appell geriet nahezu wortgleich.