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Türkei: Kommentar: Europa darf Erdogan nicht in die Arme von Putin treiben

Türkei

Kommentar: Europa darf Erdogan nicht in die Arme von Putin treiben

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    Die türkische Regierung hatte scharfe Kritik daran geäußert, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sich nicht per Videoleinwand an die Demonstranten in Köln wenden durfte.
    Die türkische Regierung hatte scharfe Kritik daran geäußert, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sich nicht per Videoleinwand an die Demonstranten in Köln wenden durfte. Foto: Umit Bektas/Archiv (dpa)

    Würden wir die Kontakte mit allen Politikern abbrechen, die nicht hundertprozentig dem westlichen Ideal entsprechen, würde es bald einsam um uns werden. Die Staatschefs von Russland und China fielen dann als Gesprächspartner aus, mit Repräsentanten des Kontinents Afrika gäbe es praktisch überhaupt keine Kommunikation mehr, ja selbst innerhalb der EU müsste dann der eine oder andere Regierungschef geschnitten werden. So kann Politik nicht funktionieren. Das ist auch im Fall Erdogan zu berücksichtigen.

    Der türkische Präsident befindet sich in einer schwierigen Situation, die er freilich auch selbst heraufbeschworen hat. Am 15. Juli versuchte ein Teil des Militärs gegen ihn zu putschen, und offenbar ist er der Gefangennahme oder der Ermordung nur um Haaresbreite durch die überstürzte Flucht aus einem Hotel in Marmaris entkommen. Auslöser des gescheiterten Staatsstreichs waren wohl von der Regierung geplante Verhaftungen in der Armee, denen die Betroffenen zuvorkommen wollten.

    Erdogan, der die schleichende Islamisierung der Türkei ausgelöst hat und der seit Jahren nach Verfassungsänderungen strebt, die ihm mehr Macht geben, hatte Glück: Weder die Mehrheit der Armee noch eine gesellschaftliche Gruppe unterstützte die Umstürzler. Sogar die moderate Kurdenpartei und die Opposition, die im Sinne von Staatsgründer Atatürk die Trennung von Staat und Religion hochhält, verurteilten den Putsch.

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    Doch Erdogan nutzte nicht die Chance, die einige Nation hinter sich zu scharen. Im Gegenteil, er startete einen Rachefeldzug gegen die vermeintlichen Hintermänner des Putsches, die er in der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Gülen vermutet. Verhaftet und entlassen wurden nicht nur Militärs, die am Umsturz beteiligt waren, sondern auch Richter und Staatsanwälte, Lehrer und Journalisten. Und das zu Tausenden. Diese Säuberungen müssen von langer Hand vorbereitet worden sein. Erdogan missachtet Recht und Gesetz, um seinen einstigen Partner und heutigen Intimfeind Gülen, dessen Gefolgsleute sowie weitere Kritiker kaltzustellen. Andererseits: Wäre der Militärputsch gelungen, hätte dies das sofortige Aus für alle demokratischen Strukturen in der Türkei bedeutet.

    Erdogan ist überzeugt, dass er es ist, der die türkische Demokratie rettet. Sonst hätte er sich am Freitag nicht beschwert, dass kein Vertreter der EU zur Trauerfeier für die Putsch-Opfer nach Ankara gekommen war. Und sonst würde er nicht dem Westen angebliche Demokratiedefizite vorhalten. Damit kommt er bei vielen seiner Landsleute gut an. Dennoch belügt er sich selbst. Denn mit der Polarisierung des politischen Klimas und einer Aushöhlung der Grundrechte erweist er seinem Land keinen Dienst.

    Türkei: Integration notwenidg

    Doch Erdogan darf nicht ausgegrenzt werden. Der Westen muss mit ihm reden, ihm aber auch die Meinung sagen. Einen Vertreter zur Trauerfeier nach Ankara zu schicken, wäre klug gewesen. Erdogan darf nicht in die Arme von Russlands Präsident Putin getrieben werden. Mag der türkische Präsident auch Nadelstiche setzen – wie gestern die Einbestellung des deutschen Gesandten in Ankara. Das sollte nicht überbewertet werden. Denn Ankara wird gebraucht: im Kampf gegen die Terrormiliz IS und in der Flüchtlingskrise.

    Erpressungsversuchen aus Ankara darf aber nicht nachgegeben werden. Die Visa-Liberalisierung für Türken kann nur kommen, wenn die seit Jahren bekannten Bedingungen erfüllt sind. Die angespannte Situation zeigt überdies: Klug war es nicht, die Sicherung der EU-Grenzen der Türkei aufzubürden. Das müssen die Europäer schleunigst selbst erledigen.

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