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Interview: Winfried Kretschmann: "Das Virus zeigt uns unsere Grenzen auf"

Interview

Winfried Kretschmann: "Das Virus zeigt uns unsere Grenzen auf"

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    Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, spricht während eines Interviews.
    Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, spricht während eines Interviews. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

    Herr Kretschmann, viele Menschen blicken bang auf die Weihnachtszeit. Macht uns Corona den Heiligabend kaputt?

    Winfried Kretschmann: Ich verstehe die Sorgen der Menschen. Weihnachten ist in Deutschland das Fest aller Feste, weil es tief in unserer Kultur und in unseren Familien verankert ist. Ich selbst feiere Weihnachten klassisch mit der ganzen Familie. Aber das Virus ist nun mal gemein und nimmt auf unsere Gefühle wenig Rücksicht. Deshalb müssen wir den Kopf walten lassen. Bei den Maßnahmen, die wir getroffen haben, geht es darum, die Infektionswelle zu brechen. Erst, wenn uns das gelingt – und zwar auf durchschlagende Weise –, können wir darüber sprechen, wie wir Weihnachten gestalten. Steigen die Zahlen weiter exponentiell an, wird das zur Überlastung der Krankenhäuser führen. Es geht also derzeit um sehr viel mehr als um Weihnachten.

    Wie ist das bei Ihnen? Sie sind ein Familienmensch, der gerade seine Enkelkinder kaum sehen kann.

    Kretschmann: Natürlich sind wir eingeschränkt. Aber wir wissen auch: Es geht vorüber. Jetzt ist der Impfstoff immerhin schon in Sichtweite. Wir können davon ausgehen, dass mit der Zulassung des Impfstoffes der Ende der Krise beginnt. Und das kann uns doch Zuversicht verleihen. So einen Impfstoff haben wir gegen andere Krisen nicht. Die Klimakrise kann man nicht wegimpfen. Die wird unsere Gesellschaft in Zukunft sehr viel härter beanspruchen.

    "Corona wird nicht das letzte Virus sein, das uns plagt"

    Was glauben Sie, wird die Welt nach der Corona-Krise trotzdem eine andere sein?

    Kretschmann: Da bin ich mal gespannt. Von Hochwasserkatastrophen wissen wir: Wenn das Hochwasser da ist und alles zerstört und verdreckt ist, sagen alle: Nie mehr wieder. Und kaum ist alles repariert und geputzt, kommen schon die ersten Bauanträge fürs Überschwemmungsgebiet. Wir werden sehen, ob diese tiefe Krise, die Corona bedeutet, wirklich etwas bewirkt. Nötig wäre es, denn wir sollten nach der Krise dringend darüber nachdenken, wie wir unsere Wirtschaft widerstandsfähiger machen. Und bei medizinischem Material sind wir abhängig von Lieferungen aus dem Ausland. Das ist etwas, das wir ändern müssen. Denn wir müssen davon ausgehen: Corona wird nicht das letzte Virus sein, das uns plagt.

    Die Krise könnte also eine Chance sein. Aber könnte sie auch eine Gefahr sein, indem sie die Spaltung der Gesellschaft vertieft?

    Kretschmann: Ich sehe keine Spaltung. im Gegenteil. Die Krise hat gezeigt, dass wir zusammenhalten können. Die erste Welle haben wir durch die große Solidarität und Disziplin der Bevölkerung gebrochen. Wir dürfen nicht vergessen: Die Corona-Kritiker sind eine kleine, wenn auch laute Minderheit - sie denken auch nicht quer, sondern verquer. Davon dürfen wir uns nicht vom grundsätzlichen Kurs abbringen lassen. Umfragen zeigen uns, dass 85 Prozent der Bevölkerung mit den politischen Maßnahmen einverstanden sind. 30 Prozent würden sich gar noch schärfere Maßnahmen wünschen. Es gibt Kritiker, die leugnen Tatsachen, auch das darf man in dieser Gesellschaft, solange man sich an die Regeln hält. Man darf auch gegen die Maßnahmen demonstrieren, solange man Masken trägt und Abstand einhält. Denn eines ist klar: Man muss sich auch an Gesetze halten, von denen man nichts hält. Das ist der Sinn von Gesetzen. Wenn wir uns nur an Gesetze halten, die uns gefallen, bräuchten wir keine Gesetze.

    Ein Teilnehmer trägt auf dem Cannstatter Wasen bei der Protestkundgebung der Initiative «Querdenken 711» eine Warnweste mit der Aufschrift «Corona Diktatur stoppen».
    Ein Teilnehmer trägt auf dem Cannstatter Wasen bei der Protestkundgebung der Initiative «Querdenken 711» eine Warnweste mit der Aufschrift «Corona Diktatur stoppen». Foto: Christoph Schmidt/dpa

    Ihr bayerischer Amtskollege, Ministerpräsident Markus Söder, hat kürzlich im Landtag Hassbotschaften vorgelesen, die er wegen seiner Corona-Politik erhält. Wie gehen Sie mit persönlichen Angriffen um?

    Kretschmann: Ich stecke sie weg.

    So einfach?

    Kretschmann: Was bleibt mir anderes übrig? Ich begegne diesen Leuten mit einem Mindestrespekt. Auch aggressive Briefe werden von uns beantwortet. Natürlich, wer Morddrohungen verschickt, dem wird die Polizei ins Haus geschickt. Aber eine freiheitliche Demokratie muss auch mit solchen Menschen umgehen können. Jeder hat das Recht auf seine Ansichten, selbst dann, wenn ich sie für abstrus oder gar abscheulich halte. Trotzdem besorgt es mich ganz außerordentlich, dass sich der Glaube an Verschwörungsmythen ausbreitet.

    "Zivilisierter Streit ist die Würze der Demokratie"

    Der Grat zwischen ehrlicher Sorge und Verschwörungstheorien ist manchmal sehr schmal.

    Kretschmann: Da ist leider ein politisches Virus in unsere westlichen Gesellschaften eingedrungen, das dafür sorgt, dass Fakten geleugnet werden. Einer der Hauptverbreiter dieses Virus´ ist gerade vom amerikanischen Volk abgewählt worden. Wie er sich gegenüber seiner Abwahl verhält, spricht Bände.

    Sie meinen US-Präsident Donald Trump…

    Kretschmann: Wir müssen uns streiten, denn zivilisierter Streit ist die Würze der Demokratie. Aber wer dabei Fakten leugnet oder lügt, der legt die Axt an die Demokratie. Deshalb bin ich froh, dass diese Welle in den USA erst einmal gebrochen wurde. Denn dort haben wir schon jetzt eine gespaltene Gesellschaft. So etwas müssen wir hier verhindern. Dafür sind die Voraussetzungen glücklicherweise gut: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist für Fakten und Tatsachen offen.

    Vieles von dem, was Sie in dieser Corona-Krise beschließen, gab es in dieser Form vorher nicht. Wie fühlt sich diese politische Operation am offenen Herzen an?

    Kretschmann: Wir wissen immer noch zu wenig über dieses Virus. Es zeigt uns unsere Grenzen auf. Auch die Wissenschaft liefert uns nicht immer eindeutige Erkenntnisse. Wir müssen abwägen und uns unseres lückenhaften Wissensstandes bewusst sein. Aber trotzdem müssen wir entscheiden. Deshalb sind wir vorsichtig. Jedes unklare Wissen auf der einen Seite erfordert auf der anderen Seite ein mehr an Vorsicht. Übrigens hat die Pandemie noch etwas anderes gezeigt: Wir waren nicht viel schlauer als unsere Nachbarn - aber schneller.

    "Kinder sind keine Virenschleudern"

    Dabei gab es immer wieder Kritik, dass das föderale System die Krisenpolitik ausbremst.

    Kretschmann: Es gab je nach Infektionslage Unterschiede zwischen den Bundesländern - auch in der Einschätzung. Aber im Großen und Ganzen haben wir Ministerpräsidenten immer zusammengefunden. Mit der großen Erfahrung haben die Verantwortungsträger unser Land ordentlich durch die Krise gesteuert. Der Föderalismus ist schnell, er ist wirksam - er hat sich bewährt. Am Abend ist die Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin fertig, wenige Tage später sind die Beschlüsse in Kraft. So ein Tempo bekommen Sie in zentralistischen Staaten nie hin. In Frankreich wartet man immer auf den Befehl von oben und das dauert ewig. Wenn sich bei uns die Lage ändert, werden Maßnahmen angepasst. Ein Beispiel: Wir haben Studien von unseren vier baden-württembergischen Unikliniken erstellen lassen, was das Virus für Kinder bis zehn Jahren bedeutet. Das Ergebnis: Diese Kinder sind anders als bei anderen Krankheiten keine Virenschleudern. Also konnten wir die Schulen öffnen und für die Kleinen eine Maskenpflicht vermeiden. Immer wenn wir eine neue Erkenntnis gewinnen, handeln wir danach.

    Eines der wichtigsten Instrumente gegen die Ausbreitung des Virus sollte die Corona-App sein. Inzwischen weiß man, dass die App nicht so gut funktioniert wie sie sollte. Warum steuert die Politik hier nicht um?

    Kretschmann: Für die Konferenz der Ministerpräsidenten an diesem Montag haben wir einen Brief an den Kanzleramtsminister Helge Braun geschrieben. Es wäre sehr, sehr wichtig, dass wir die App verbessern, vor allem bei der Kontaktnachverfolgung. Wir brauchen zum Beispiel eine Check-in-Funktion für Gastronomie und Veranstaltungen. Dann kann man auch mit der Zettelwirtschaft aufhören. Dann brauchen wir eine Erhöhung der Weiterleitungsquote bei positiven Tests, einen häufigeren Datenabgleich, ein Kontakttagebuch, eine Funktion zur Meldung als Risikokontakt. Aber auch eine Werbekampagne wäre gut, damit sich noch mehr Leute diese App herunterladen. Gesundheitsämter müssen viel stärker auf die Informationen zurückgreifen können. Aber ich glaube, dass uns Corona auch eine Aufgabe für die Zukunft stellt.

    Welche ist das?

    Kretschmann: Wir müssen nach dieser Pandemie darüber nachdenken, ob unser Verständnis von Datenschutz in einer Krise noch angemessen ist. Wir haben mit dieser App ein hochtechnologisches Instrument und können es aus Datenschutzgründen nicht so nutzen wie es notwendig wäre oder es andere Länder, etwa Südkorea, tun. Wir greifen mit vielen unserer Maßnahmen tief in das Leben der Menschen ein. Aber beim Datenschutz legen wir Maßstäbe an, die in einer Pandemie nicht angemessen sind. Unsere Gesundheitsbehörden können die Daten gar nicht richtig verwerten. Aber jetzt in der Krise sollten wir diese Debatte nicht zu führen, das würde die Leute verunsichern. Danach sollten wir endlich von einem verhindernden zu einem gestaltenden Datenschutz kommen. Die Leute geben so viel freiwillig an Google oder Amazon preis, und beim Staat tut man so, als führe er Böses im Schilde.

    "Ich erlebe Merkel als sehr klar, sehr aufgeräumt"

    Gibt es in dieser Pandemie Momente, in denen sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen?

    Kretschmann: Nein, in dieser Situation waren wir glücklicherweise nie. Das Problem ist eher ein anderes: Die Abwägung zwischen dem, was das Virus anrichtet und was unsere Maßnahmen anrichten. Auch die haben ja Kollateralschäden. Wenn ich Wirtshäuser schließe, verdienen die Wirte kein Geld mehr. Die Medizin darf ja nicht mehr Schaden anrichten als die Krankheit. Unsere Maßnahmen müssen also im richtigen Verhältnis zum Virus stehen. Auch deshalb haben wir die Schulen nicht geschlossen, weil die Nebenwirkungen im Frühjahr enorm waren. Das ist aber eine politische Entscheidung. Rein epidemiologisch wären wir auf der sichereren Seite, wenn wir die Schulen wieder dicht gemacht hätten. Dafür mussten wir aber auf andere Weise die Kontakte der Menschen reduzieren.

    Die Kanzlerin hat sich in den vergangenen Monaten mit eindringlichen Botschaften an die Bürger gewandt. Dabei hatte man ihr immer vorgeworfen, zu wenig kommunizieren.

    Kretschmann: Das kann ich nicht bestätigen,. Sie kommuniziert sehr nüchtern, das wird dann aber nicht immer wahrgenommen. Jetzt hat sie starke Emotionen reingebracht, das ist man von ihr nicht gewohnt, aber es war nötig, um den Ernst der Lage deutlich zu machen. Wir dürfen froh und glücklich sein, dass wir in solch einer Pandemie eine sachorientierte, nüchterne Kanzlerin haben. Ich erlebe sie als sehr aufgeräumt, als sehr klar. Sie kennt sich sehr gut mit Details aus. Deswegen arbeite ich gerne mit ihr zusammen. Da werden keine ideologischen Schlachten geschlagen, sondern es wird ohne Rücksicht auf Parteiinteressen über Notwendigkeiten diskutiert. Die Kanzlerin übernimmt Führung und das ist auch gut so.

    Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) beim Friseur - selbstverständlich mit Maske.
    Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) beim Friseur - selbstverständlich mit Maske. Foto: Staatsministerium/Staatsministerium Baden-Württemberg/dpa

    "Ich spiele mit meinen Jugendfreunden digital Karten"

    Wie gehen Sie persönlich mit dem Infektionsrisiko um? Viele Spitzenpolitiker haben sich angesteckt. Haben Sie Angst?

    Kretschmann: Nein, ich habe keine Angst. Ich verhalte mich vorsichtig, trage wenn nötig eine FFP2-Maske, lüfte, achte auf Abstände - ich mache also nichts anderes als jeder andere vernünftige Mensch auch. Natürlich besteht in meinem Alter ein erhöhtes Risiko, aber damit muss ich leben. Da ich mir Sorgen darüber mache, wie es weitergeht im Land, da bleibt für persönliche Sorgen nicht so viel Raum.

    Was machen Sie, wenn Sie von dem ganzen Corona-Wahnsinn abschalten wollen? Viele Deutsche haben die Natur für sich wiederentdeckt.

    Kretschmann: Zuletzt habe ich mit meiner Frau abends öfter mal James-Bond-Filme angeschaut. Bei Filmen, die ich schon kenne, kann ich gut entspannen. Und ich spiele mit meinen Jugendfreunden digital Karten. Wir leben weit entfernt voneinander, pflegen aber seit unserer Jugend eine sehr enge Freundschaft. Vorher haben wir uns zweimal im Jahr getroffen, um dann Karten zu spielen. Inzwischen machen wir das relativ regelmäßig digital.

    Wir hätten jetzt aufs Wandern getippt.

    Kretschmann: Das Kartenspielen ist für mich entspannender als Wandern. Beim Wandern gehen mir ständig Probleme durch den Kopf. Viele andere wichtige Themen wie der Klimawandel werden ja zurzeit vernachlässigt. Es wird höchste Zeit, dass wir diese Pandemie weggeimpft bekommen, damit wir uns auch anderen Fragen wieder widmen können.

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