Es war sein letzter Auftritt in dieser Runde. Doch zum Abschied hat Jens Spahn alles andere als eine frohe Botschaft. An Weihnachten erwarte er einen „traurigen Höhepunkt“ der Corona-Pandemie, sagte der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister bei seiner regelmäßigen Pressekonferenz mit dem RKI-Chef Lothar Wieler. Selbst wenn die in dieser Woche beschlossenen Gegenmaßnahmen schon morgen volle Wirkung zeigten, werde die Belastung der Krankenhäuser weiter ansteigen. Bis zum Fest drohe die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen den Wert von 5000 deutlich zu übersteigen, warnte der CDU-Politiker. Er bitte nun jeden Einzelnen: „Helfen Sie mit, weiteres Leid zu verhindern.“ Es komme jetzt darauf an, dass alle Bürger die Auflagen einhalten und ihre Kontakte reduzieren. Unter anderem mit der 2G-Regel im Einzelhandel, Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte und einer Maskenpflicht für alle Schulen wollen Bund und Länder die Ausbreitung des Virus bremsen.
Jens Spahn will gegen eine Impfpflicht stimmen
Spahn rechtfertigte die umfassenden Beschränkungen für Ungeimpfte, die auf der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen wurden. „Wären alle erwachsenen Deutschen geimpft, steckten wir nicht in dieser schwierigen Lage“, sagte er. Der Anteil Ungeimpfter an Infizierten und Intensivpatienten sei um ein Vielfaches höher als der, der Geimpften. Zwischen den Zeilen so etwas wie Selbstkritik: „Wir hätten viel früher diese Konsequenz im Umgang mit ungeimpften Bürgerinnen und Bürgern an den Tag legen müssen. Denn sie treffen ihre Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, eben nicht nur mit Folgen für sich selbst.“ Wer immer noch hadere, solle sich umgehend impfen lassen. Denn bereits jetzt müssten Intensivpatienten mit der Luftwaffe im Bundesgebiet verteilt werden.
Was eine mögliche allgemeine Impfpflicht angehe, habe er dagegen weiter eine „grundsätzlich sehr skeptische Haltung“. Spahn hatte im Verlauf der Pandemie mehrfach betont, eine Impfpflicht werde es nicht geben. Er habe sein Wort gegeben. „Das wird auch mein Abstimmungsverhalten bestimmen.“ Der Bundestag soll demnächst über die Einführung einer Corona-Impfpflicht entscheiden, dabei sollen die Abgeordneten ohne Fraktionszwang entscheiden. Der designierte Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich zuletzt für eine Impfpflicht ausgesprochen. Selbst der lange skeptische FDP-Chef Christian Lindner „tendiert“ nach eigenen Angaben inzwischen dazu.
Nach seiner eigenen Verantwortung für die hohen Infektionszahlen gefragt, konterte Spahn: „Kontaktbeschränkungen können nur die Länder beschließen.“ Er habe stets klar den Ernst der Lage benannt. Vor ein paar Wochen schon habe er gesagt, es sei „fünf nach zwölf“ und seine Warnungen später noch weiter gesteigert, auf „zehn nach zwölf“ und schließlich sogar „halb eins“. Doch geschehen sei lange nichts. Darum sei es umso wichtiger, dass die nun beschlossenen Regeln auch streng eingehalten würden.
RKI-Chef Wieler warnt: Noch könne man nicht von einer Trendumkehr sprechen
Lothar Wieler warnte davor, angesichts der momentan nicht weiter steigenden Corona-Zahlen schon von einer Trendumkehr zu sprechen. Dafür sei es viel zu früh. In manchen Bundesländern griffen bereits die verschärften Corona-Maßnahmen, doch in anderen Regionen seien die Gesundheitsämter völlig überlastet und kämen mit dem Melden der Neuinfektionen gar nicht mehr hinterher. Die neue Corona-Variante Omicron sorge für zusätzliche Unsicherheit, "sie könnte ansteckender sein und Geimpfte und Genesene leichter infizieren", so Wieler.
Laut RKI gibt es derzeit in Deutschland fast eine Million aktiver Corona-Fälle. Das heißt, dass mehr als ein Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infiziert ist – mindestens. Denn weil viele Fälle unentdeckt blieben, sei die tatsächliche Zahl womöglich bis zu dreimal so hoch. „Ohne das alle Menschen einen Immunschutz haben, werden wir es sehr, sehr schwer haben, diese Pandemie zum Stillstand zu bringen“, sagte Wieler.
Wieler weiß noch nicht, ob er Spahn vermissen wird
Für Spahn war es voraussichtlich der letzte gemeinsame Auftritt mit Wieler. In der kommenden Woche soll die neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP vereidigt werden. Das Gesundheitsressort geht an die SPD, wer es übernimmt, ist bislang noch nicht bekannt. Er werde die Zusammenarbeit mit dem RKI-Chef vermissen, sagte Spahn. Es seien „stressreiche 18 Monate“ gewesen, so der CDU-Politiker über die Zeit seit dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland: „Wir haben manches Mal miteinander diskutiert, aber immer eine Lösung gefunden.“ Ob Wieler umgekehrt auch Spahn vermissen wird? Darauf antwortet Wieler eher nüchtern: „Das wird man sehen.“ Man vermisse etwas ja erst dann, wenn man es nicht mehr habe.
Überhaupt dürfte für Wieler eher die Pandemie im Mittelpunkt stehen - und die Frage: Reichen die Beschlüsse, die von den Ministerpräsidenten und dem Kanzleramt gefasst wurden? Zumindest bei den Intensivmedizinern ist man hoffnungsvoll. „Es ist wichtig und richtig, dass nun bundeseinheitliche Maßnahmen und Grenzwerte beschlossen worden sind“, sagt Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). „Die Beschlüsse der MPK, bundeseinheitlich 2G für den Einzelhandel und Kultur einzuführen sowie Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte und Maskenpflicht für alle Klassenstufen in Schulen einzuführen, hat aus Sicht der Intensiv- und Notfallmediziner das Potenzial, die aktuelle Entwicklung der Pandemie entscheidend zu verändern.“ Und dennoch schaut Marx mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Die Auswirkung der jetzt beschlossenen Maßnahmen werde erwartbar – wie bereits vor einem Jahr geschehen – rund um den Jahreswechsel die Zahl der intensivpflichtigen Covid-Patienten reduzieren. Entsprechend sinke auch die Belastung für Mediziner und Pflegekräfte. „Ein neues Allzeithoch rund um Weihnachten ist aber unvermeidbar“, so die Prognose der DIVI.
Bayerische Krankenhäuser: Höchststand der Intensivbelegung noch nicht erreicht
Auch Roland Engehausen, Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft (BKG), gibt noch keine Entwarnung. „Wir haben noch nicht den Höchststand der Intensivbelegung in Bayern“, sagt er. Selbst wenn ab jetzt die Infektionszahlen sinken, würden noch zwei bis vier Wochen eine hohe Zahl an Corona-Patienten im Nachlauf eingeliefert werden. Engehausen findet es gefährlich, schon jetzt von einer gebrochenen Welle zu sprechen. „Dafür ist es zu früh“, sagt er. Auch nach stagnierenden Zahlen könne die Anzahl der Infektionen wieder steigen. Die neuen Regeln unterstützt der Geschäftsführer der BKG. „Für uns ist erst mal wichtig, dass die Politik wieder an einem Strang zieht und den Ernst der Lage erkennt.“
Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt hingegen fordert, dass auch für Geimpfte und Genesene bundesweit verpflichtend in Bars, Restaurants sowie für Sport und Kulturveranstaltungen in Innenräumen das strengere 2G plus gelten sollte – dann müsste zusätzlich auch noch ein Test vorgelegt werden.
Tatsächlich geht Baden-Württemberg nun einen zusätzlichen Schritt. Unter anderem muss künftig für den Restaurantbesuch ein negativer Corona-Test vorgewiesen werden, auch wenn die Gäste geimpft oder genesen sind. Damit geht das Bundesland über die MPK-Beschlüsse hinaus.