Um 16.57 Uhr entlädt sich die Spannung auf dem Bundesparteitag. Ein Raunen geht durch die Hamburger Messehallen, Applaus flammt auf, die ersten Delegierten umarmen die Siegerin. Die Christlich Demokratische Union, so viel steht fest, hat eine neue Vorsitzende und die heißt Annegret Kramp-Karrenbauer. Wochenlang hat sich „AKK“ mit Friedrich Merz und Jens Spahn ein Kräftemessen um die CDU-Spitze geliefert. Jetzt ist klar, dass es knapp für sie gereicht hat. In der Stichwahl hat sie sich gegen ihren ärgsten Herausforderer Friedrich Merz durchgesetzt – mit 517 zu 482 Stimmen. Jens Spahn ist bereits im ersten Wahlgang ausgeschieden.
Als die neue CDU-Vorsitzende feststeht, als Merz und Spahn gratuliert haben, geht die Saarländerin Richtung Podium. Angela Merkel kommt ihr entgegen, die Frauen umarmen sich. Man sieht Kramp-Karrenbauer die Spannung der vergangenen Stunden an. Sie wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Auch Merkel ist gerührt. Sie flüstert ihrer Nachfolgerin ein paar Worte ins Ohr, ergreift ihre Hand. Und allen im Saal ist klar: Merkels Wunschkandidatin hat gewonnen – auch wenn sich die Kanzlerin in den zurückliegenden Wochen strikte Neutralität auferlegt hatte.
Wie dieser Wahl-Krimi ausgehen wird, lässt sich Stunden zuvor noch nicht absehen. Klar scheint nur, dass es auf ein Duell zwischen Kramp-Karrenbauer und Merz hinauslaufen dürfte. Und dass es darauf ankommt, die unentschlossenen Kandidaten auf die eigene Seite zu bringen.
Kramp-Karrenbauer geht als Erste in die Vorstellungsrunde. Es ist mucksmäuschenstill im Saal, als die Saarländerin beginnt. Auch ein Zeichen der ungeheuren Spannung, die auf der CDU lastet. Wochenlang haben die Parteimitglieder auf diesen Tag hingefiebert, haben diskutiert und sich die Köpfe heißgeredet. Aber nicht nur das: 2000 Medienvertreter sind zum CDU-Parteitag gekommen – so viele wie noch nie. Journalisten aus allen Teilen der Welt drängeln sich in den Hamburger Messehallen.
Kramp-Karrenbauer liest Zitate aus Büchern vor
„AKK“ tut wenig, um die Gäste von den Sitzen zu reißen. Sie startet mit einem Blick in die Vergangenheit, liest Zitate aus Büchern vor. Und es wird nicht besser in den nächsten Minuten. Die AfD schüre Horrorszenarien, es gebe immer mehr Populisten, die Digitalisierung berge reale Gefahren, erklärt die 56-Jährige. Es sind Sätze, die man oft gehört hat. Sätze, die man hier freundlich zur Kenntnis nimmt.
Stimmung kommt erst auf, als Kramp-Karrenbauer vom bis dahin nüchternen Ton in den Wahlkampfmodus umschaltet. Am Ende werde die CDU dafür sorgen, „dass 5G an jeder Milchkanne ist“, sagt sie. Sie spricht das Thema Rente an – auf Parteitagen mit vielen älteren Delegierten immer ein guter Schachzug. Und sie fordert Mut von ihrer CDU.
Dann führt Kramp-Karrenbauer Argumente an, mit denen ihre Herausforderer nicht punkten können. Sie ruft in den Saal, dass sie hier als Mutter von drei Kindern steht, als Ministerin, als Ministerpräsidentin, die über 18 Jahre lang ihrem Land gedient habe. Die Delegierten horchen auf, immer mehr Applaus ist zu hören. Sie habe gelernt, „was es heißt zu führen“, legt die CDU-Generalsekretärin nach. Und sie habe gelernt, dass es dabei auf „die innere Stärke und nicht auf die äußere Lautstärke ankomme“. Das sitzt endgültig. Der Beifall ist laut, lang anhaltend, viele Delegierte erheben sich von den Plätzen. Es sind wohl diese letzten Sätze ihrer insgesamt 22-minütigen Rede, mit denen Kramp-Karrenbauer die entscheidenden Stimmen holt.
Während Kramp-Karrenbauer cool wirkt, gibt Friedrich Merz zu Beginn seiner Bewerbungsrede ein ganz anderes Bild ab. Der ehemalige Blackrock-Aufsichtsratschef wirkt ungewohnt nervös, seine Stirn glänzt wenig vorteilhaft im Rampenlicht. Auch er verliert sich zunächst in Gemeinplätzen, verweist darauf, dass von den vielen Gewissheiten früherer Jahre kaum noch etwas geblieben sei. Er sagt, dass es Befürchtungen, Ängste und Verluste für die Volksparteien gebe – und das, obwohl die Wirtschaft brummt und es den Deutschen gut geht.
Merz packt sein Wirtschafts- und Finanzwissen aus
Dann schaltet Merz einen Gang hoch und kommt auf die AfD zu sprechen. Die CDU zeige Willen, Stimmen von der AfD zurückzuholen, sagt er. „Aber es gelingt uns offensichtlich nicht.“ Er spricht von einem Zustand, der für ihn und viele der Delegierten sicherlich „einfach unerträglich“ sei. Ein Zustand, der nach seinen Worten nicht nur die Mehrheitsfähigkeit in der Mitte gefährdet, sondern die Stabilität des Landes. Merz sagt das wohl wissend, dass er damit direkt den Nerv vieler Delegierter trifft. Denn im Saal sitzen viele hochrangige Funktionäre, die Wahlen gewinnen müssen und die es satt haben, ständig Stimmen an die AfD zu verlieren.
Dann packt Merz sein ganzes Wissen als Wirtschafts- und Finanzexperte aus. Was, wenn es wirtschaftlich schwieriger werde? Wie soll es dann weitergehen? Die Antwort liefert er selbst: „Wir brauchen eine Agenda für die Fleißigen.“ Applaus. Merz bricht noch eine Lanze für die vielen Unternehmer im Saal. Der Staat, ruft er, sei nicht der bessere Unternehmer. Es ist der Moment, in dem Merz in etwa so viel Beifall bekommt wie seine Vorrednerin. Beobachter glauben da noch an einen Gleichstand der beiden.
Jens Spahn hat es am schwersten. Er hat die undankbare Aufgabe, als letzter zu sprechen. Und ihm hat man von Anfang an die schlechtesten Chancen vorhergesagt. Was ihm allerdings nicht viel ausmacht. Auch er lese Umfragen, räumt Spahn ein. „Aber ich kann Ihnen sagen, es fühlt sich richtig an, hier zu stehen.“
Spahn macht seine Sache ordentlich, aber er ist nicht mitreißend. Der Gesundheitsminister wird sich vorwerfen lassen müssen, dass er vor allem Versatzstücke seiner Vorträge aus den Regionalkonferenzen wiederholt. Dafür gibt es höflichen Applaus, der sich erst steigert, als Spahn persönlicher wird und sich als streitbaren Geist darstellt. Er laufe nicht weg, wenn es eng werde, ruft er in den Saal. Er fordert mehr Mut in der CDU – auch den Mut, unterschiedliche Meinungen auszuhalten. Spahn kommt dann gut an, wenn er Anfälle von Selbstironie zeigt: Er sei zu seiner eigenen Überraschung etwas gelassener geworden in den vergangenen Tagen und Wochen, erklärt er mit jenem feinen, verschmitzten Grinsen, das einmal sein Markenzeichen werden kann.
Spahn sagt: „Ich kann Ihnen nicht versprechen, ein bequemer Parteivorsitzender zu sein. Ich bin, wie ich bin.“ Er wolle aber von der ersten Sekunde an für die CDU und ihre Mitglieder kämpfen. „Wir brauchen nicht das Vertrauen der Berliner Blase. Wir brauchen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger“, beendet er seine Rede.
Es geht um viel an diesem Bundesparteitag. Darum, ob die CDU nach den gut 18 Jahren der Ära Merkel weitgehend mit ihrem Kurs bricht, wie dies Merz vorhat. Oder ob die CDU doch lieber einen Modernisierungskurs mit mehr Debatte und Lebendigkeit will. Dafür steht Kramp-Karrenbauer, für einen Aufbruch ohne Bruch.
Merkel selbst gibt sich in ihrer letzten Rede als CDU-Vorsitzende neutral. Die Pro-Merz-Äußerungen von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble lässt sie bewusst unkommentiert und wendet sich lediglich den unionsinternen Querelen kurz zu. Wohin nicht enden wollender Streit führe, das hätten CDU und CSU in den vergangenen Jahren „bitter erfahren“. Dabei lässt sie es bewenden.
Statt einer aktuellen Analyse, die womöglich den ein oder anderen Kandidaten bevorzugt hätte, erinnert sich Merkel an jenen Parteitag vom 10. April 2000 in Essen. Damals, als sie vor 18 Jahren zur CDU-Vorsitzenden gewählt wurde. Eine „Schicksalsstunde“ sei es gewesen, sagt Merkel und erinnert an die Folgen der Spendenaffäre. Doch sie haben es „allen gezeigt“ und den Erneuerungsprozess aufgenommen, lobt Merkel die Partei – und damit natürlich auch sich selbst.
Bekommt Merz Lust auf die Kanzlerkandidatur?
Zum Abschied gibt es ein Geschenk für Merkel. Ihr Vize, der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, überreicht der scheidenden Parteichefin einen Taktstock. Es ist der, mit dem Kent Nagano während des G20-Gipfels in Hamburg Beethovens Neunte dirigiert hatte. Es ist das richtige Geschenk für die Klassik-Liebhaberin Merkel. Man könne es aber auch als ein deutliches Signal an ihre Nachfolgerin sehen.
Denn die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob Kramp-Karrenbauer den richtigen Takt vorgeben kann. Erste Hinweise dürften die üblichen Umfragen geben. Der erste richtige Test aber steht am 26. Mai an. Dann wird ein neues Europaparlament gewählt, und derzeit droht Straßburg ein Erstarken des ganz rechten Randes. „AKK“ wird beweisen müssen, dass sie gegenhalten und die CDU zu alter Stärke zurückführen kann.
Die neue Parteichefin wird dabei wachsam sein müssen. Denn im ersten Wahlgang hat sie 450 Stimmen geholt – wenig mehr als Merz, der auf 392 Stimmen kam. Die Stichwahl brachte ebenfalls keinen richtig deutlichen Abstand.
Diese Resultate könnten dem 63-jährigen Merz Mut auf eine Kanzlerschaft machen. Dass Kramp-Karrenbauer auch in diesem Punkt Ambitionen auf Merkels Nachfolge hat, versteht sich von selbst. Er sei bereit, die Partei in den nächsten Jahren dort zu unterstützen, wo es gewünscht werde, sagt Merz, gleich nachdem er Kramp-Karrenbauer zum Wahlsieg gratuliert hat. Das kann man als Angebot verstehen. Oder als Drohung.
Nicht ausgeschlossen also, dass sich der Wahl-Krimi von Hamburg in nächster Zeit wiederholt.
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