Bodo Ramelow hatte hoch gepokert. Und er hat das Spiel gewonnen. Vier Wochen hatte der kleine Kosmos der Thüringer Politik die gesamte Republik in Aufregung versetzt. An diesem Mittwoch nun galt es, einen Damm zu reparieren, der Anfang Februar gebrochen war. Am 5. Februar war der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt worden. Kemmerich, Besitzer einer Friseurkette, hatte damit das politische System im gesamten Land ins Wanken gebracht.
Drei Wahlgänge und zweieinhalb Stunden später an diesem Mittwoch triumphiert der alte und neue Ministerpräsident von der Linken. Die AfD zuckte davor zurück, Thüringen ins politische Chaos zu stürzen. „Wer ein Fahrzeug lenkt und immer nur in den Rückspiegel blickt, wird nur einen Unfall bauen“, sagt Bodo Ramelow, der Sieger von Erfurt, in einer ersten Rede. Er trägt sie ernst vor, ohne Freude in den Augen. Seine Erleichterung überstrahlen die Blitzlichter der Fotografen im Thüringer Landtag. Hinter Ramelow liegt eine Höllentour, die einen Monat dauerte.
Das Risiko für den 64-Jährigen ist hoch. Schon, weil CDU und FDP im Vorfeld der Wahl erklärt hatten, ihn nicht zu unterstützen. Damit hat Ramelow der AfD die Macht überlassen, das zweite Mal binnen vier Wochen die Nation zu erschüttern. Wieder kommt es auf Landeschef Björn Höcke an, wie das Nervenspiel von Erfurt ausgeht. Ihm steht es offen, sich im zweiten Wahlgang taktisch zurückziehen. Seine Fraktion hätte dann für den verhassten Kandidaten der Linken stimmen können. Ramelow hätte die Wahl nicht annehmen dürfen, um nicht von einem Faschisten ins Amt gehoben zu werden. Ein Gericht hat entschieden, dass man Höcke so nennen darf. Die Eminenz der Rechtsausleger, Alexander Gauland, hatte genau dieses Vorgehen den „Freunden“ in Thüringen empfohlen.
„Wir entscheiden nach jedem Wahlgang, wie wir vorgehen“, sagt Björn Höcke noch mittags
Noch am Mittag gibt sich Höcke äußerlich entspannt. In der Kantine des Landtags wählt er Jägerschnitzel ostdeutsch. Die Köche des real existierenden Sozialismus hatten so eine panierte Jagdwurstscheibe sprachlich aufgepeppt. Champignons waren halt immer knapp. Statt der traditionellen Spirelli und Tomatensauce entscheidet sich der Kämpfer gegen die Wiederauferstehung des Sozialismus für Kartoffeln als Beilage und gönnt sich noch einen kleinen Salat. In die Karten lässt sich Höcke nicht schauen. „Wir entscheiden nach jedem Wahlgang, wie wir vorgehen“, sagt der 47-Jährige freundlich. Am Ende dürfte den Ausschlag geben, dass sich seine Partei als verantwortlich-bürgerlich präsentieren will. Eine Truppe, die bewusst die Blockade der Regierung herbeiführt, kann das nicht für sich in Anspruch nehmen.
Ramelow wirkt vor der wichtigsten Landtagssitzung seiner Karriere ähnlich gelassen. Auf dem Weg in den Plenarsaal antwortet er auf die Frage, ob er nervös sei: „Nö.“ Im Rund des Parlaments wirft er seiner Frau, einer italienischen Adligen, die auf der Besuchertribüne Platz genommen hat, einen Handkuss zu. Ramelow, der Christ, setzt darauf, dass der Herr die Parlamentarier führen möge. „Er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid“, schließt er den Eintrag in seinem politischen Tagebuch an diesem Schicksalstag.
Vor der Wahl hat Ramelow noch einmal überraschend die Taktik geändert. In den vergangenen Wochen nahm er einzelne Abgeordnete der CDU ins Gebet, um die nötigen vier Stimmen für eine Mehrheit im ersten Wahlgang zusammenzukratzen. Doch dann geben er und der neue CDU-Fraktionschef Mario Voigt nur wenige Stunden vor der Wahl bekannt, dass sich die CDU-Abgeordneten in den nun anvisierten drei Wahlgängen enthalten sollen.
Nach der Wahl in Thüringen: Ramelow öffnet der CDU einen Weg aus der Bredouille
Ramelow entlässt die Christdemokraten damit aus der Verantwortung, als Mehrheitsbeschaffer zu agieren. Und er öffnet Voigt einen Weg aus der Bredouille. Denn nach wie vor gilt der Beschluss der Bundes-CDU, dass es mit der Linken keine Zusammenarbeit geben darf. „So kann Thüringen wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen, ohne dass wir gegen unsere politischen Grundüberzeugungen verstoßen“, erklärt Voigt. Er hat seinen Posten erst jüngst von Mike Mohring übernommen, den die Regierungskrise zum Rückzug gezwungen hatte. Das Mitstimmen für den Mann von der Linken hätte außerdem die Fliehkräfte innerhalb des Landesverbandes enorm verstärkt und die Partei einer Zerreißprobe ausgesetzt.
Wie die CDU hat sich auch die FDP festgelegt, den Kandidaten der Linken nicht unterstützen. Die Liberalen bleiben am Mittwochnachmittag demonstrativ sitzen und gehen nicht in die Wahlkabine. Sie wollen nicht einmal in den Ruch kommen, im Geheimen pro Ramelow votiert zu haben. Währenddessen tippen sie genauso demonstrativ auf ihren Handys herum. Noch am Morgen hat das vier Abgeordnete zählende Häuflein mit dem Noch-Ministerpräsidenten Fotos im leeren Landtag schießen lassen. Es sind Abschiedsbilder von der Macht, die Kemmerich nie wirklich nutzen konnte. Die kurze Illusion, mit den Parteien der Mitte eine Regierung aufstellen zu können, war noch am Wahlabend geplatzt. Das letzte und einzige Mal hatten die Liberalen davor in den 50er Jahren einen Ministerpräsidenten gestellt.
Der wieder auf den Schild gehobene Ramelow braucht nun die Christdemokraten, um mit seiner Minderheitsregierung wichtige Projekte umsetzen zu können. Beide Seiten haben sich bereits auf einen Katalog mit Vorhaben verständigt, die sie im Landtag gemeinsam verabschieden wollen. Ramelow versucht, mit seiner Abmachung einem kleinen Skandal die Wucht zu nehmen. Auf einer Konferenz seiner Partei schwurbelt eine Rednerin davon, dass das reichste Prozent der Gesellschaft erschossen gehört. Ein Video von dem Auftritt macht die Runde im Internet. Bei Konservativen und Liberalen bestätigte das alle Aversionen gegen die SED-Nachfolger.
CDU und Linke - das ist hartes Brot, das im Osten gekaut werden muss
Für die Christdemokraten ist das Verhältnis zur Linken weder Hoffnung noch Verheißung, wie es Ramelow mit seiner Losung ausgibt. Es ist hartes Brot. Sie müssen es kauen, wenn sie im Osten nicht weitere Male in die Falle der AfD tappen wollen. Denn durch deren Aufstieg und die traditionelle Stärke der Linken hat die CDU in mehreren ostdeutschen Ländern ihre dominante Stellung eingebüßt oder sieht sie bedroht. Die Parteispitze in Berlin beharrt zwar nach wie vor auf der doppelten Abgrenzung nach weit rechts und weit links, erkennt aber an, dass die größere Gefahr für die Gesellschaft von der AfD ausgeht.
In Thüringen wird es nun dazu kommen, wenn die Absprachen halten, dass sich Linke und CDU annähern. Beide können dabei verlieren, wenngleich die Gefahr für die Christdemokraten größer ist. In beiden Parteien gibt es Mitglieder, die es vergrätzen wird, wenn sie plötzlich gemeinsame Sache mit den alten Gegnern machen müssen. Die CDU wird sich darüber hinaus noch mit dem Vorwurf der AfD konfrontiert sehen, mit den Erben des DDR-Regimes zu paktieren. „Das ist eine neue SED, die hier entstanden ist. Ich denke, wir werden die Erosion der Volkspartei CDU in Thüringen erleben“, sagt Höcke nach der Wahl. Den Wählern im Osten, zeigt eine Umfrage aus Thüringen, ist das weitestgehend egal. Sie befürworten eine Zusammenarbeit. Für sie gehört die Linke zum politischen System, wird nicht als extrem begriffen.
Es könnte sein, dass das kleine Land im Herzen Deutschlands zum Labor wird für die große Politik. Die Kapriolen von Erfurt hatten die Kraft, Annegret Kramp-Karrenbauer Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur zu kosten. Die CDU befindet sich in ernster Lage. Sie war der Stabilitätsanker der Bundesrepublik. Im 30. Jahr der Wiedervereinigung drehen sich damit die Verhältnisse um. Bekamen die Ostdeutschen das erfolgreiche politische System aus dem alten Westen übergestülpt, verändern sie es nun. Alimentiert werden sie freilich immer noch aus den alten Ländern. Ob dieser Wandel aus dem Osten zum Besseren führt, ist fraglich.
„Wir haben vor vier Wochen hier im Plenarsaal den Beginn einer Krise erlebt, die dazu geführt hat, dass der Freistaat Thüringen in der ganzen Welt bekannt geworden ist. Ich glaube im Sinne aller zu sprechen, dass wir auf diese Form der Bekanntheit gern verzichtet hätten“, sagt Ramelow in seiner ersten Rede nach der Vereidigung. Dem AfD-Mann Höcke hat er da gerade demonstrativ den Handschlag verweigert. Erst, wenn dieser die Demokratie verteidige und nicht Demokraten Fallen stelle, wie das mit der Wahl Kemmerichs passiert war, werde er ihm die Hand schütteln. „Sie sind die Brandstifter in diesem Saal“, ruft Ramelow in Richtung AfD-Fraktion. Und: „Wir werden uns nicht mehr treiben lassen von einer Fraktion, die Fallen baut.“
Eine Vision, wohin Ramelow das Land steuern will, entfaltet er nicht. Diesem Anfang wohnt kein Zauber inne. Er wirkt ausgezehrt von den zurückliegenden Kämpfen. Seine Familie brauchte Personenschutz. Politik zu machen, wird noch anstrengender als es ohnehin ist. Das ist die Lehre von Erfurt dieser Tage.
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