Die Warnungen sind vielstimmig – und das seit vielen Jahren: Europa droht weltpolitisch immer weiter ins Hintertreffen zu geraten, wenn es nicht endlich gelingt, eine effektive gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu organisieren. Antworten der Europäischen Union auf die in Teilen konfrontative Politik Russlands, den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg Chinas, der auch mit expansiven Mitteln vorangetrieben wird, oder auf die Entfremdung zu den USA fehlen weitgehend.
Fast vergessen ist die Aufbruchstimmung Anfang der 90er Jahre. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes schien es möglich, dass die Europäische Union zu einer gemeinsamen Außenpolitik bereit und in der Lage ist. Dafür hatte die EU einen eigenen Politikbereich installiert: die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – kurz GASP. Auf dieser Basis, so die Idee, arbeiten die EU-Mitgliedstaaten in den Bereichen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik eng zusammen. Am Ende sollte eine gemeinsame Außenpolitik stehen, die Europa eine gewichtige Stimme gibt, die weder in Washington noch in Peking oder Moskau überhört werden kann. Doch diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt – im Gegenteil.
Eine Studie zeigt: Einige EU-Mitglieder begnügen sich mit Symbolpolitik
Die von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) veröffentlichte datengestützte Analyse "GASP: Von der Ergebnis- zur Symbolpolitik" des Autorentrios Annegret Bendiek, Minna Ålander und Paul Bochtler ist ernüchternd. Die Studie zeigt, dass "sich die Mitgliedstaaten offenkundig mit symbolischer Politik zufriedengeben" würden.
Ein Befund, der in krassem Widerspruch zum gewaltigen Umfang des europäischen Handelsvolumens, aber auch zur Rhetorik europäischer Spitzenpolitiker steht. "Wir Deutsche und wir Europäer wissen, dass wir in dieser Partnerschaft im 21. Jahrhundert mehr eigene Verantwortung übernehmen müssen", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Wahlsieg Joe Bidens mit Blick auf die USA. Das gelte auch für den Beitrag zur Sicherheitszusammenarbeit in Europa und für den Beitrag zum Nato-Verteidigungsbündnis, präzisierte sie am Dienstag bei einer Konferenz der Süddeutschen Zeitung.
Ein Ansatz, den nicht nur Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Hohe Vertreter für Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, immer wieder propagieren. Konkret fordern die beiden: Schluss mit außenpolitischen Alleingängen, mehr Mut zur Macht und Mehrheitsentscheidungen bei Ratsbeschlüssen. Beispielsweise, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht. Doch der Weg dorthin erscheint weit. Die EU erwies sich als unfähig, in wichtigen Konflikten und Krisen eine gemeinsame Linie zu finden. Man denke nur an Libyen, den Nahen Osten, Hongkong, die Konfrontation im Mittelmeer zwischen Griechenland und der Türkei oder an den Versuch, den Handel mit dem Iran trotz neuer US-Sanktionen aufrechtzuerhalten – eine Liste, die keineswegs vollständig ist.
Studie kritisiert fehlende Datenanalysen zu Entscheidungen in Brüssel
Oft stehen nach wie vor nationale Erwägungen im Vordergrund – zum Schaden Europas. Der französische Präsident Emmanuel Macron fordert schon lange einen Paradigmenwechsel. Geradezu erbost reagierte er auf Äußerungen der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die das Streben nach "einer europäischen strategischen Unabhängigkeit" von den USA kurzerhand als "Illusion" bezeichnet hatte. Dieser Meinung sei er "ganz und gar nicht", sagte Macron der Pariser Zeitschrift Grand Continent. Macron gilt als leidenschaftlicher Verfechter eines neuen europäischen Selbstbewusstseins.
Die SWP-Analyse könnte ihm dafür weitere Munition liefern. Sie weist akribisch nach, wie eine weitgehend einflusslose GASP darauf reagierte, dass eine ergebnisorientierte Politik gegenüber Drittstaaten kaum stattfindet: mit Vorschlägen für mögliche Sanktionen und einer Flut von Pressemitteilungen. Viel heiße Luft, wenig Konkretes.
Expertin Annegret Bendiek hält zwei entscheidende Punkte in der Diskussion für "unterbelichtet". Einmal die rechtsstaatliche Dimension: Also was passiert, wenn die Europäer im Rahmen der GASP zivile Missionen und Operationen durchführen oder Handelsverträge abschließen – in der europäischen, aber auch in der nationalen Rechtsprechung. Also kurz die Frage, ob das rechtlich derzeit überhaupt funktionieren kann? "Der zweite Punkt ist das völlige Fehlen von Datenanalysen darüber, wie Entscheidungen in Brüssel zustande kommen und was dann daraus wird", kritisiert Bendiek im Gespräch mit unserer Zeitung eine fatale Intransparenz. Hinzu komme, dass Politiker meist aus innenpolitischen Gründen gewählt würden, nicht für ihre europapolitischen Ideen.
Zwei Optionen für stärkere Handlungsfähigkeit
Was muss geschehen, damit der Stillstand überwunden wird und Europa als globaler Faktor politisch stärker in Erscheinung tritt? Bendiek sieht zwei Optionen. "Teile oder besser die komplette gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik werden mit einem einstimmigen Beschluss vergemeinschaftet. Entscheidungen würden dann mit qualifizierten Mehrheiten vom Rat der EU unter Einbeziehung des Europäischen Parlamentes getroffen." Die zweite Möglichkeit sei, dass man den Schengen-Vertrag aus den 80er Jahren zum Vorbild nehme. "Dann würden die integrationswilligen Staaten vorangehen. Sie könnten sagen, wir machen eine gemeinsame Politik auf der Basis der Verträge, weil wir keine Chance sehen, dafür eine Mehrheit unter den 27 EU-Mitgliedern hinzubekommen."
So könnte man in einzelnen Themenfeldern handlungsfähig werden, wie zum Beispiel bei der Cyberabwehr. Dafür müssten Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und möglichst auch die Beneluxländer zusammenfinden. Natürlich kann Bendiek nachvollziehen, dass sich viele EU-Länder gegen dieses Modell sperren. Sie hofft aber, dass eine Sogwirkung einsetzen könnte, wenn sich diese Strategie als erfolgreich erweisen sollte.
Oft fehlt es an öffentlichen Kontroversen über dieses Zukunftsthema
Ist das realistisch? "Grundsätzlich ja. Allerdings mangelt es noch an dem ernsthaften Willen in Frankreich, Deutschland oder Italien, dieses Kernprojekt anzugehen." Bendiek vermisst öffentliche politische Kontroversen über dieses Zukunftsthema. Es könne ja nicht sein, dass man denjenigen das Feld überlässt, die zurückwollen zu Nationalismus und Protektionismus. "Hier geht es um einen Konflikt, der in allen Mitgliedstaaten stattfindet."
Hat Angela Merkel ihren Einfluss zu wenig genutzt, um dieses Ziel voranzubringen? "Sie setzt natürlich auf Ausgleich und Moderation. Vielleicht fehlt es in Deutschland schlicht an Mut, offensiver zu diskutieren." Bendiek glaubt aber, dass der Druck durch die US-Wahlen deutlich gestiegen ist: "Viele denken, dieses Thema ist so technisch, so langweilig. Aber es kommt."
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