Seit dem 16. März gilt die von Bundesinnenminister Horst Seehofer angeordnete Ausreiseuntersagung. Trotz zunehmender Kritik soll die, zwischenzeitlich bis 15. Mai verlängerte, Reisebeschränkung bestehen bleiben. Seehofer begründet das damit, dass die Grenzkontrollen ein "Teil unseres bisherigen Erfolgs bei der Eindämmung des Infektionsgeschehens" seien. Erlaubt sind Grenzübertritte derzeit nur, um Waren zu transportieren oder zu pendeln.
Ob mit dem Auto, Zug, Schiff oder Flugzeug: Für die meisten Bürger sind Reisen nach Italien, Spanien, Österreich, Frankreich, Luxemburg, Dänemark oder die Schweiz damit de facto verboten. Das bedeutet: Bundespolizisten müssen im Zuge der Ausreise-Untersagung Bürger, die in an Deutschland angrenzende Länder fahren wollen und keinen "triftigen Reisegrund" haben, davon abhalten. Doch wie viel bringen die strengen Kontrollen tatsächlich?
WHO-Chef erklärt Reisebeschränkungen für unwirksam
Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, erklärte bereits im Februar unmissverständlich: Es gebe keine Notwendigkeit für Maßnahmen, die "unnötig in den internationalen Reiseverkehr und Handel eingreifen", um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen. Auch Studien aus der Vergangenheit unterstützen die Annahme, dass Reisebeschränkungen und Grenzschließungen die Ausbreitung einer Pandemie nicht verhindern. 2006 veröffentlichte der Epidemologe Neil Ferguson in der renommierten Fachzeitschrift "Nature" einen Artikel über Strategien zur Eindämmung des Schweregrades einer neuen Grippepandemie und schlussfolgerte: "Wir stellen fest, dass Grenzbeschränkungen und/oder interne Reisebeschränkungen die Ausbreitung wahrscheinlich nicht um mehr als zwei bis drei Wochen verzögern werden, es sei denn, sie sind zu mehr als 99 Prozent wirksam."
Im Auftrag der Linken-Politikerin Ulla Jelpke haben die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages diese Woche ein ausgearbeitetes Gutachten vorgelegt zu den "Ausreiseuntersagungen nach § 10 Abs. 1 S. 1 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. Passgesetz zur Eindämmung der Infektionen mit SARS-CoV-2".
Linken-Politikerin Ulla Jelpke: "Recht auf Ausreise ist ein Grundrecht"
Das Fazit: "Es bestehen rechtliche und tatsächliche Bedenken, dass sich eine allgemeine Ausreiseuntersagung für Reisen ohne triftigen Grund auf die Rechtsgrundlage des § 10 Abs. 1 S. 2 PassG in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. PassG stützen lässt." Da die weitgehende Reisebeschränkung demnach keine Rechtsgrundlage habe, fordert die innenpolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion nun von Horst Seehofer die sofortige Rücknahme der Anordnung. "Pauschal 83 Millionen Einwohner an ihrem Recht auf Ausreise zu hindern, ohne dass irgendetwas gegen sie vorliegt, ist verfassungswidrig. Auch das Recht auf Ausreise ist ein Grundrecht", so Ulla Jelpke in einer Stellungnahme vom Dienstag.
Selbst in der eigenen Partei stößt die Anordnung Seehofers auf Unverständnis. So sprach sich der bayerische Innenminister Joachim Herrmann gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe für baldige Grenzöffnungen aus. Es sei der bayerischen Staatsregierung "ein dringendes Anliegen, dass der grenzüberschreitende Alltag mit Österreich und Tschechien baldmöglichst wieder stattfinden kann". Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) plädierte unterdessen für eine Aufhebung der Grenzschließungen und -kontrollen in Richtung Frankreich und Luxemburg. Zum Europatag am 9. Mai sind in mehreren Grenzorten Protestaktionen geplant.
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