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Risikogebiet: Corona-Hotspot Berlin: Unterwegs in der Stadt des Leichtsinns

Risikogebiet

Corona-Hotspot Berlin: Unterwegs in der Stadt des Leichtsinns

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    Szene vom Berliner U-Bahnhof Neukölln: In dem Stadtteil sind die Infektionszahlen derzeit am höchsten. Viele tragen Masken, aber längst nicht alle.
    Szene vom Berliner U-Bahnhof Neukölln: In dem Stadtteil sind die Infektionszahlen derzeit am höchsten. Viele tragen Masken, aber längst nicht alle. Foto: Soeder, dpa

    „Fahrscheine bitte!“ Die beiden Kontrolleure, kräftig gebaute Männer, sehen aus, als wären sie immun gegen jede nur denkbare Ausrede und nicht zu Diskussionen aufgelegt. Sofort entsteht Unruhe im letzten Waggon der S-Bahn der Berliner Linie 1. Noch müde Passagiere beginnen an diesem Morgen in ihren Taschen zu wühlen, manche haben ihr Ticket gleich zur Hand, andere kramen hektisch weiter. Einige prüfen auch noch schnell, ob ihre Corona-Maske richtig sitzt.

    Bei einer älteren Frau, die am Ende des Wagens sitzt, kann davon keine Rede sein. Zwar trägt sie eine Papiermaske, aber eben so, dass sie keinerlei Infektionsschutz bietet. Die Nase ist komplett frei, der Mund nur zum Teil bedeckt. Dabei scheint die Frau erkältet, wirkt, als kämpfe sie andauernd gegen einen Hustenanfall. Noch vor zwei Stationen hatte eine elegant gekleidete Mitfahrerin mit Baskenmütze sie freundlich gebeten, die Maske richtig aufzusetzen. Doch der Hinweis blieb folgenlos, ob die Frau schlecht hört, ob sie kein Deutsch versteht oder die Mahnung einfach ignoriert: offen.

    Die Angst vor Ansteckung fährt in Berlin ständig mit

    Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus fährt ständig mit in den Bussen und Bahnen der Bundeshauptstadt, in der die Ansteckungszahlen seit Wochen bedrohlich zunehmen. Inzwischen vier Bezirke hat das Robert-Koch-Institut zu Risikogebieten erklärt: Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln. Dort wurden jeweils mehr als 50 Corona-Fälle auf 100.000 Einwohner pro Woche registriert. Der Durchschnittswert für ganz Berlin beträgt schon mehr als 42 – es fehlt also nicht viel und die gesamte Hauptstadt wird zum Risikogebiet.

    Viele befürchten, dass die Lage außer Kontrolle geraten könnte. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagt: Wer sich vorsichtig verhalte, werde in Berlin oft angeguckt, als käme er vom Mond. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sieht die Lage in Berlin gar „am Rande der Nicht-mehr-Kontrollierbarkeit“. Erst spät hat der Berliner Senat reagiert: Ab Samstag gelten eine nächtliche Sperrstunde und strengere Kontaktbeschränkungen. Doch viele Hauptstadtbewohner glauben, dass es an der Überwachung solcher Anordnungen scheitern wird.

    So wie auch viele Empfehlungen gegen die Corona-Ausbreitung im Alltag der 3,5-Millionen-Metropole schlichtweg nicht umgesetzt werden. Auf Abstand gehen? Oft unmöglich, auch für die Mitfahrer der schniefenden Frau mit Maske auf Halbmast. Kurz vor 8 Uhr, mitten im Berufsverkehr, ist der Zug vollgestopft mit Pendlern. Nicht nur die Sitzplätze sind besetzt. Auf dem Gang drängen sich die Fahrgäste dicht an dicht. Anders als nachts, wenn das Partyvolk unterwegs ist, trägt die große Mehrheit der Passagiere Masken. Schlichte aus Papier, Hightech-Modelle der höheren Virenschutzklassen, bunte mit Blumen, eine mit dem Logo des Fußballvereins Borussia Dortmund. Ein Schüler hat sich den Kragen seines Pullis über den Mund gezogen, immerhin.

    Mindestens 16.000 haben sich mit Corona infiziert

    Alternativen zum öffentlichen Nahverkehr haben viele Berliner nicht. Mit dem Fahrrad ist es oft zu weit, außerdem wird es gerade kalt und regnerisch. Nicht jeder hat ein Auto, und selbst wer eines besitzt, scheut den täglichen Stau und die chronische Parkplatznot. Zahlreiche Betriebe haben die Beschäftigten aus dem Homeoffice zurückgeholt. Für einen Pendler aus dem Bezirk Reinickendorf bleiben Bus und S-Bahn die zuverlässigste Möglichkeit, ins Büro nach Mitte zu kommen. Trotz des mulmigen Gefühls im Gedränge. „Nutzt ja nüscht“, berlinert der Mann lakonisch.

    Menschen stehen dicht an dicht vor dem Eingang zum Szene-Treff Holzmarkt - und nicht nur dort.
    Menschen stehen dicht an dicht vor dem Eingang zum Szene-Treff Holzmarkt - und nicht nur dort. Foto: Paul Zinken, dpa

    „Sars-Cov-2-Ambulanz“ steht auf einem Aufsteller vor einem Nebengebäude des Virchow-Klinikums im Wedding. Zwei Meter Abstand zueinander sollen die Wartenden einhalten, so steht es auf dem Schild. Hierher kommen Menschen, die an Symptomen leiden, die auf eine mögliche Corona-Infektion hindeuten, die Kontakt mit Infizierten hatten oder aus einem Hochrisikogebiet zurückkehren. Was paradox klingt in einer Stadt, die selbst in großen Teilen als Risikogebiet gilt. Seit Tagen werden die Schlangen vor der Covid-Ambulanz immer länger. Das medizinische Personal in den blauen Ganzkörper-Schutzanzügen bittet einen nach dem anderen ins Gebäude. Seit Beginn der Tests haben sich laut Senat in der Hauptstadt mehr als 16.000 Menschen mit dem Coronavirus angesteckt. Im Krankenhaus isoliert und behandelt werden derzeit 126 Personen, davon 40 auf der Intensivstation. 231 Berliner sind bisher an Corona gestorben.

    Das Nachtleben von Berlin ist hochansteckend

    Als eine der Hauptinfektionsquellen hat Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) das Nachtleben ausgemacht. Deshalb hat sie verfügt, dass alle Bars und Restaurants zwischen 23 und 6 Uhr schließen müssen. Viele Wirte protestieren, fürchten um ihre Existenz. Der Gastro-Verband glaubt, dass ohnehin nicht kontrolliert wird, die regeltreuen Kneipiers seien dann die Gelackmeierten. Massive Zweifel gibt es auch an der Kontrollierbarkeit der übrigen Maßnahmen des Senats. So dürfen nur noch zehn Personen in geschlossenen Räumen zusammen feiern, nur noch fünf Menschen sich im Freien versammeln.

    Dilek Kalayci (SPD), Berliner Gesundheitssenatorin, greift bei den Corona-Maßnahmen durch.
    Dilek Kalayci (SPD), Berliner Gesundheitssenatorin, greift bei den Corona-Maßnahmen durch. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    In der Realität geht es anders zu. In der Gegend um die U-Bahnhaltestelle Mehringdamm in Kreuzberg etwa ist am frühen Abend auf dem Bürgersteig kaum ein Durchkommen. Ein überwiegend jüngeres Publikum trifft sich hier nach der Uni oder der Arbeit. Fast alle sind jetzt erst einmal hungrig, steuern ihre Lieblingsimbissbude an, stellen sich geduldig an für Currywurst, Pizza, Döner, Falafel oder Exotischeres. In der Schlange tragen die meisten noch eine Maske. Doch verspeist wird das knusprige koreanische Brathähnchen in sirupartiger Soja-Tunke oder das chilenische Sandwich mit Avocado und Steakstreifen anschließend am Stehtisch. Dicht an dicht mit anderen Gästen. Voll besetzt sind auch die Tische in den Außenbereichen des betont edlen Italieners, der hippen schwedischen Backstube und der auf schäbig getrimmten Bierkneipe.

    Im Späti geht Bier über den Tresen - und das Coronavirus?

    Im „Späti“ an der Ecke, der oft rund um die Uhr geöffneten Berliner Institution, gehen massenweise Bierflaschen, Zigarettenschachteln und Chipstüten über den Tresen. Treibstoff für die Nacht, die nun beginnt. Wie schon den ganzen Sommer über werden auch in den ersten Herbsttagen die ausgedehnten Grünanlagen der Stadt zur Partyzone. In Mitte löste die Polizei vor kurzem ein Gelage mit 600 Teilnehmern auf, dabei kam es zu Tumulten. Polizeisprecher Benjamin Jendro kommentierte fast resigniert: „Im James-Simon-Park meinten mal wieder Hunderte, sie müssten auf Infektionsschutzmaßnahmen pfeifen und die mit Flaschen angreifen, die gesetzlich dazu verpflichtet sind, dagegen vorzugehen.“ Über die sozialen Medien verabreden sich teils mehr als tausend Leute zu den Partys, für die es kaum mehr braucht als eine tragbare Musikanlage. Schreitet die Polizei ein, geht es eben im nächsten Park weiter. Dit is Berlin!

    Es ist aber längst nicht nur die Jugend, die sich unvernünftig gibt. Aus den Innenstadtbezirken berichten Mediziner, dass das Infektionsgeschehen auch massiv durch private Anlässe wie Hochzeiten, Geburtstage oder Beerdigungen befeuert wird. Den Ärzten wird bange, wenn sich die Treffen im Herbst wieder vermehrt in geschlossene Räume verlagern.

    Am höchsten sind derzeit die Infektionszahlen in Neukölln. Wo die Häuser hoch, die Wohnungen klein und die Familien groß sind. Wo aber die alltägliche Armut die Menschen mehr beschäftigt als ein Virus, sind Quarantäneregeln oft nur schwer einzuhalten oder durchzusetzen. Auch bei der Nachverfolgung von Kontakten sind die Gesundheitsbehörden längst an ihre personellen Grenzen gestoßen.

    Michael Müller, der Regierende Bürgermeister (SPD), nennt den Anstieg der Infektionszahlen indes ein typisches „Großstadt-Phänomen“. Kritik am Corona-Management der Stadt weist er als „unerträglich“ zurück. Wie es heißt, musste die SPD mit ihren grünen und linken Koalitionspartnern tagelang um die Verschärfung der Maßnahmen ringen. Müller gilt als wenig durchsetzungsstark, im kommenden Jahr hört er auf. Er ist eine „lahme Ente“, wie das in der Politik genannt wird. Müde wirkt er, resigniert. Dass seine Appelle an die Bevölkerung, jetzt beim Infektionsschutz Disziplin zu zeigen, gehört werden, glaubt fast niemand. Illusionen, was die Kapazitäten zur Kontrolle angeht, hegen noch weniger Berliner. Schon zu Zeiten des Zwangsstillstands im Frühjahr wurde in so mancher Kiezkneipe einfach hinter heruntergelassenen Rollläden weiter Pils gezapft. Fälle wie der eines Gastronomen, der nach einer Tanzparty 5000 Euro Bußgeld zahlen musste, sind die Ausnahme.

    Strafen wegen Corona-Verstößen? In Berlin selten

    Werden Verstöße entdeckt, werden sie selten geahndet. Strafen gibt es oft nur auf dem Papier – das gilt auch im Nahverkehr. So schätzen die Berliner Verkehrsbetriebe, dass sich „95 Prozent“ der Fahrgäste an die Maskenpflicht halten. Bei bis zu 2,9 Millionen Einzelfahrten täglich bedeutet dies, dass sich täglich eben zigtausende nicht daran halten. Seit Juli werden eigentlich sofort 50 Euro Strafe fällig, egal ob Schüler, Berufstätiger oder Rentner, wenn man „oben ohne“ fährt. Verhängt wurde das Bußgeld aber gegen gerade einmal 470 Maskenverweigerer, Stand Mitte September.

    Kaum eine Fahrt in Bus oder Bahn vergeht, indem es nicht zu Diskussionen zwischen Maskenträgern und Maskenmuffeln kommt. Nicht selten wird dabei geschrien und beleidigt, manchmal werden abstruse Verschwörungsmythen proklamiert. Bereits vor der Corona-Pandemie bei Nutzern des öffentlichen Nahverkehrs nicht unbekannt, ist ein anderes Phänomen: Zwielichtig wirkende junge Männer, die dreinblicken, als warteten sie nur auf einen Anlass für Streit. Meist treten sie in Grüppchen auf, die sich geschlossen für den demonstrativen Verzicht auf die Mund-Nasen-Bedeckung entschieden haben. Mit-Passagiere, die über einen freundlichen Hinweis nachdenken, schätzen am Ende meist das Gesundheitsrisiko durch mögliche Faustschläge höher ein als das einer Corona-Infektion.

    Kontrolle in Berlin: Kein Hinweis auf Maskenpflicht

    In der morgendlichen S-Bahn kennen die Kontrolleure kein Pardon – einem Mann gegenüber, der nur eine im August abgelaufene Monatskarte vorweisen kann. Er muss die 60 Euro zahlen. Wird es nun auch die ältere Frau treffen, deren Maske ums Kinn baumelt? Gespannt sehen die anderen Fahrgäste hin. Die Frau greift in die Tasche ihres grauen Mantels und zieht den Seniorenpass heraus. Es ist jetzt mucksmäuschenstill. Streng sieht einer der Kontrolleure sie an. „Sie müssen die Nummer auf Ihr Ticket schreiben. Sonst kostet das 60 Euro“, sagt er. Die Frau nickt. Aus dem Gang meldet sich jetzt wieder die Dame mit der Baskenmütze und ruft empört: „Die soll ihre Maske richtig anziehen.“ Der Kontrolleur dreht sich noch einmal um. „Genau. Setzen Sie Ihre Maske richtig auf“, sagt er zu der schniefenden Frau. Dann steigt er aus, an der Haltestelle Brandenburger Tor.

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