Auf den ersten Blick erscheint es fast wie ein deutsches Weihnachtswunder: Während weltweit die Corona-Zahlen aufgrund der Omikron-Variante regelrecht explodieren, sinkt hierzulande die Sieben-Tage-Inzidenz seit Wochen: Knapp über 200 liegt der Wert aktuell in Deutschland – im Vormonat lag er noch bei über 400. In Bayern liegt die Inzidenz sogar nur noch bei 188 (Stand Mittwoch). Der R-Wert ist unter 1 gerutscht, was ebenfalls auf ein Abflauen der Zahlen hindeutet. Kann es tatsächlich sein, dass die von Experten prophezeite Omikron-Welle an uns vorüberzieht?
Zumindest Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) warnt vor voreiligen Schlüssen. Er sieht die Einschätzung der Pandemielage in Deutschland derzeit durch ungenaue Daten erschwert – genau das hatten sowohl sein Ministerium als auch das Robert Koch-Institut aus der Erfahrung der vergangenen Jahre für die Weihnachtszeit bereits prophezeit. Gerade die Dynamik der neuen Coronavirus-Variante Omikron sei „in den offiziellen Zahlen nicht zutreffend abgebildet wegen der Testausfälle und Meldeverzögerungen“, sagte Lauterbach der Bild-Zeitung. „Ich beschaffe mir gerade mit dem RKI und zahlreichen Datenquellen aus ganz Deutschland ein Gesamtbild zur Lage.“
Spätestens bis zum 7. Januar muss die Datenlage auf dem aktuellsten Stand sein, denn dann wollen sich die Ministerpräsidenten zu einem weiteren Corona-Gipfel treffen und über die Verlängerung, Erweiterung oder über das Aussetzen der Corona-Regeln beraten. Lauterbach will deshalb die Gesundheitsämter dazu bringen, schnell die Kapazitäten für Tests und Kontaktnachverfolgungen wieder hochzufahren.
Omikron ist auch in Deutschland auf dem Vormarsch
Zumindest erste Zahlen deuten bereits jetzt darauf hin, dass zumindest der Anteil der mit Omikron Infizierten weiter wächst. Innerhalb eines Tages stieg die Zahl der an das RKI übermittelten sicher nachgewiesenen und wahrscheinlichen Omikron-Fälle in Deutschland um 45 Prozent. Für die laufende Woche rechnet das Institut mit einer „hohen Anzahl an Neu- und Nachmeldungen“. In vielen anderen Ländern spitzt sich die Situation unterdessen zu – auch, weil sich die Corona-Zahlen ohnehin auf hohem Niveau bewegen, ein dynamischer Verlauf also zu einer massiven Beschleunigung der Pandemie führt. Unter anderem ist das an Griechenland zu sehen. Dort hat die Gesundheitsbehörde von Montag auf Dienstag 21.657 Corona-Neuinfektionen registriert. Das ist mehr als doppelt soviel wie am Tag zuvor und ein neuer Negativ-Rekord seit Beginn der Pandemie. Bisher lag die Zahl der Neuinfektionen in dem Land mit seinen rund 11 Millionen Einwohnern täglich bei 3000 bis 5000 Fällen. Aktuell liegt der Anteil der Omikron-Variante bereits bei 70 Prozent. Die Corona-Regeln sollen deshalb noch einmal verschärft werden.
Auch in den USA werden täglich neue Rekord-Werte vermeldet. In den Grafiken, die das Infektionsgeschehen abbilden, zeigen die Kurven inzwischen in einigen Bundesstaaten beinahe senkrecht nach oben – auch deutsche Experten hatten davor gewarnt, dass eine regelrechte „Wand“ statt einer langsam ansteigenden „Welle“ an Neuinfektionen auf Deutschland zukommen könne. Vielerorts gehen die Tests aus, obwohl Präsident Joe Biden versprochen hatte, dass massenhaft kostenlose Corona-Tests zur Verfügung stehen sollten.
In Südafrika flacht sich die Omikron-Welle ab
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt die Gefahr durch die Omikron-Variante in ihrem Lagebericht als sehr hoch ein. Die Variante verbreite sich deutlich schneller als es die Delta-Variante getan habe. Die schnelle Wachstumsrate ist laut WHO wahrscheinlich eine Kombination sowohl des geringeren Schutzes durch die Immunabwehr als auch der erhöhten Übertragbarkeit der Omikron-Variante. Doch es gibt durchaus Grund zur Hoffnung: In Südafrika, das als eines der ersten Länder eine starke Omikron-Welle erlebt hat, wurde zuletzt ein Rückgang der Fälle verzeichnet. Außerdem zeigten vorläufige Daten aus Großbritannien, Südafrika und Dänemark, dass im Vergleich zur Delta-Variante die Erkrankten nicht so häufig in einer Klinik behandelt werden müssten, so die Einschätzung der WHO.
Menschen in Deutschland passen ihr Verhalten freiwillig an
Dass in Deutschland die befürchtete Wucht von Omikron zumindest aktuell noch abgeschwächt ist, könnte indes nicht nur an den Feiertagen liegen, sondern auch am Verhalten der Menschen. Ein Team um Viola Priesemann, Modelliererin am Max-Planck-Institut in Göttingen, hat in Modellrechnungen erstmals genau das Zusammenspiel von verpflichtenden und freiwilligen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie untersucht. Ihr Resümee: „Die Omikronwelle könnte möglicherweise weniger verheerend verlaufen als die pessimistischsten Szenarien derzeit prognostizieren.“
Das könne aber nur gelingen, wenn ein Großteil der Bevölkerung sein Verhalten wie bei den bisherigen Wellen über die die geltenden Regeln hinaus an das Infektionsgeschehen anpasse. Tatsächlich sei es so gewesen, dass aufgrund der Warnungen von Experten ein großer Teil der Menschen sich freiwillig weitaus stärker einschränkte als von der Politik vorgeschrieben, sie ließen sich impfen und trugen konsequent eine Maske. Deshalb seien die zuletzt beschlossenen Maßnahmen ausreichend gewesen.
Denn, so die überraschende Erkenntnis der Forscher: Regeln können auch zu strikt sein. Werde das Infektionsgeschehen komplett unterdrückt, könnte sich eine Infektionswelle auftürmen, sobald Lockerungen in Kraft treten. „Etwas moderatere Vorkehrungen wie etwa die 3G-, 2G- und 2G+-Regelungen lassen den Menschen zudem Spielraum, ihr Verhalten abhängig vom einen Risikoempfinden freiwillig an steigende Fallzahlen und die Belastung der Intensivstationen und des medizinischen Personals anzupassen“, so die Göttinger Wissenschaftler.
Was das für die zu erwartende Omikron-Ausbreitung bedeutet, ist noch unklar. „Omikron kann eine große Herausforderung werden“, sagt Viola Priesemann. „Bei dem Anstieg, den wir in vielen Ländern beobachten, sind weitere Kontaktbeschränkungen, bis hin zum Lockdown recht wahrscheinlich.“ Vieles hänge davon ab, wie gut der Impfschutz bei Omikron sei. „Sollte die dreifache Impfung einen 80prozentigen Schutz vor einer Ansteckung bringen, dürften Maßnahmenpakete, wie sie je nach Bundesland seit Ende November oder Anfang Dezember galten, nur zu einer kurzzeitigen Überlastung der Intensivstationen führen“, so die Schlussfolgerung ihres Teams. „Je schwächer eine komplette Impfung jedoch vor einer Infektion beziehungsweise vor einem schweren Verlauf schützt, desto höher wird sich die Omikronwelle auftürmen, selbst wenn die meisten Menschen ihre Kontakte freiwillig reduzieren und sich vermehrt impfen lassen.“ Noch ist die Studienlage zu den Folgen der Mutation auf die Impfstoffe allerdings eher dünn.