Bald sei es so weit, sagte Recep Tayyip Erdogan vor einigen Tagen wieder. Das neue Reformprogramm seiner Regierung werde in Kürze der Öffentlichkeit vorgestellt, versprach der türkische Staatspräsident. Seit November redet der 66-Jährige von Neuerungen, mit denen er den Rechtsstaat stärken und die Wirtschaft ankurbeln will. Bessere Beziehungen zur EU und zu den USA nach jahrelangen Streitereien sollen auch zum großen Neuanfang gehören. Doch geschehen ist bisher so gut wie nichts.
Oppositionspolitiker und Experten glauben, den Grund für das Zögern zu kennen: Erdogan sei zur „Geisel“ seines rechtsnationalistischen und reformfeindlichen Koalitionspartners geworden, sagen sie. Erdogan ist längst nicht so mächtig, wie im Westen angenommen wird. Seine Partei AKP hat im Parlament keine Mehrheit und ist auf Unterstützung der rechtsgerichteten Partei MHP unter deren Vorsitzenden Devlet Bahceli angewiesen. Der Nationalistenchef nutze seine Position, um Erdogan ideologisch in die rechte Ecke zu drängen.
Der Westen unterschätzt den Einfluss von Bahceli in der Türkei
Bahceli ist außerhalb der Türkei nicht sehr bekannt, obwohl er schon viel länger in der Politik ist als Erdogan. Der 73-Jährige reist nie ins Ausland und legt keinen Wert auf Rampenlicht. Das erschwere es dem Ausland manchmal, die wahren Machtverhältnisse in der Türkei zu erkennen, sagt der Politikwissenschaftler Halil Karaveli. Die Vorstellung von Erdogan als allmächtigen Sultan sei falsch. „Die Leute im Westen, die Erdogan für das Problem halten, sollten wirklich näher hinsehen“, sagte Karaveli.
Erdogan ist auf Bahceli angewiesen, weil er seine früheren Partner verprellt hat. Mit seiner Hilfe konnte Erdogan die Volksabstimmung über die Einführung des Präsidialsystems von 2017 knapp für sich entscheiden und sich 2018 zum Präsidenten wiederwählen lassen. Die MHP selbst schafft es bei den Parlamentswahlen zwar stets nur mit Ach und Krach über die türkische Zehnprozenthürde. Seit der letzten Wahl muss sie aber nicht mehr zittern – Erdogans Regierung ließ das Wahlrecht ändern, sodass die MHP nun per Listenverbindung von der AKP in die Volksvertretung gehievt werden kann.
Erdogan schaut sich nach anderen politischen Partnern um
Von dem Bündnis profitieren also beide Seiten. Und doch liegen die Interessen der Partner Erdogan und Bahceli auseinander. Auffällig häufig besuchte Erdogan in den letzten Wochen die Vorstände mehrerer kleinerer Oppositionsparteien auf der konservativen Seite des politischen Spektrums, offenbar um die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu sondieren. Da sei etwas in Bewegung, sagt der Journalist Rusen Cakir im Internet-Fernsehkanal Medyascope. „Meine Quellen in der Opposition halten Erdogans Reformankündigungen für einen Versuch, sich von Bahceli zu befreien – nur schaffe er es nicht allein, weil er zu stark von Bahceli abhängig ist. Diese Oppositionskreise wollen Erdogan aus der Sackgasse heraushelfen, damit er wieder auf demokratischen Boden kommt.“
Davutoglu warnt Erdgan vor Konsequenzen
MHP-Kritiker halten es für möglich, dass die Nationalisten zu drastischen Mitteln greifen werden, um das zu verhindern. „Ich rechne damit, dass in nächster Zeit etwas passiert in der Türkei, vielleicht Attentate oder Ähnliches – irgendetwas, das Erdogan im Westen schlecht aussehen lässt“, sagte Karaveli.
Eine Warnung kam auch von Ahmet Davutoglu, der Erdogan lange als Berater, Außenminister und Ministerpräsident diente und heute in der Opposition ist : „Sie werden versuchen, Erdogan zu liquidieren und das Land selbst zu übernehmen.“
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