Herr Kernberg, woran denken Sie als erstes, wenn Sie an US-Präsident Donald Trump denken?
Kernberg: Ich denke an die Wahlen – und hoffe, dass seine Amtszeit danach beendet ist.
Sind Sie ihm einmal persönlich begegnet? Immerhin wohnen Sie gleich in der Nähe des Trump-Towers in New York...
Kernberg: Nein. Aber ich habe zum Beispiel seine Reden im Fernsehen vor großem Publikum gesehen. Und da ist es unvermeidlich, dass sich wichtige Aspekte seiner Persönlichkeit zeigen. Ich glaube, ich habe einen ziemlich guten Eindruck von ihm bekommen.
Sie sind Psychoanalytiker und weltberühmter Narzissmus-Experte. Einige Ihrer Kollegen diagnostizierten aus der Ferne, Trump weise Symptome des „bösartigen Narzissmus“ auf, also von Selbstverliebtheit. Teilen Sie das?
Kernberg: Ich stelle prinzipiell keine Diagnosen von öffentlichen Persönlichkeiten. Ich stelle Diagnosen nur von Personen, die in meiner Praxis waren und die ich untersucht habe. Donald Trump mag in seinem Privatleben ehrlicher sein, als er es in seinem öffentlichen Leben ist. Seine chronische Unehrlichkeit könnte für ihn seine Art, Politik zu machen, sein. In der Öffentlichkeit zeigt er gleichwohl Züge, die einer Diagnose eines „bösartigen Narzissmus“ entsprechen würden. Aber hierbei könnte man sich sehr leicht irren.
Sie haben kürzlich mit Manfred Lütz, dem bekannten deutschen Facharzt für Psychiatrie und Bestseller-Autoren, ein Buch veröffentlicht. Er sagte im Interview mit unserer Redaktion: Trump sei kein Narzisst, sondern „ein komplett unmoralischer Mensch“.
Kernberg: Ja, so könnte man Trump bezeichnen. Damit habe ich keine Schwierigkeiten. Das ist eine Beurteilung seiner Person und keine psychiatrische Diagnose.
Wenn Sie auf die vergangenen Jahre von Trumps Präsidentschaft blicken – welche Bilanz ziehen Sie da?
Kernberg: Den größten Schaden sehe ich in einer Verschlimmerung der allgemeinen Beziehungskultur – durch seine kalkulierte Vulgarität. Die hat er in den öffentlichen Diskurs eingebracht und damit dem öffentlichen Leben geschadet. Auf Dauer ist auch sein Vorgehen gegen die demokratischen Institutionen gefährlich – denn auf Dauer würde das in eine Diktatur führen. Zudem die Korrumpierung des Regierungswesens, dadurch, dass er vor allem seine eigenen Interessen vertritt. Und dann stachelte er permanent die Bevölkerung auf und schürte zum Beispiel Vorurteile gegen Einwanderer. Die Spaltung des Landes in Freund und Feind, ist ein Produkt seines Regierungsstils.
Die „Washington Post“ führt eine Statistik über seine Lügen und Halbwahrheiten. Mitte Juli kam sie auf die Zahl von mehr als 20.000. Jeder andere Spitzenpolitiker hätte längst zurücktreten müssen, Trump nicht. Warum?
Kernberg: Das gegen ihn angestrengte Amtsenthebungsverfahren hat er jedenfalls durch seine Mehrheit im Senat neutralisieren können. Die Regierung ist ohnehin korrumpiert, seine Republikanische Partei hat er übernommen. So bleiben nur noch die Medien, die er ständig angreift, und das Militär: Beides kontrolliert er nicht. Im Falle seiner Wiederwahl wären aber auch Medien und Militär in ihrer Unabhängigkeit bedroht, denke ich.
Hat Trump das völlig schamlose Lügen in der Politik salonfähig gemacht?
Kernberg:Ja, das hat er.
Glaubt er denn seine eigenen Lügen?
Zum Teil ja. Seine Erfolge bestätigen ihn in der Ansicht, dass seine Macht auch wahr und recht ist. Auch seine Äußerungen zu seiner überstandenen Covid-19-Erkrankung sind insofern ehrlich – wenn er also meint, Corona könne durch männliche Stärke überwunden werden... Zugleich glaube ich, dass er weiß, dass er in bestimmten Punkten lügt. Aus seiner Sicht dient das Lügen der Wahrheit, einer Wahrheit, die er – und nur er – kennt. Es ist demnach echt, wenn er behauptet, er sei so großartig.
Wie haben Sie eigentlich in New York die vergangenen Pandemie-Monate verbracht?
Kernberg: Seit Mitte März bin ich fast ausschließlich in meiner Wohnung und gehe nur hinaus, wenn ich zur Apotheke muss oder zum Einkaufen. Im Juli und August sind wir mit dem Auto in unser kleines Sommerhaus nach Maine gefahren. Auch dort war ich nur drinnen. Aber ich behandele nach wie vor Patienten und unterrichte Studenten – über den Videokonferenzdienst Zoom.
Über den sprechen wir auch gerade. Sagen Sie: Was würde passieren, wenn Trump den Wahlausgang nicht akzeptiert? Es könne, heißt es, zu Gewaltausbrüchen kommen.
Kernberg: Wenn die Wahl ganz klar für seinen Gegenkandidaten Joe Biden ausgehen würde, würde Trump nichts unternehmen. Wenn die Unterschiede aber klein sind und er verliert, wird er den Wahlausgang selbstverständlich nicht akzeptieren. Dann wird er das höchste Gericht anrufen. Ich glaube auch, dass es im Falle einer knappen Niederlage Trumps zu Gewaltausbrüchen seiner Anhänger kommen könnte.
Würde ein Präsident Joe Biden die US-Gesellschaft ein Stück weit zusammenführen können und befrieden?
Kernberg: Ja, ich glaube, Biden könnte die amerikanische Gesellschaft befrieden. Ich halte ihn übrigens nicht für einen großen Politiker oder für einen großen Staatsmann – aber er ist ein anständiger Mensch. Bei einem Wahlsieg Bidens würde ich auch vermuten, dass Trump schnell verschwinden würde. Außer einem primitiven Nationalismus hat er kein wirkliches politisches Programm.
Auch in Deutschland, auch in Österreich – Ihrem Geburtsland – gibt es starke Polarisierungen. Durch die Corona-Krise wird vieles sichtbar: Politik- und Medienverdrossenheit, der Glaube an Verschwörungsmythen, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus... Sind Deutschland und Österreich zerrissene Länder?
Kernberg: Ich beobachte zumindest eine allgemeine antidemokratische Stimmung in Europa, besonders in Osteuropa.
Spricht man in Deutschland mit Corona-Kritikern, hört man oft, sie hätten Angst um unsere Demokratie. Sie behaupten, die Presse wäre „gleichgeschaltet“, sie vergleichen sich mit Opfern des Nazi-Regimes, mit Juden. Sie sagen, sie lebten in einem Denunziantenstaat – und das, weil sie dazu angehalten sind, die Maskenpflicht zu beachten.
Kernberg: Ach, wissen Sie: Ich habe 1938 gesehen, wie Adolf Hitler in Wien einzog.
Sie waren damals neun Jahre alt.
Kernberg: Wir standen alle an der Straße und riefen „Heil Hitler“, ich auch. Nach ein, zwei Wochen war meiner Familie und mir dann klar, dass die Lage für uns Juden hochgefährlich ist. Einmal wurde meine Mutter von einem SA-Mann angehalten. Ich stand daneben, wie sie auf sein Geheiß das Trottoir putzen musste. Es war schlimm.
Zur Person: Otto Kernberg wurde 1928 in Wien geboren. 1939 floh seine jüdische Familie vor den Nazis nach Chile. 1961 emigrierte er in die USA. Kernberg ist ein weltweit hoch angesehener und vielfach ausgezeichneter US-amerikanischer Psychiater und Psychoanalytiker. Lange Jahre gab er das „Journal of the American PsychoanalyticAssociation“ heraus, von 1995 bis 2001 war er Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Besonders intensiv befasste er sich mit Narzissmus und Persönlichkeitsstörungen. Zusammen mit Manfred Lütz hat er kürzlich das Buch „Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten“ (Verlag Herder, 192 Seiten, 20 Euro) veröffentlicht.
Hinweis: Dieses Interview wurde im Vorfeld der US-Wahl
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