Zeitenwende? Der prägende Ausspruch von SPD-Kanzler Olaf Scholz ist in Österreich kein großes Thema. Zwar löste der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 in der Alpenrepublik, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Gesetz zur „immerwährenden Neutralität“ zu einer eigenen, umfassenden Landesverteidigung bekannt hatte, eine heftige sicherheitspolitische Debatte aus – doch die erklärte ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer sofort für beendet. Österreichs Neutralität, das ist weniger ein konkretes Verteidigungskonzept, sondern seit Jahrzehnten Teil einer kollektiven Identität der Österreicher – und dies sorgt regelmäßig dafür, dass nicht nur sicherheitspolitische Diskussionen rasch abgeregelt, sondern auch konkrete Schritte in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik kaum diskutiert werden.
Rund zwei Drittel der Österreicher lehnen einen Beitritt zur Nato kategorisch ab, ein Wert, der seit vielen Jahren stabil ist, Putins Krieg und Zeitenwende hin oder her. Die Neutralität ist politisch ein Minenfeld, das keine Partei, die liberalen Neos ausgenommen, wirklich zu betreten wagt. Wie nervös die Politik im Bereich Sicherheitspolitik agiert, zeigten jüngst mehrere Beispiele: Als die ÖVP-geführte Regierung im Sommer 2023 die Beitrittserklärung zum europäischen Verteidigungssystem „Skyshield“ unterzeichnete, hatte Kanzler Nehammer alle Hände voll zu tun, die Angriffe der extrem rechten FPÖ abzuwenden, die „Skyshield“ als „Nato-Projekt“ darstellte.
Die in Teilen rechtsextreme FPÖ sucht die Nähe zu Moskau
Die Partei von Herbert Kickl, die in der Vergangenheit einen Freundschaftsvertrag mit Putins Partei „Einiges Russland“ geschlossen hatte, benutzt die heilige Kuh Neutralität geschickt, den Österreichern ihre Russland-affinen Positionen nahezubringen. Die FPÖ-Erzählung: Neutral sein, das heißt auch, wieder mit Russland zu reden – und dann seien alle Inflations- und Teuerungssorgen rasch erledigt. Dass die FPÖ über einen ehemaligen Abgeordneten und einen mutmaßlichen russischen Spion direkt in die größte Geheimdienstaffäre der jüngeren Geschichte involviert ist, scheint dem Zuspruch für die Rechtsaußenpartei nicht abträglich zu sein.
Mit der extremen Rechten streiten sich die Sozialdemokraten um die Frage, wer denn der einzig wahre Garant für Österreichs Neutralität sei. Als kürzlich ein im Winter 2023 unterzeichnetes Papier auftauchte, in dem Österreich zusammen mit dem ebenfalls neutralen Irland, der Schweiz und Malta die Nato um eine engere Zusammenarbeit ersuchte, sah SPÖ-Chef Andreas Babler darin die Absicht der Regierung, „uns schrittweise in das Nato-Bündnis zu treiben“.
Die SPÖ will eine „aktive Neutralitätspolitik“ – aber was ist das genau?
Dass die als „WEP4“ mitunterzeichnete Erklärung so lange kaum Wellen in der Öffentlichkeit schlug, spricht Bände. Dabei ringen auch die Sozialdemokraten, über Jahrzehnte in der Außenpolitik dominant, um eine sicherheitspolitische Linie. Parteichef Babler installierte einen Experten-Kreis, der nun für die SPÖ ein Konzept einer neuen, „aktiven Neutralitätspolitik“ ausarbeiten soll. Wie konkret eine solche aussehen soll, bleibt wenige Tage vor der EU-Wahl und wenige Monate vor der Nationalratswahl im Herbst offen.
„Nur sagen, wir sind neutral, hört auf uns, kommt zu uns, wenn es um Verhandlungen geht, reicht nicht“, sagt dazu Ralph Janik, Völkerrechtsexperte von der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Aktive Neutralitätspolitik, das sei nichts, was sich bequem oder günstig organisieren lasse. Inzwischen gebe es für Österreichs traditionelle Rolle als Vermittler bei internationalen Konflikten starke Konkurrenz, sagt Janik. „Norwegen ist da beispielsweise sehr aktiv und nimmt viel Geld in die Hand. Und dass die bei der Nato sind, ist kein Problem.“
Auch das österreichische Heer ist kaum verteidigungsbereit
Wie auch der deutschen Bundeswehr fehlen dem österreichischen Heer Milliarden, um halbwegs verteidigungsbereit zu sein – warum fühlen sich die Österreicher dennoch scheinbar sicher? „Weil wir Korrelation mit Kausalität verwechseln“, sagt Völkerrechtler Janik. „Wir assoziieren die Neutralität mit der langen Phase des Friedens, die ja bis heute anhält.“ Heute kenne man frühere sowjetische Aufmarschpläne, die keinerlei Rücksicht auf das neutrale Österreich gelegt haben.
Auch energiepolitisch bleibt es bei den Ankündigungen der ÖVP und grün geführten Regierung, sich von Russland zu lösen. Nach wie vor bezieht Österreich über 90 Prozent seines Erdgases von Gazprom. Dabei könnte ein Gerichtsurteil, wonach es zu Pfändungen von Zahlungen des österreichischen Versorgers OMV an Gazprom kommen könnte, zu einem temporären Gaslieferstopp aus Russland führen. Die Pläne für eine Umorientierung lägen aber längst am Tisch, beruhigt die grüne Energieministerin Leonore Gewessler. Alles sicher also, auf der Insel der Seligen.