Eine fanatisierte Meute mit schwarz-weiß-roten Fahnen auf den Stufen des Reichstages – für die einen ein Menetekel, Vorbote einer drohenden Demokratiedämmerung, für andere eine medial aufgebauschte Petitesse und für die rechten „Reichstagsstürmer“ ein unverhoffter, allerdings kurzer Triumph. Schließlich gelang es drei beherzten Polizisten, ein Eindringen in das Parlamentsgebäude zu verhindern. So oder so – der viel zitierten Macht der Bilder konnte sich kaum jemand entziehen.
Offensichtlich auch nicht Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang, der analysierte: „Rechtsextremisten und Reichsbürgern ist es gelungen, einen Resonanzraum zu besetzen, wirkmächtige Bilder zu erzeugen und so das heterogene Protestgeschehen zu instrumentalisieren.“ Eine Sorge, die im Kern auch der Jenaer Extremismusforscher Matthias Quent teilt. Nicht nur, dass der Experte in der Bewegung „eine Gefahr für den Zusammenhalt in der Bewältigung der Corona-Pandemie“ sieht. Er fürchtet auch, dass es „zu weiteren Radikalisierungen bis hin zu terroristischen Vorhaben“ kommen könnte.
Aus rechten Protesten könnte Terrorismus entstehen
Alarmismus? Quent verweist auf die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz von 2018 und die folgenden blutigen Anschläge. Viele Prozesse würden schleichend ablaufen. Während der „Pegida-Mobilisierung“ in der Flüchtlingskrise 2015 sei es einer „verschwindend geringen Minderheit“ gelungen, die Öffentlichkeit zu beschäftigen. Sie hätten erreicht, dass sich Teile der Politik und der Medien nach dem Motto „man müsse ja die Sorgen ernst nehmen“ nach rechts öffneten. Eine Folge ist für den Soziologen Quent eine fatale Normalität. In vielen Regionen Deutschlands sei es heute beispielsweise für viele Demonstranten völlig normal, dass Reichsflaggen gezeigt würden. Immerhin handele es sich um „das klassische Ersatzsymbol für die verbotene Hakenkreuzfahne“.
Seit dem Wochenende ist in der Politik die Sorge gewachsen, dass es rechten Kräften nicht nur gelingen könnte, die Proteste zu kapern, sondern auch in der „Mitte der Gesellschaft“ Anklang zu finden. „Rechtsextreme suchen auf diesen Demonstrationen Anschluss ins bürgerliche Lager. Und sie werden offen geduldet, man streckt ihnen sogar die Hand aus. Das macht mich fassungslos“, sagte beispielsweise SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Allerdings ist die Frage, ob es das, was noch immer gerne als „bürgerliches Lager“ oder „bürgerliche Mitte“ bezeichnet wird, so überhaupt noch gibt.
Viele Kameras richteten sich am Samstag auf die im wahrsten Sinne des Wortes bunte Mischung, die auf den Prachtstraßen Berlins unterwegs war: Junge Frauen mit Rastalocken und Regenbogen-Flagge in der Hand, bekennende Esoteriker, verzweifelte Ladenbesitzer, die um ihre Existenz fürchten, ältere Herren in kurzen Hosen und karierten Hemden, Pärchen in T-Shirts auf denen „Gott mit uns“ in Frakturschrift prangt, vor allem aber „Normalos“ im unauffälligen, sportlichen Gore-Tex-Look.
Soziologe Armin Nassehj: Proteste haben mit Corona nicht viel zu tun
Der Soziologe Armin Nassehi kennt diese Bilder. „Es waren sehr unterschiedliche Gruppen dabei – von Hippies bis zu Rechtsradikalen. Spannender Weise eint alle eine Art von rechter Kritik an der Gesellschaft. Gegen Pluralismus, gegen die Institutionen des Staates“, sagt der Münchner Professor im Gespräch mit unserer Redaktion. „Was wir sehen, sind die üblichen Verdächtigen, die eigentlich gegen die Gesellschaft, ihre Institutionen und die Eliten opponieren.“ Ein weiterer Punkt führe die Leute zusammen: Die Sehnsucht nach einem „ursprünglichen Leben“, diese „ganzen Esoterik-Geschichten“ hätten eine „sehr hohe Affinität zu völkischen und rechten Ideen“. Eine Einschätzung, die Nassehi zu einem völlig anderen Schluss führt als viele Politiker: „Ich würde die These wagen, dass dieser Protest mit Corona nicht viel zu tun hat. Jetzt den Leuten zuzuhören, weil sie große Sorgen wegen der Corona-Krise haben, dürfte kaum zu etwas führen.“ Man könne ja „beim besten Willen nicht behaupten“, dass nicht „kontrovers über die angemessenen Corona-Regeln diskutiert wird – kontrovers, aber zivilisiert“.
Doch das verfängt oft nicht. Verschwörungstheoretiker nutzen das Potenzial der sozialen Medien virtuos und finden weit über das eigene Umfeld hinaus Zuspruch und Anhänger. Im Netz, aber offensichtlich auch bei den Protesten, ist die Hemmschwelle für Aggression, ja Hass gesunken. Gesundheitsminister Jens Spahn wurde in Bergisch Gladbach aus einer geifernden Gruppe beleidigt und bespuckt – und zwar ausgerechnet in dem Moment, in dem er zuhören und sich dem Gespräch stellen wollte.
Die Demonstrationen sind nicht nur größer, sondern auch lauter, selbstbewusster und aggressiver geworden. Spiegelt dieser Befund einen Stimmungswechsel im ganzen Land wider? Kommt der „Knallhart-Kurs bei der Bevölkerung nicht mehr an“, wie die Bild-Zeitung diagnostizierte? Der Meinungsforscher Manfred Güllner winkt ab. Der Chef des Forsa-Instituts verweist auf eine umfangreiche Studie seines Hauses über die Befindlichkeit der Bürger angesichts der Corona-Krise. Bild habe ihre These mit Forsa-Zahlen untermauert, die belegen, dass der Anteil derjenigen, die Deutschland auf dem richtigen Weg sehen, von April bis August von 60 auf 49 Prozent gesunken ist. Güllner: „Gefragt wurde dabei aber nicht nach der ,Corona-Krise’, sondern nach der gesamtgesellschaftlichen Lage.“ Was die Corona-Politik betrifft, hielten unverändert 80 Prozent der von Forsa Befragten die getroffenen Maßnahmen der Politik für „angemessen“ oder gar für „nicht weitgehend genug“. 87 Prozent glauben im Übrigen, dass die Teilnehmer an den Großkundgebungen nur die Meinung der Minderheit vertreten.
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