Als an einem kalten Januarabend des vergangenen Jahres auf der Zugfahrt von Kiew zurück an die polnische Grenze den mitreisenden Journalisten ausnahmsweise selbst ihre Politik erklärt, tippt keinen Meter entfernt Björn Seibert in sein Handy. Wie zu ihrem Beistand steht er da in Turnschuhen und schwarzer Thermojacke am Rand des prächtigen Salons, wo das goldfarbene Plastik und die Rüschenvorhänge an die Reisen von Tolstois Anna Karenina erinnern. Mehr als eine Stunde lang antwortet die amtierende EU-Kommissionspräsidentin auf all die Fragen. Und Seibert lehnt am Fenster, sagt kein einziges Wort.
Die Szene aus dem Zug steht sinnbildlich für ihr Arbeitsverhältnis. Die beiden gelten als perfektes Team, wenn man so will. Während sich von der Leyen am liebsten auf den Bühnen dieser Welt im Rampenlicht sonnt, bleibt er in ihrer Nähe, aber im Dunkel des Abseits. Diskret, unprätentiös, zurückhaltend, immer freundlich – es sei bemerkenswert, „wie bescheiden er trotz der Position geblieben ist“, sagt einer, der während des Wahlkampfs regelmäßig mit dem 43-Jährigen zusammenarbeitete.
Seibert ist engster Berater von Ursula von der Leyen
Seibert ist Kabinettschef und seit vielen Jahren der engste Berater und Mitarbeiter von der Leyens. Eigentlich. Vor zwei Monaten überraschte er mit der Nachricht, dass er sich bis zur Europawahl beurlauben lassen würde, um die Leitung der Spitzenkandidaten-Kampagne zu übernehmen. Zunächst herrschte Verwirrung. Sollte Seibert nun Auftrittshallen für von der Leyen besichtigen? Dass sie ihre „besten Leute“ in die Parteizentrale stecke, sei „beachtlich“, hatte ein Insider der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) damals so erstaunt wie erfreut gesagt. Es zeige, „dass sie dem Wahlkampf ernsthaft Priorität einräumt“. Tatsächlich aber ging es damals schon um ein höheres Ziel. Seiberts Kernaufgabe bestand darin, die Zeit nach der Wahl vorzubereiten und vor allem Mehrheiten zu besorgen, sowohl im Kreis der Staats- und Regierungschefs als auch im EU-Parlament. Obwohl es bei der Nominierung ihrer Kandidatur danach aussah, als würde ihre Bewerbung um eine zweite Amtszeit ein Selbstläufer, ahnte Seibert die Hürden, die sich auf dem Weg auftun könnten. Und der Politikwissenschaftler sollte Recht behalten.
Seibert scheint nicht der Typ, der sich über seine Rolle im Hintergrund beschweren würde. Auch das dürfte ein Grund sein, warum von der Leyen ihm nahezu blind vertraut. Vielleicht weiß der Spitzenbeamte auch einfach, dass ohne ihn sowieso nur wenig läuft in der Kommission. Seibert ist es, der die Antwort auf Russlands Angriff auf die Ukraine entwarf und von der Leyen von der Ernsthaftigkeit der US-Geheimdienstinformationen vor der Invasion überzeugte. Er ist es auch, der die transatlantischen Beziehungen wieder festigte. Selbst an mehreren amerikanischen Eliteuniversitäten studiert und gelehrt, pflegt der Transatlantiker gute Kontakte in die US-Regierung hinein und unterhält ein enges Netzwerk aus Experten. Vor allem aber denkt er strategisch und arbeitet sich akribisch in komplexe Themen ein, hat ein Gespür für aktuelle Herausforderungen und drohende Konflikte. Das hat ihm in den vergangenen Jahren in Brüssel viel Anerkennung eingebracht.
Nochmals Stabschef für eine gesamte Legislaturperiode?
Dabei gestaltete sich der Start in der Behörde ruckelig. So plötzlich von der Leyen 2019 für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin aus dem Hut gezaubert wurde, so plötzlich kam der neue Job auch für Seibert, der der CDU-Frau aus dem Bundesverteidigungsministerium folgte. Und im riesigen Apparat der EU-Kommission schlug ihm zunächst Misstrauen entgegen. Er war kein EU-Offizieller, und dann sprach er nicht einmal Französisch. Wie konnte ein Mann, der die Basisvoraussetzungen nicht erfüllte, nun den wichtigsten Beamtenposten der Gemeinschaft übernehmen? Heute genießt Seibert dagegen hohes Ansehen in der Blase, ist nicht nur Strippenzieher, sondern dient auch als Erklärer.
Ob er bei einem Erfolg der Deutschen noch einmal eine gesamte Legislaturperiode als Stabschef arbeiten will? Björn Seibert lächelt bei solchen Fragen nur höflich.