Auch im zweiten Jahr der von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen "Zeitenwende" hat die Bundeswehr noch immer von allem zu wenig. Und die Soldatinnen und Soldaten sind ungeduldig ob der viel zu langsam eintretenden Verbesserungen. Das ist das Fazit des Jahresberichts der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags, Eva Högl. Was die SPD-Politikerin am Dienstag in Berlin verkündete, zeigt, wie groß die Baustellen ihres Parteifreundes Boris Pistorius sind. Der Bundesverteidigungsminister hatte gefordert, die Streitkräfte müssten möglichst rasch wieder "kriegstüchtig" werden. Högl spricht lieber von einer "vollständigen Einsatzfähigkeit". Doch von diesem Zustand ist die Truppe ihr zufolge noch meilenweit entfernt: "Es mangelt an Material vom Großgerät bis hin zu Ersatzteilen. Durch die Abgabe an die Ukraine ist der Mangel noch größer geworden."
Ebenso sei der Zustand der Infrastruktur an vielen Bundeswehr-Standorten desaströs. "Mich erreichen Schreiben von Eltern, deren Kinder soeben den Dienst angetreten haben - in Kasernen mit maroden Stuben, verschimmelten Duschen und verstopften Toiletten." Den schlechten Zustand der Kasernen nannte Högl "teils beschämend" und dem Dienst der Soldatinnen und Soldaten unangemessen. An den Liegenschaften der Bundeswehr gebe es einen Bedarf für Sanierungen im Wert von 50 Milliarden Euro. Die Personalnot im Baugewerbe verschärfe das Problem zusätzlich.
Eva Högl: Bundeswehr "altert und schrumpft"
Högl sieht in ihrem 174-seitigen Bericht allerdings auch so etwas wie einen dünnen Silberstreif am Horizont, der darauf deute, dass sich die Dinge, wenn auch sehr langsam, zum Besseren wenden. So seien im vergangenen Jahr in vielen Bereichen "wichtige Weichen gestellt" worden, die Bundeswehr sei aber noch lange nicht am Ziel. Högl verwies auf zahlreiche größere Beschaffungsprojekte, die auf den Weg gebracht worden seien. Im Bereich der persönlichen Ausrüstung für die einzelnen Soldaten habe sich dadurch vieles verbessert, die benötigten Dinge seien inzwischen vorhanden, sogar so umfassend, dass in den Spinden teils kein Platz mehr dafür sei. Beim Großgerät seien einige wichtige Entscheidungen gefallen, doch bis Flugzeuge und Panzerfahrzeuge geliefert würden, dauere es noch. Selbst bei den Bundeswehr-Einheiten, die zur Verteidigung der Nato-Ostflanke in Litauen eingesetzt werden, gibt es dem Bericht zufolge Lücken. Soldaten hätten ihr berichtet, so Högl, dass ein zusätzlicher Marder-Schützenpanzer mitgeführt werde, um ihn bei Bedarf als Ersatzteillager ausschlachten zu können.
Im vergangenen Jahr war im westafrikanischen Mali der zweite große Auslandseinsatz der Bundeswehr nach Afghanistan beendet worden. Laut Högl fällt die Bilanz "ähnlich ernüchternd aus". Derartige Einsätze würden künftig unwahrscheinlicher, der Schwerpunkt liege auf der Landes- und Bündnisverteidigung. Gut 180.000 Kräfte in Uniform stehen aktuell im Sold der Bundeswehr, doch die "altert und schrumpft", so Högl. Bewerbungen und Einstellungen stagnierten, die Abbruchquote bei Neueinsteigern sei mit 20 Prozent deutlich zu hoch. 20.000 Stellen seien unbesetzt.
Högl begrüßt Wehrpflicht-Debatte
Ausdrücklich begrüßte sie in diesem Zusammenhang die Debatte um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. Das alte Modell wolle zwar niemand zurück, doch es lohne sich, etwa über ein Dienstjahr für junge Frauen und Männer im militärischen wie im sozialen Bereich zu diskutieren. Generell gelte: "Die Bundeswehr muss insgesamt attraktiver werden. Dazu gehören die richtige Ausrüstung, gute Arbeitsbedingungen, funktionierende Kasernen und Wertschätzung in der Gesellschaft." Beim Frauenanteil in der Truppe - aktuell 13,4 Prozent - gebe es noch deutlich Luft nach oben. Zurückhaltend äußerte sich Högl zur Frage, ob sich die Bundeswehr für Bewerber ohne deutschen Pass öffnen solle. Für "diejenigen, die hier gut integriert sind", könne das eine Möglichkeit sein, die Personalprobleme der Armee würden sich aber so nicht lösen lassen.
385 Fälle von sexuellem Missbrauch bei der Bundeswehr
Die Wehrbeauftragte soll laut Grundgesetz die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte stärken, für die Mitglieder der Truppe aber auch wie eine Anwältin - oder eine Art Kummerkasten - wirken. Bei rund 90 Standortbesuchen hat sich Högl die Sorgen und Nöte der Soldaten angehört, zudem sind zahlreiche Eingaben in schriftlicher Form bei ihr gelandet. Dem Bericht zufolge sind im vergangenen Jahr 385 Fälle sexueller Übergriffe gemeldet worden, nochmals ein Anstieg im Vergleich zum Vorjahr, so Högl. Unter den Vorfällen seien sowohl "blöde Witze" als auch Vergewaltigungen. Vor allem Frauen seien die Opfer, Alkohol spiele in vielen Fällen eine große Rolle. Die Zahl der gemeldeten Fälle von Rechtsextremismus lag bei 204 und damit etwa auf Vorjahresniveau.