Er war gestartet als der Arzt, dem die Deutschen vertrauen, jetzt steckt Karl Lauterbach tief in der Krise. Die Fallhöhe ist enorm: Nach dem gelernten Bankkaufmann Jens Spahn (CDU) sollte der Medizinprofessor als Bundesgesundheitsminister endlich den Weg aus dem Corona-Schlamassel weisen.
Alle Hoffnungen einer pandemie-müden Bevölkerung ruhten auf dem Mann, der in den vergangenen fast zwei Jahren in ungezählten Talkshows stets den Eindruck vermittelte, ganz genau zu wissen, was zu tun wäre, um den gefährlichen Covid-19-Erreger zu besiegen. Der SPD-Politiker, damaliges Markenzeichen Fliege um den Kragen, sparte nie mit drastischen Warnungen, die sich häufig als zutreffend erwiesen. Säße er erst an den Schalthebeln der staatlichen Pandemie-Politik, dann wüsste er nicht nur, was, richtig wäre, er würde es auch tatsächlich tun - glaubten viele Menschen im Land.
So konnte Bundeskanzler Olaf Scholz gar nicht anders, als den etwas kauzig wirkenden Genossen in sein Kabinett zu berufen, der ursprünglich nicht seine erste Wahl gewesen sein soll. Doch dass es im Gesundheitsministerium wenig zu gewinnen und viel zu verlieren gibt, deutete sich schon an, als die Ampel-Partner, die Grünen und die FDP, sich nicht gerade um das Haus neben der Revuebühne Friedrichstadtpalast in Berlin-Mitte rissen. Die undankbare Aufgabe ging an Lauterbach. Doch nach gut 100 Tagen im Amt steckt er derart in der Klemme, dass es auch für Scholz immer peinlicher wird.
Karl Lauterbach: Die Macht an die Länder verloren, die sie gar nicht wollen
Durch den russischen Angriff auf die Ukraine ist die Corona-Pandemie zwar in der Aufmerksamkeit deutlich nach hinten gerückt, doch ausgestanden ist sie mitnichten. Die Infektionszahlen sind im März auf Rekordhöhen geklettert, auch wenn durch die mildere Omikron-Variante keine Überlastung der Krankenhäuser droht. Doch ausgerechnet jetzt hat die Bundesregierung mit dem neuen Infektionsschutzgesetz praktisch alle weitreichenden Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung aufgegeben.
Die Verantwortung liegt nun nicht mehr bei Lauterbach und dem Bund, sondern bei den 16 Bundesländern, die sich über alle Parteigrenzen hinweg einig sind, dass das neue Gesetz zu vage und kaum praktikabel ist. Allen Beteiligten ist klar, dass Lauterbach das so nicht wollte, sondern das Heft des Handelns nur um des lieben Koalitionsfriedens willen aus der Hand gegeben hat. Denn die FDP hatte schon recht früh in der Pandemie die Rolle des Kritikers tiefer staatlicher Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte zum Infektionsschutz eingenommen. Vor einigen Wochen, als noch vieles auf eine Entspannung der Infektionslage im Frühling hindeutete, wurden innerhalb der Koalition die Weichen für ein Auslaufen der meisten Maßnahmen gestellt. Im Kabinett setzte sich dabei Justizminister Marco Buschmann von der FDP auf fast ganzer Linie durch.
Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet
Am Freitag beschloss der Bundestag mit Ampel-Mehrheit das neue Infektionsschutzgesetz, das vielen angesichts explodierender Inzidenzen nun zu zahnlos ist. Tenor im politischen Berlin: Lauterbach ist als entschlossener Corona-Tiger abgesprungen, um als Bettvorleger der Liberalen zu landen. Auch in der Opposition ist der Spott groß.
Der Arzt und CSU-Bundestagsabgeordnete Stephan Pilsinger sagte unserer Redaktion: "Die FDP hat Lauterbach erpresst, so dass er jetzt gegen seine eigene Überzeugung handeln muss." Hinter vorgehaltener Hand wird diese Einschätzung selbst im Regierungslager geteilt. Lauterbach habe die bittere Pille aus Koalitionsräson schlucken müssen, heißt es. Ähnlich verhalte es sich bei der allgemeinen Impfpflicht ab 18 Jahren, die Lauterbach erklärtermaßen für unverzichtbar hält, um der Pandemie ein für alle Mal ihren Schrecken zu nehmen. Doch Teile der FDP lehnen sie rundheraus ab, andere wollen höchstens eine Pflicht für Menschen ab 50 Jahren.
Um die Gefahr eines bösen Koalitionskrachs abzuwenden, verzichtete die Bundesregierung auf einen eigenen Antrag im Bundestag. Über fraktionsübergreifende Gruppenanträge und eine Abstimmung ohne Fraktionsdisziplin, rein nach dem Gewissen eines jeden Mitglieds des Parlaments, sollte eine möglichst konfliktarme Entscheidung herbeigeführt werden. War das wirklich die Überlegung der Regierung, könnte der Schuss gehörig nach hinten losgehen. Bei der schon für Anfang April im Bundestag vorgesehenen Abstimmung droht eine gewaltige Blamage - für Scholz und für Lauterbach erst recht.
Union will die Schwäche des Gesundheitsministers nutzen
Die Sache ist kompliziert, denn nach welchem Modus über die fünf vorliegenden Anträge abgestimmt wird, ist noch unklar. Es ist aber ein Stichwahl-Szenario denkbar und dazu laufen in der Union schon die Rechenspiele. CSU-Gesundheitsexperte Pilsnger kündigte an: "Wir als Union werden unseren Antrag geschlossen unterstützen." In einem möglichen Stechen sei der Unions-Antrag, der ein Impfregister und eine gestaffelte Impfpflicht vorsieht, deshalb wohl dabei. Pilsinger sagte: "Weil unser Plan eine intelligente Mitte zwischen den Extrempositionen einnimmt, könnte er am Ende erfolgreich sein, obwohl er aus der Opposition kommt." Wie die Sache ausgeht, ist derzeit kaum absehbar.
Doch selbst in Regierungskreisen heißt es, dass sich das Zeitfenster für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren immer weiter schließt. Lauterbach, der seit seinem Amtsantritt meist ohne Fliege auftritt, läuft direkt auf die nächste, krachende Niederlage zu. Ohne dass er viel tun könnte, sie noch abzuwenden. Der Arzt, dem die Deutschen vertrauen, hat in der Corona-Pandemie schon jetzt die Möglichkeit, wirksame Gegenmittel zu verschreiben, an die Länder verloren. Scheitert die Impfpflicht im Bundestag, wäre auch sein Patentrezept für den Weg aus der Pandemie zerrissen.