Es dauert lange, bis sich an diesem Morgen der Nebel lichtet. Dann plötzlich gibt der Dunst den Blick frei auf das weite Grundstück mit Pferden, Gänsen, Hunden – und einem gigantischen Trump-Plakat auf dem Container eines Trucks. „Sehen Sie, wie wunderbar es hier ist?“, fragt Lori Brock. Dann wird ihre Stimme bitter: „Die werden das Land vergiften und unsere Fische umbringen. Das ist denen egal. Schließlich verschmutzen sie auch ihr eigenes Land.“
Sehen kann man die angeblichen Übeltäter hier draußen an der 19 Mile Road nördlich der Kleinstadt Big Rapids im US-Bundesstaat Michigan nicht. Kein Zaun begrenzt das Gebiet auf der anderen Straßenseite von Brocks Pferdefarm, kein Schild kündigt die Ankunft der ominösen Invasoren an. Aber auf den Karten der regionalen Wirtschaftsförderer ist ein gut 100 Hektar großes Feuchtgebiet mit Bäumen und Büschen neben dem Sportflughafen rot umrandet: Hier will der chinesische Hightech-Konzern Gotion für 2,4 Milliarden Dollar eine hochmoderne Batteriekomponenten-Fabrik errichten.
Schon vor dem ersten Spatenstich ist die Stimmung im Ort hoffnungslos vergiftet
Die Verträge sind längst unterschrieben, das Grundstück gekauft. „Das ist das größte wirtschaftliche Entwicklungsprojekt aller Zeiten im Norden Michigans“, verkündete Gretchen Whitmer, die demokratische Gouverneurin des Bundesstaats, beim Abschluss des Deals im Oktober 2022. Insgesamt 715 Millionen Dollar Subventionen sagte ihre Regierung dem Investor zu. Der republikanische Ortsvorsteher Jim Chapman pries das Projekt, das 2350 Arbeitsplätze schaffen soll, als „once-in-a-generation“-Chance. Als Chance, die sich nur einmal in einer Generation biete.
Doch zwei Jahre später ist von der Aufbruchseuphorie in Big Rapids nichts zu spüren. Im Gegenteil: Die lokalen Politiker, die das Projekt unterstützten, wurden abgewählt; dessen Gegner bombardieren Behörden und Gerichte mit Eingaben und Klagen. Wechselseitige Anschuldigungen, Drohungen und Verschwörungserzählungen haben die Stimmung im Ort schon vor dem ersten Spatenstich hoffnungslos vergiftet.
Damit nicht genug: Im polarisierten Präsidentschaftswahlkampf ist Big Rapids über Nacht zu einem der heißesten politischen Schlachtfelder geworden. Der Batteriehersteller Gotion, dessen Namen bis vor Kurzem kaum ein Amerikaner gekannt haben dürfte, dient den Republikanern als idealer Prügelknabe in ihrer Anti-China-Kampagne. Vor vier Wochen flog Vizepräsidentschafts-Kandidat J.D. Vance eigens für eine Kundgebung auf Brocks Pferdefarm ein. „Kamala Harris will der Kommunistischen Partei Chinas nicht nur erlauben, Fabriken auf amerikanischem Boden zu bauen“, wetterte er über die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten: „Sie will sie dafür auch noch mit unseren Steuergeldern bezahlen.“ Lautstark erregten sich einige hundert Zuschauerinnen und Zuschauer.
Auch Donald Trump hat das Verhetzungspotenzial des Themas erkannt. Noch auf dem Parteitag im Juli hatte der Republikaner-Kandidat beteuert, er habe nichts gegen chinesische Konzerne, solange diese „ihre Fabriken in den USA bauen“. Jetzt warnt er auf seiner Propagandaplattform „Truth“, das Gotion-Werk werde Michigan „unter die Knute der chinesischen kommunistischen Partei“ bringen: „Ich bin 100 Prozent dagegen!“ Derweil zieht der lokale republikanische Kongressabgeordnete in düsteren TV-Spots in einen Kampf gegen China, um „amerikanische Jobs zu retten“ – gerade so, als würden die in Big Rapids nicht längst gewissermaßen von allein verschwinden.
Ein monumentales Wandgemälde an einem 140 Jahre alten Gebäude in der Innenstadt erinnert an die Blütezeit des Ortes. Es zeigt, wie Arbeiter frisch geschlagene Baumstämme von einem Floß im Muskegon-River auf den Waggon einer Dampflokomotive laden. Doch die Blütezeit des Zentrums der Holzindustrie ist lange vorbei. Die Sägewerke haben geschlossen, der Bahnhof an der stillgelegten Strecke wurde vor drei Jahren verscherbelt, und auf dem Muskegon paddeln nur noch Kajak-Fahrer herum. Big Rapids hat seit 1980 die Hälfte seiner damals 14.000 Einwohnerinnen und Einwohner verloren, und der umliegende Landkreis Mecosta County zählt mit einem mittleren Haushalts-Jahreseinkommen von 54.000 Dollar zu den ärmsten in Michigan.
Von interessierter Seite werde „Panikmache“ betrieben, glaubt der Politiker
„Wir brauchen diese Arbeitsplätze“, argumentiert daher Michael Lynch, der als Demokrat in dem tief republikanischen Wahlbezirk für den Kongress kandidiert. Der 65-jährige Ex-Manager hat in Hongkong, Singapur und auf den Philippinen gearbeitet. Die Debatte in Big Rapids betrachtet er mit Sorge: „Es ist wie in dem Märchen, wo das Huhn herumläuft und ruft: Der Himmel stürzt ein! Der Himmel stürzt ein!“ Von interessierter Seite werde „Panikmache“ betrieben, glaubt Lynch. So verschwiegen die Gotion-Kritiker, dass der größte Anteilseigner des Unternehmens nicht etwa der chinesische Staat, sondern der Wolfsburger Volkswagen-Konzern sei. Tatsächlich ist VW eine strategische Partnerschaft mit dem Batteriebauer eingegangen und hält rund 25 Prozent der Aktien. Als Urheber der Anti-Gotion-Bewegung sieht Lynch die Republikaner und Ortsansässige, die eigene Interessen verfolgten. „Die haben einen Teufelspakt geschlossen“, sagt er.
Es ist nicht einfach, in dem Gestrüpp von Mutmaßungen und Unterstellungen ernsthafte Bedenken von Lügen und Propaganda zu trennen. Dass das Gotion-Management keine Interviews gibt, macht es nicht leichter. Die Geheimniskrämerei habe sie von Anfang an skeptisch gemacht, sagt Lori Brock. Die Vertraulichkeitserklärungen, die Grundstücksbesitzer und auch einige Politiker in der Frühphase unterschreiben mussten, um einen Subventionswettlauf mit anderen Bundesstaaten zu verhindern, haben ihre Fantasie beflügelt. „Ich habe mich nie sonderlich für Politik interessiert“, behauptet die 58-Jährige. Erst durch die Batteriefabrik sei sie zur republikanischen Aktivistin geworden.
Das Gotion-Management gibt keine Interviews – das macht es nicht leichter
Vor anderthalb Jahren veranstaltete Brock, die auch als Maklerin arbeitet, ihre erste Protestkundgebung. Seither ist sie das Gesicht des Widerstands. Eloquent warnt sie vor Gefahren für Umwelt und Wasser durch die bei der Produktion der Batterie-Elektroden verwendeten Chemikalien. Ihre Hauptsorge aber gilt den Chinesen: „Sie halten sich nicht an die Regeln“, meint sie. Widerrechtlich hätten die Investoren Bäume gefällt, verschwiegen ihre enge Verbindung mit der Kommunistischen Partei Chinas und zeigten verdächtiges Interesse am Cybersicherheits-Programm der örtlichen Universität.
Je länger Brock redet, desto wilder werden ihre Thesen. Ohne Belege behauptet sie, dass alle Befürworter des Projekts bestochen worden seien. Außerdem wollten die Gotion-Unterstützer ihre Farm schließen und hätten eines ihrer Pferde vergiftet. Nun habe sie 150 Überwachungskameras um das Grundstück anbringen lassen. „Ich lasse mich nicht einschüchtern“, sagt sie.
Ein paar Meilen weiter lebt Marjorie Steele mit Mann und Kind. Die 39-Jährige hat als Journalistin, PR-Managerin und Lehrerin gearbeitet und zeitweise an der Westküste gelebt. Ihr neues Ziel ist es, die kleine Familienfarm mit Apfelbäumen und Hühnern nachhaltig zu bewirtschaften. Seit der ersten Stunde kämpft die linke Öko-Aktivistin mit dem Tattoo auf dem Oberarm gegen die Batteriefabrik. Doch von ihr und ihren Freunden ist derzeit wenig die Rede. Die Ultra-Rechten hätten den Widerstand regelrecht „gekapert“, klagt sie. „Die haben die ökologische Botschaft unterdrückt. Das ist frustrierend.“
„In Wahrheit wollen die hier sehr gerne eine Batteriefabrik, bloß keine chinesische“, sagt die Öko-Aktivistin
Steele hält das Lithium, das in der Fabrik verarbeitet werden soll, für hochgefährlich – nicht die Chinesen. Ihr wichtigstes Argument ist eine bislang wenig beachtete Studie, die Hochwassergefahren für das Firmengelände nachweisen soll. Bei einer Überflutung, so Steele, drohten der Gemeinde gewaltige Schadenersatzforderungen. „So ein Haftungsrisiko kann eigentlich keine Kommune tragen“, erklärt sie. Doch davon wollten die Republikaner nichts wissen: „In Wahrheit wollen die hier sehr gerne eine Batteriefabrik, bloß keine chinesische.“ Und Lori Brock? Steele zuckt mit den Achseln. Vielleicht sei die Maklerin einfach enttäuscht, weil sie für ihr Grundstück kein lukratives Angebot erhalten habe. Jedenfalls entzweie der parteipolitisch aufgeheizte Streit Big Rapids. „Das hat Freundschaften zerstört und Familien auseinandergerissen.“
Tatsächlich ist es schwierig, in Big Rapids noch jemanden zu finden, der sich offen für die Batteriefabrik ausspricht. Eine frühe Gotion-Befürworterin, die einen Geschenkartikelladen betreibt, wurde Opfer einer Boykott-Kampagne. „Die Leute werden mit falschen Informationen gefüttert“, sagt der Demokrat Lynch. „Und sie hören immer nur die eine Seite der Geschichte.“ Der Politiker ist überzeugt, dass viele Einwände substanzlos sind. Die Furcht vor Umweltschäden durch das Lithium-Eisenphosphat, das hier hergestellt werden soll, hält er für übertrieben. „Ich habe mit Leuten gesprochen, die das Pulver in der Hand gehalten haben“, sagt er. Außerdem würden die Chemikalien in geschlossenen Behältern transportiert, und das Wassersystem der geplanten Anlage sei in sich geschlossen.
Nun soll Donald Trump für eine Kundgebung nach Big Rapids kommen
„Die beste Batterietechnologie der Welt kommt derzeit aus China“, argumentiert Michael Lynch. Da sei es doch besser, wenn das Kathoden-Material, das auch zur Energiespeicherung benötigt wird, in den USA hergestellt werde – zumal von einem Unternehmen mit maßgeblicher deutscher Beteiligung. Davon freilich wissen die meisten in Big Rapids nichts. Der Volkswagen-Konzern ist komplett auf Tauchstation gegangen. Mehrere Anfragen zum Thema bleiben unbeantwortet. Die Deutschen, so Lynch, verhielten sich wie Augenzeugen einer Kneipenschlägerei: „Macht ihr das draußen unter euch aus! Ich trinke hier mein Bier zu Ende.“
Eine riskante Strategie. Im Bundesstaat North Dakota wurde ein chinesisches Investitionsprojekt bereits gekippt. Noch hält es Lynch für „wahrscheinlich“, dass Gotion eines Tages die Produktion aufnimmt. Doch er fügt dem an: „Wenn es zu viel Unruhe gibt oder die Regierung wechselt, könnte es auch anders kommen.“ Darauf arbeiten die Aktivistin Lori Brock und ihre Unterstützer mit voller Kraft hin. Das nächste Etappenziel der Pferdezüchterin steht schon fest: Sie will Donald Trump für eine Kundgebung nach Big Rapids holen. „Mit Trump als Präsident wird es hier keine Chinesen mehr geben“, sagt sie schwärmend. „Er wird sie alle rauswerfen.“
Serie zur US-Wahl
Mit diesem Teil endet die vierteilige Serie unseres US-Korrespondenten Karl Doemens. In der beleuchtete er, wie zerrissen die USA vor der Wahl sind. Doemens reiste dazu in die alte Stahlstadt Bethlehem in Pennsylvania, die ein Amerika unter dem Brennglas ist; nach Baton Rouge, die problembeladene Landeshauptstadt von Louisiana, sowie nach Bozeman, Montana, das binnen weniger Jahre zum Mekka der Stadtflüchtlinge aus Kalifornien wurde.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden