Die Gnocchi mit Ragú in den Hügeln von Reggio Emilia vor ein paar Tagen zergingen wie Butter auf der Zunge, ganz zu schweigen von den Wildschwein-Pappardelle neulich am Monte Amiata. Ach, Italien. In der Lombardei fielen neben dem dichten Nebel die große Eleganz der älteren Herren auf. Und Rom, dieses Chaos in antikem Setting, zuweilen einfach wunderbar. Jetzt hatder Economist von London aus das stilsichere und kulinarisch unschlagbare Italien auch noch zum „State of the year“, zum „Land des Jahres“ ernannt. Früher wurde diese Ehre schon Ländern wie Usbekistan, Kolumbien oder Tunesien zuteil, aus durchaus lauteren Motiven wie Abschaffung der Sklaverei oder Übergang zur Demokratie. Italien galt politisch als ewiger Wackelkandidat. Wo soll das hinführen, wenn die geliebten, beneideten und letztlich nicht bis ins Letzte verstandenen Italiener jetzt auch noch einen Staat machen können?
Mario Draghi: Von der Spitze der EZB an die Regierungsspitze in Rom
Zugegeben, der Economist ist weniger britisch, als man meinen möchte. Größter Anteilseigner des Verlags ist die Holding Exor, hinter der die italienische Unternehmerfamilie Agnelli-Elkann (Fiat-Chrysler, Juventus Turin) steckt. Soll da ein Image von interessierter Seite aufgebaut und indirekt Politik gemacht werden? Denn die Kür zum Land des Jahres wirkt wie eine Art überflüssiger Ritterschlag des mit Meriten ausreichend versehenen Ministerpräsidenten Mario Draghi. Der 74-jährige Ex-Chef der Europäischen Zentralbank kam im Februar ins Amt. Sein Beiname „Super Mario“ führen in Italien fast alle im Mund, die nicht der einzigen Oppositionspartei angehören oder insgesamt eher skeptisch sind.
Corona hat dem Land besonders übel mitgespielt, das Glück kam in gewisser Weise also aus dem Unglück, was das Pauschalurteil bestätigt, Italien wachse in Krisen über sich hinaus. Wirtschafts- und Finanzfachmann Draghi führt Italien aus der Pandemie – bisher gelingt ihm das hinreichend gut. Die Regierung stellte den Ausgabenplan für das Geld aus dem EU-Hilfsfonds fertig, Italien erhält mit 191 Milliarden den größten Posten. Die Regierung leierte Reformen bei Justiz, öffentlicher Verwaltung und Steuern an. Die Impfkampagne kam in Schwung, 78 Prozent der Bevölkerung im Alter von über fünf Jahren sind doppelt geimpft. Das Wirtschaftswachstum für 2021 schätzt die Regierung auf neun Prozent des BIP, die Rede ist von einem „Boom“. Wenngleich der ebenso große Einbruch im Vorjahr nicht vergessen ist.
Dass alle Maßnahmen, was auch immer man von ihnen halten mag, zielschnell vorangetrieben wurden, ist das Verdienst Draghis. Seine Autorität hält die ungewöhnliche Vielparteien-Koalition zusammen, in der eine Linkspartei ebenso vertreten ist wie die rechte Lega. „Der Economist hat eigentlich Mario Draghi gekürt“, schrieb die Zeitung Il Tempo.
Der Haken: Parteien schalten schon in den Wahlkampfmodus
Doch ausgerechnet jetzt, da Italien sich selbst zu überflügeln gedenkt, kommt der Haken. Die Haken besser gesagt. Der erste ist das absehbare Ende der Legislaturperiode 2023. Routinemäßig schalten die Parteien schon in den Wahlkampfmodus, die nationale Einheit wird zur Nebensache. Zu beobachten ist das im Fall der Lega von Matteo Salvini. Der Ex-Innenminister will viel lieber wieder pöbeln, kann das als Koalitionspartner unter Draghi aber nur bedingt. Der Burgfrieden wird nicht mehr lange halten. Und dann könnte es um den viel gelobten Draghi rasch geschehen sein. Der 74-jährige Römer ist parteilos und wurde von Staatspräsident Sergio Mattarella nominiert.
Wird am Ende sogar Silvio Berlusconi Staatspräsident?
Und im Februar steht die Neuwahl des Staatspräsidenten an. Silvio Berlusconi hat seinen Hut in den Ring geworfen, seine Gegner tun alles, damit er nicht Staatsoberhaupt wird. Andere ernst zu nehmende Kandidaten gibt es nicht – außer Mario Draghi. Auf ihn läuft es hinaus. Die Parteien sind sich im Grunde einig, dass er der geeignete Mann wäre. Aber was wird dann aus der Stabilität der Regierung, wenn Draghi nicht mehr als Premier die Zügel hält? Was wird dann aus den EU-Milliarden und den Reformen?
Als Staatspräsident müsste Draghi seinen eigenen Nachfolger ernennen und hoffen, dass der Regierungskahn bis 2023 nicht untergeht. Italien „State of the year“? Passender wäre: „Draghi for president“. Der für sieben Jahre gewählte Staatspräsident ist die entscheidende Figur in der volatilen italienischen Politik. Er nominiert die Regierungschefs und ist der eigentliche Garant im römischen Parteiensumpf. In ein paar Monaten könnte die chaotische Vergangenheit Italien schon wieder eingeholt haben.