Donald Trump hatte sich und seine Politik schon eine halbe Stunde gelobt, als er bei einer Kundgebung im Bundesstaat New Hampshire eher beiläufig ein aktuelles Thema erwähnte. "Übrigens", setzte der amerikanische Präsident an: "Das Virus." Er zog die Augenbrauen hoch: "Es sieht aus, als ob es im April, wenn es wärmer wird, auf wundersame Weise verschwindet."Das Publikum lachte und klatschte zufrieden.
Das war am 10. Februar. In den USA waren elf Menschen an dem neuartigen Erreger erkrankt. Ein einfacher Amerikaner konnte tatsächlich glauben, die im fernen China wütende Epidemie sei für ihn kein Problem.
Aber nicht Donald Trump. Der Präsident wusste es besser. Nicht nur hatte ihn sein Sicherheitsberater Robert O'Brien zwei Wochen zuvor eindringlich vor der "größten Gefahr für die nationale Sicherheit" in seiner Amtszeit gewarnt. Auch ein Gespräch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping am 6. Februar verlief offenbar alarmierend. "Das ist eine tödliche Sache", berichtete Trump am darauffolgenden Tag einem Reporter am Telefon: "Es verbreitet sich durch die Luft. Das ist schlimmer als durch Berührung." Das Virus sei "tödlicher als Ihre hartnäckigste Grippe", erläuterte der Präsident und nannte sogar eine Zahl: Fünfmal so hoch sei die Sterblichkeit bei Covid-19.
US-Präsident Trump über Corona: "Das wird alles gut verlaufen"
Dennoch leugnete Trump in den folgenden Wochen öffentlich immer wieder jede Gefahr. "Das wird alles gut verlaufen", sagte er am 19. Februar. "Das Coronavirus ist in den USA weitgehend unter Kontrolle", behauptete er ein paar Tage später. Und am 28. Februar, als der erste offizielle Covid-Tote in den USA gemeldet worden war, beharrte er: "Das wird wie durch ein Wunder verschwinden."
Kritiker bemängeln seit langem, dass der US-Präsident die Pandemie dramatisch verharmlost. Doch seit Mittwoch, dem Tag, an dem die USA den 190.000 Covid-Toten zu beklagen hatten, ist es offiziell: Da wurden von der Washington Post und dem SenderCNN nämlich Audio-Mitschnitte von insgesamt 18 Interviews veröffentlicht, die der legendäre Watergate-Enthüller Bob Woodward zwischen dem vergangenen Dezember und dem Juli diesen Jahres für sein neues Buch "Rage" (Wut) mit dem Präsidenten persönlich geführt hat.
Eine der erstaunlichsten Unterhaltungen, für die Trump bisweilen abends aus dem Weißen Haus bei dem Reporter anrief, fand am 19. März statt. Damals gab es 13.000 Coronafälle und 196 Tote in den USA. Auf dem Mitschnitt kann man hören, wie Trump unumwunden eingesteht, die Bevölkerung bewusst zu täuschen: "Ich wollte es herunterspielen. Ich möchte es noch immer herunterspielen, weil ich keine Panik auslösen möchte."
Trump bestreitet dieses Zitat nicht. Im Gegenteil. Bei einer kurzfristig angesetzten Pressekonferenz im Weißen Haus wiederholte er am Mittwoch die Argumentation: "Ich bin der Cheerleader für unser Land", sagte er: "Ich will keine Panik. Wir wollen Stärke zeigen." Außerdem habe er einen "unglaublich guten Job" gemacht und "sofort Masken und Schutzanzüge" einkaufen lassen, behauptete der Präsident. Auch um die Preise auf dem Weltmarkt nicht in die Höhe zu treiben, habe er die Gefahr kleinreden müssen: "Das letzte, was wir wollen, ist eine Panik auslösen."
Recherche: Trump verschenkte in der Pandemie wertvolle Zeit
Mit der Wirklichkeit hat diese Darstellung wenig zu tun. Nicht nur waren in den USA wochenlang die erforderlichen Masken, Atemgeräte und Tests nicht im erforderlichen Umfang erhältlich. Die New York Times hat in einer detaillierten Investigativrecherche schon im April nachgewiesen, dass Trump zwischen den ersten Informationen über die Pandemie Ende Januar und der Verhängung des nationalen Notstands Mitte März sechs Wochen praktisch untätig verstreichen ließ.
Tatsächlich ist bemerkenswert, dass Trump schon seit Anfang Februar von der Übertragung des Virus durch den Atem weiß und trotzdem bis heute das Tragen einer Maske ablehnt. Auch hat er im Februar noch fünf Großkundgebungen ohne jegliche Schutzmaßnahmen veranstaltet. In dem Telefonat am 19. März berichtet er Woodward von "erschreckenden Fakten". Von dem Virus seien nämlich keineswegs nur alte Menschen betroffen: "Es sind auch junge Menschen, viele junge Menschen." Doch noch Anfang August behauptete er öffentlich, Kinder seien "praktisch immun". Während der Präsident vor den Kameras dafür plädierte, zu Ostern sämtliche Beschränkungen des öffentlichen Lebens wieder aufzuheben, weil das Schlimmste vorbei sei, sagte er zu Woodward: "Das kann dermaßen einfach übertragen werden. Das würden Sie nicht glauben".
Entsprechend scharf fällt die Reaktion der Demokraten aus. "Er wusste, wie tödlich es ist und hat es gezielt heruntergespielt", sagte deren Präsidentschaftskandidat Joe Biden: "Schlimmer noch, er hat das amerikanische Volk angelogen." Bei einem Auftritt in Michigan wollte Biden eigentlich Grundzüge seines Wirtschaftsprogramms vorstellen. Doch der Auftritt wurde von den kurz zuvor bekanntgewordenen Passagen des Woodward-Buches überlagert. Das muss dem 77-Jährigen nicht ungelegen kommen, denn er hat Trumps Fehler in der Corona-Krise in den Mittelpunkt seiner Kampagne gestellt.
Biden: 36.000 Todesfälle hätten vermieden werden können
"Das ist ein Betrug auf Leben und Tod am amerikanischen Volk", empörte sich Biden. Er zitierte Schätzungen, denenzufolge 36.000 Todesfälle hätten vermieden werden können, wenn die Regierung in Washington eine Woche früher auf die heranziehende Pandemie reagiert hätte. "Es ist eine Schande", sagte Biden. In einem CNN-Gespräch unterstellte der Herausforderer dem Amtsinhaber finanzielle Motive: "Ihm ging es darum, dass die Aktienkurse nicht einbrechen und seine wohlhabenden Freunde kein Geld verlieren."
Auch der um Neutralität bemühte Autor Woodward kommt am Ende seines Buches, in dem laut Medienberichten zahlreiche weitere problematische Aspekte der Trump-Präsidentschaft aufgedeckt werden, zu dem Schluss, dass Trump für das Amt ungeeignet sei. Man kann nur rätseln, weshalb der Präsident mit dem Reporter über insgesamt neun Stunden so offen sprach und in Tonbandaufnahmen einwilligte. Angeblich hatten ihn verschiedene Berater gewarnt. Möglicherweise glaubte der narzisstisch veranlagte Trump, er könne seine Untätigkeit rechtfertigen. In seinem letzten Interview mit Woodward am 21. Juli insistiert er jedenfalls: "Das Virus hat nichts mit mir zu tun. Es ist nicht meine Schuld."
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