Judenfeindliche Sprechchöre vor der Synagoge in Gelsenkirchen, schwere Ausschreitungen mit mehr als 90 verletzten Polizisten bei einer Pro-Palästina-Demonstration in Berlin-Neukölln: Seit dem Wiederaufflammen des Nahost-Konflikts ist es in Deutschland zu verstörenden antisemitischen Vorfällen gekommen. Der Zentralrat der Juden sprach von „Mobs“, die blanken Judenhass verbreiteten. In der Politik wurden Forderungen laut, Ausländer, die antisemitische Straftaten begehen, auszuweisen.
Judenhass keimt in Nahost-Krise auch in Deutschland auf - nicht nur unter Muslimen
Doch wie stark sind antijüdische Vorbehalte unter Migranten ausgeprägt? Und welche Strategien sind wirksam, ihn zu bekämpfen? Die Historikerin Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen. Sie sagt: „Wir beobachten seit Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000, dass es immer auch in die europäischen Länder und damit nach Deutschland schwappt, wenn es zu einer Radikalisierung des Nahostkonflikts kommt.“ 2006 während des Libanonkrieges seien die Zahlen antisemitischer Straftaten stark angestiegen. „Diesen Effekt kennen wir also“, sagt Wetzel. Auf die Straße gegen Israel gehen der Wissenschaftlerin zufolge aber nicht mehr nur Menschen mit palästinensischer Herkunftsgeschichte: „2014 mit dem Gaza-Krieg haben wir erlebt, dass es zu einer Art „Opfer-Solidarisierung“ unter Muslimen gekommen ist, auch von solchen türkischer Herkunft, die ja eigentlich mit dem Konflikt nichts zu tun haben.“
Chronologie: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern
Seit Gründung des Staates Israel kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Nachbarn. Der erste Nahostkrieg war für Israel ein Unabhängigkeitskrieg - für die Palästinenser hingegen der Beginn der "Nakba", ihrer Flucht und Vertreibung.
29. November 1947: Die Vollversammlung der Vereinten Nationen ruft zur Teilung des britischen Mandatsgebiets Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat auf (Resolution 181). Die Juden stimmen zu, die Araber in Palästina und die arabischen Staaten lehnen den Plan ab.
14. Mai 1948: David Ben Gurion verliest Israels Unabhängigkeitserklärung. Am Tag darauf erklären die arabischen Nachbarn Ägypten, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien den Krieg. Im Kampf kann der neue Staat sein Territorium vergrößern und den Westteil Jerusalems erobern. Rund 700.000 Palästinenser fliehen.
Oktober 1956: In der Suez-Krise kämpfen israelische Truppen an der Seite Frankreichs und Großbritanniens um die Kontrolle des Suez-Kanals, den Ägypten zuvor verstaatlicht hatte.
Juni 1967: Im Sechstagekrieg erobert Israel den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, das Westjordanland, Ostjerusalem und die Golanhöhen.
Oktober 1973: Eine Allianz arabischer Staaten unter Führung von Ägypten und Syrien überfällt Israel an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Nur unter schweren Verlusten gelingt es Israel, den Angriff abzuwehren.
März 1979: Israels Regierungschef Menachem Begin und Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat schließen einen von den USA vermittelten Friedensvertrag.
Juni 1982: Beginn der Operation "Frieden für Galiläa". Israel greift Stellungen der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO im Libanon an und marschiert ins Nachbarland ein.
Dezember 1987: Ausbruch des ersten Palästinenseraufstands ("Intifada").
September 1993: Israels Ministerpräsident Izchak Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat unterzeichnen die Oslo-Friedensverträge.
4. November 1995: Rabin wird nach einer Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem jüdischen Fanatiker erschossen.
September 2000: Nach einem Besuch von Israels damaligem Oppositionsführer Ariel Scharon auf dem Tempelberg in Jerusalem bricht die zweite Intifada aus.
2003: Israel beginnt mit dem Bau einer 750 Kilometer langen Sperranlage rund ums Westjordanland. Zäune und Mauern verlaufen zum Teil auf palästinensischem Gebiet.
August 2005: Gegen den Widerstand der Siedler räumt Israel alle Siedlungen im Gazastreifen und zieht seine Truppen aus dem Palästinensergebiet am Mittelmeer ab.
Juli 2006: Israel und die libanesische Hisbollah-Miliz liefern sich einen einmonatigen Krieg.
Juni 2007: Die radikal-islamische Hamas vertreibt in einem blutigen Machtkampf unter Palästinensern die Fatah von Mahmud Abbas aus dem Gazastreifen.
Jahreswende 2008/2009 bis August 2014: In drei Konflikten bekriegen sich das israelische Militär und die Hamas im Gaza-Streifen. Kurz vor dem Krieg 2014 scheitert der bisher letzte Versuch der beiden Seiten, am Verhandlungstisch einen Frieden zu vereinbaren.
Dezember 2017: US-Präsident Donald Trump verkündet den Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. Die Entscheidung stößt international auf heftige Kritik.
Frühjahr 2018: Am Grenzzaun zwischen Israel und Gazastreifen beginnen wochenlange Demonstrationen von Palästinensern für das Recht auf Rückkehr ins Gebiet des heutigen Israels. Mehr als 100 werden von der Armee erschossen. Die USA eröffnen ihre Botschaft in Jerusalem.
Januar 2020: Trump und Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu präsentieren einen Nahost-Friedensplan. Die Palästinenser sehen das Völkerrecht verletzt.
Mai 2021: In Jerusalem kommt es zu schweren Zusammenstößen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern. Aus dem Gazastreifen werden Raketen auf Israel abgefeuert, das mit Luftangriffen reagiert. Dabei werden in Gaza mehrere Palästinenser getötet. (dpa)
Doch Antisemitismus sei eben kein Thema, dass nur oder hauptsächlich Menschen mit muslimischem Hintergrund betreffe, sagt Wetzel: „Das Problem geht bis weit in die Mitte der deutschen Gesellschaft. Da ist Antisemitismus ja nach wie vor ein Tabu, auch wenn die AfD die Grenzen verschoben hat. Um das Tabu zu umschiffen werde dann nach der Devise ’Israelis gleich Juden’ so getan, als ob es nicht um Antisemitismus gehe.“ Das, sagt die Wissenschaftlerin „ist natürlich Unsinn“. Wer Steine auf Synagogen werfe und dabei den Bezug zum Nahostkonflikt herstelle, handle eindeutig antisemitisch. Denn mit der Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästinenserorganisationen wie der Hamas habe die Synagoge und die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ja nichts zu tun. Bei Antisemiten jeglicher Couleur sieht Wetzel „eine Art Umweg-Kommunikation“ am Werk: „Man benutzt Israel, um das gegen Juden zu sagen, was man schon immer gegen Juden sagen wollte. Da gibt es dann die Unterstellung, dass die ehemaligen Opfer ja jetzt zu Tätern geworden sind. Man wäscht sich rein, von der eigenen Aufgabe der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.“ Das diene letztlich dem Ziel, die deutsche Verantwortung für den Holocaust relativieren.
Antisemitismus ist in der Gesellschaft verbreitet - teils auch unter Linksextremen
Juliane Wetzel verweist auf ein weiteres Phänomen, das sich nicht erst im aktuellen Anti-Israel-Protest zeige: „Auf den Demonstrationen laufen auch größere Gruppen mit, die weniger einen muslimischen, als eher einen linksextremen Hintergrund haben. Die Gefahr ist sehr groß, dass wir das von der Mehrheitsgesellschaft abschieben und sagen, das Problem sind die Muslime.“ Das sei von der Kriminalstatistik nicht gedeckt, die meisten Straftaten mit antisemitischem Hintergrund würden nach wie vor aus dem rechtsextremen Milieu heraus begangen – „auch wenn es in der Statistik manche Unschärfen gegeben haben mag“. Aber das mache es nicht weniger schlimm, wenn bei den Demos gegen Israel heute unsägliche Dinge skandiert würden, wie etwa „Hitler hat euch vergessen“. Wetzel glaubt: „Es gibt keinen muslimischen Antisemitismus, aber es gibt Antisemitismus unter Muslimen. Und das ist häufig derselbe israelbezogene Antisemitismus, der auch auf der politischen Linken und bis weit in die Mehrheitsgesellschaft hinein zu finden ist.“
Die Historikerin sieht bei den Muslimen in Deutschland durchaus ein wachsendes Problembewusstsein: „Es gibt inzwischen viele Gruppen, die gegen Antisemitismus kämpfen und an denen Muslime beteiligt sind.“ Wetzel ist Mitglied im Vorstand der vielleicht bekanntesten dieser Organisationen, die ihren Sitz im Berliner Stadtteil Kreuzberg hat. Dort leben viele Menschen mit türkischer oder arabischer, nicht selten palästinensischer Einwanderungsgeschichte. Unter dem Eindruck der islamistischen Bombenanschläge auf zwei Synagogen in Istanbul im Jahr 2003, bei denen 24 Menschen starben, entstand aus der muslimischen Gemeinschaft heraus die „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“. Die „Kiga“ wird vom Bund und vom Land Berlin gefördert.
Judenhass unter "Querdenkern": Corona-Lage verschärft Antisemitismus in Deutschland noch
Desirée Galert leitet die praktische Arbeit der Kiga und veranstaltet etwa an Berliner Schulen Projekttage oder Arbeitsgruppen. Um den heutigen Antisemitismus zu kontern, sagt sie, seien etwa der Besuch von KZ-Gedenkstätten oder Vorträge von Zeitzeugen wenig hilfreich, wenngleich sie wichtig für das Verständnis des Holocaust blieben. Die Kiga-Angebote setzten vor allem auf Aspekte aus der Lebenswelt der Schüler. Da werde etwa hinterfragt, warum „Du Jude“ auf manchen Schulhöfen als Schimpfwort gelte. Oder die Teilnehmer analysieren gemeinsam antisemitische Texte von populären Rappern. In Rollenspielen lernen Jugendliche, auch mal die Position der „anderen Seite“ einzunehmen. In Gesprächen werden Fakten über den Staat Israel oder über jüdisches Leben in Deutschland vermittelt. Viele der Angebote der Kiga können laut Galert derzeit wegen der Pandemie nur digital stattfinden – oder fallen ganz aus. Gleichzeitig habe die Corona-Lage das Antisemitismus-Problem weiter verschärft. Im Umfeld der „Querdenker“ blühe der Verschwörungs-Antisemitismus, werde die Erzählung verbreitet, dass einflussreiche Juden die Welt kontrollierten und manipulierten.
Galert räumt ein, dass die Aufklärungsarbeit manchmal an ihre Grenzen stößt: „Menschen mit verfestigten extremistischen Ansichten erreichen wir nicht. Es geht darum, zu verhindern, dass Jugendliche sich überhaupt erst radikalisieren.“ Erfolgserlebnisse hat Galert etwa, „wenn Jugendliche selbst einen Projekttag organisieren und dabei das Thema Antisemitismus wählen.“ Der Nahost-Konflikt sei bei vielen Teil der Familiengeschichte. „Wenn Kinder aus palästinensischen Familien hinterher sagen, dass sie zum ersten Mal auch die andere Sichtweise kennengelernt haben, haben wir schon viel erreicht.“
Lesen Sie dazu auch:
- Kommentar: Die Sicherheit von Jüdinnen und Juden darf nicht zur Diskussion stehen
- Nach Waffenruhe: UN-Sicherheitsrat will Soforthilfe für Gaza
- Zentralrat der Juden wirft Justiz "Sehschwäche auf dem rechten Auge" vor