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Pandemie: Impfquote höher als gedacht: Was heißt das für den Herbst?

Pandemie

Impfquote höher als gedacht: Was heißt das für den Herbst?

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    An vielen Hochschulen gilt die 3G-Regel: Zutritt hat nur, wer geimpft, genesen oder getestet ist.
    An vielen Hochschulen gilt die 3G-Regel: Zutritt hat nur, wer geimpft, genesen oder getestet ist. Foto: Bernd Weißbrod, dpa

    Karl Lauterbach ist, das müssen ihm selbst seine schärfsten Kritiker zugestehen, hart im Nehmen. Seit fast zwei Jahren steht er im pandemischen Dauerfeuer. Mahnt, warnt, erklärt. Wahlkampf für sein Bundestagsmandat konnte er nur noch unter Polizeischutz machen. Er ist zum Feindbild aller Corona-Skeptiker und „Querdenker“ geworden.

    Doch während sich mancher wünschen würde, einfach die Bettdecke über den Kopf ziehen zu können, bleibt der SPD-Gesundheitspolitiker fast schon stoisch gelassen. Wird es ihm wirklich nie zu viel? Plagt da nie die Sehnsucht nach leichten Themen, nach Themen, die nicht das Wort „Krise" enthalten? „Ich beschäftige mich durchaus mit anderen Themen, habe Hobbys, gute Freunde, eine liebenswürdige Familie“, sagt Karl Lauterbach. Um dann nachzuschieben: „Um auf andere Gedanken zu kommen, arbeite ich gerade an einem Buch über den Klimawandel.“ Und wer meint, mit „arbeiten“ sei „lesen“ gemeint, der täuscht sich: Lauterbach schreibt das Buch. „Ich weiß, dass viele unter den Herausforderungen der Corona-Krise leiden, mich persönlich belastet das nicht so stark“, sagt er.

    Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, warnt weiter vor einem leichtsinnigen Umgang mit der Pandemie.
    Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, warnt weiter vor einem leichtsinnigen Umgang mit der Pandemie. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Doch auch für ihn stellt sich die Frage: Mit welcher Strategie gehen wir in diesen Herbst? Zwar steigt die Zahl der Neuinfektionen derzeit kaum an, doch der Blick auf das vergangene Jahr zeigt: das kann sich ändern. Am 8. Oktober 2020 lag der Inzidenzwert bei 20 – am 8. Oktober 2021 bei 63,8. Trotzdem ist die Situation in den Kliniken vergleichsweise entspannt, der Impffortschritt verhindert viele schwere Verläufe.

    Die meisten hospitalisierten Fälle werden derzeit laut RKI in der Altersgruppe der 35- bis 59-Jährigen übermittelt, gefolgt von der Altersgruppe der 60- bis 79-Jährigen und seit MW 37 der Altersgruppe 80plus. Seit August hat es zudem vermehrt Corona-Ausbrüche an Kitas und vor allem an Schulen gegeben. Die übermittelte Häufigkeit steige in diesem Jahr etwa zwei Monate früher an als im Vorjahr, so das RKI. „Ich glaube, dass die Fallzahlen in den nächsten Wochen wieder steigen werden“, sagt Lauterbach. Die Menschen halten sich in der kalten Jahreszeit wieder mehr in den Innenräumen auf, andere Infektionen schwächen das Immunsystem. „Die vierte Welle wird noch einmal anziehen – wenn auch nicht so dramatisch wie im vergangenen Jahr“, sagt Lauterbach. Doch eine echte Entwarnung will er nicht geben: Die Impfquote sei in allen Altersgruppen zu gering, um schwere Verläufe zu verhindern.

    Allerdings befeuert eben die Debatte um die Impfquote die Forderungen nach einem Freedom-Day, einem Tag der Freiheit nach britischem Vorbild. Das RKI nämlich musste seine Zahlen korrigieren: Es sei anzunehmen, dass unter den Erwachsenen bereits bis zu 84 Prozent mindestens einmal und bis zu 80 Prozent vollständig geimpft sind, heißt es in einem aktuellen RKI-Bericht. Das entspräche jeweils um fünf Prozentpunkte höheren Impfquoten als nach offiziellen Meldungen der Impfstellen.

    Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sprach von „richtig guten Nachrichten“. „Aus heutiger Sicht wird es keine weiteren Beschränkungen mehr brauchen“, sagte er mit Blick auf Herbst und Winter. Das ist dem Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, nicht genug. Er fordert baldige Lockerungen von Corona-Restriktionen. "Mit einer zu niedrigen Impfquote kann man nun nicht mehr für Corona-Maßnahmen argumentieren", sagte Gassen der Bild-Zeitung.

    „Der Freedom-Day rückt näher.“ Und weiter: „Schön, dass das RKI diese erfreulichen Zahlen nun liefert. Viel mehr als 80 Prozent gibt es nirgendwo auf der Welt.“ Länder wie Dänemark und Norwegen hatten eine ähnlich hohe Impfquote als Argument vorgebracht, warum Pandemie-Einschränkungen weitgehend fallen können. Seit September ist dort der Alltag weitgehend zurückgekehrt. Ein Anstieg der Inzidenzwerte ist seither nicht zu erkennen.

    Rückhalt für Corona-Regeln ist groß

    In Deutschland ist der Rückhalt für die Covid-Regeln noch vergleichsweise hoch. Zwar ist im Herbst 2021 die Sorge der Bundesbürger, dass die Zahl der Corona-Infektionen in Deutschland in den kommenden Wochen deutlich ansteigt, niedriger als noch im Sommer: Aktuell treibt diese Sorge 42 Prozent laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend um – im zurückliegenden Juli gab noch eine Mehrheit von 62 Prozent an, sehr große oder große Sorgen zu haben, dass die Infektionen wieder steigen könnten. Doch die Unterstützung für die geltenden Corona-Maßnahmen hat sich im Vergleich zum Juni dieses Jahres kaum verändert. Wie zu Beginn des Sommers bezeichnen auch derzeit sechs von zehn Befragten (60 Prozent) die bestehenden Corona-Maßnahmen grundsätzlich als angemessen. Für 13 Prozent gehen sie nicht weit genug, weiterhin jeder vierte Befragte (25 Prozent) bezeichnet sie als zu weitgehend.

    Das dürften vor allem für die bayerische Landesregierung erleichternde Umfrage-Zahlen sein. Denn die will ihren Weg der Vorsicht auch künftig fortsetzen. „Auch im Herbst bleiben wir vorsichtig und setzen auf unser wichtigstes Instrument: Impfungen", sagt Gesundheitsminister Klaus Holetschek. Weil inzwischen rund 63 Prozent der Menschen im Freistaat vollständig geimpft seien, könne man vorsichtige Öffnungsschritte gehen. "Für einen sorgenfreien Herbst reicht die Impfquote aber leider noch nicht aus", sagt der Minister. Die bekannten Regeln gelten weiter, ein Tag der Freiheit ist nicht vorgesehen.

    Auch Karl Lauterbach hält wenig von einem konkreten Freedom-Day, macht aber Hoffnung, dass sich die Situation bald ohnehin bessern wird. „Die Impfquote lässt erwarten, dass wir das Thema Corona im Frühjahr zum größten Teil überstanden haben“, sagt er. „Was bleiben wird, ist, dass die ärmeren Länder diese Welt weiterkämpfen müssen.“ Doch auch in Deutschland sei der Weg hin zur Herdenimmunität nicht unbedingt einfach. Denn ein Teil der Immunität wird wohl dadurch erreicht werden, dass sich im Herbst und Winter weitere Menschen anstecken werden und dadurch als Genesene gelten. „Wenn sich viele anstecken, werden einige daran sterben, andere werden unter Long-Covid leiden“, sagt Lauterbach. „Eine Herdenimmunität ohne Impfung ist also alles andere als eine Verheißung.“ Daher hoffe er, dass zumindest ein Teil der Herdenimmunität durch noch höhere Impfquoten erreicht werden kann.

    Je höher der Druck, desto größer die Trotzreaktion

    Doch genau da liegt der Haken. Denn wer sich bislang nicht hat impfen lassen, dürfte eine gehörige Portion Skepsis gegenüber der Immunisierung haben. Eine Untersuchung des Hamburg Center vor Health Economics (HCHE) zeigt: „Wer zurzeit noch nicht geimpft ist, zeigt sich unbeeindruckt von aktuellen Maßnahmen wie 2G oder kostenpflichtigen Tests“, so die Ergebnisse der Wissenschaftler. Nur maximal vier Prozent der Ungeimpften würden dadurch eine Impfung erwägen. Bei rund 30 Prozent führe dies sogar zu einer Gegenreaktion: Sie geben an, dass eine Impfung noch unwahrscheinlicher würde. „Neben der größten Sorge, dass die Impfung gegen Covid-19 möglicherweise nicht sicher genug ist, fühlen sich zwei von drei Ungeimpften durch Politik und Gesellschaft unter Druck gesetzt“, so Prof. Dr. Jonas Schreyögg, wissenschaftlicher Direktor des HCHE. Zu hoher Erwartungsdruck sei damit einer der Hauptgründe für Menschen, sich nicht impfen zu lassen. Dieser Druck wird ab dem 11. Oktober noch steigen: Corona-Tests müssen ab diesem Datum selbst bezahlt werden, Betriebe werden ermutigt, bei Veranstaltungen die 2G-Regel einzuführen, die nur noch Geimpften und Genesenen Zutritt gewährt. Vor allem Bayern will damit den Druck erhöhen.

    Getestet, Geimpft, Genesen, Gesund steht auf dem Shirt eines Demonstranten der aus Protest gegen die Corona-Politik mit Gleichgesinnten durch Berlin zieht.
    Getestet, Geimpft, Genesen, Gesund steht auf dem Shirt eines Demonstranten der aus Protest gegen die Corona-Politik mit Gleichgesinnten durch Berlin zieht. Foto: Christophe Gateau, dpa

    „Ein echter Impffortschritt wird nur zu erreichen sein, wenn die 2G-Regel sehr konsequent umgesetzt wird“, sagt auch der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach. „Ich halte daher die Vorgehensweise in Bayern für richtig – Corona sollte ohnehin keine parteipolitische Angelegenheit sein.“ Er geht davon aus, dass zumindest steigende Infektionszahlen Skeptiker noch einmal zum Umdenken bringen könnten. Andere politische Bemühungen hingegen sind weitgehend verpufft. „Die Impfwoche des Bundesgesundheitsministeriums hat leider nichts gebracht“, sagt Lauterbach. „Wenn wir die Impfbereitschaft erhöhen wollen, müssen wir anders herangehen.“ Den Menschen müsse sehr deutlich klargemacht werden, dass die gesundheitlichen Risiken – auch die langfristigen – bei einer Covid-Infektion deutlich höher seien als die einer Impfung. Es müsse also um den eigenen Nutzen gehen und weniger um eine Drohung. Auch die 2G-Regel sei kein Angriff auf die Ungeimpften, sie sei ein Schutz. „Auch Geimpfte können andere anstecken, das müssen wir verhindern“, sagt Karl Lauterbach. „Die 2G-Regel ist also eine epidemiologische Regel und hat nichts mit einer Bestrafungsmaßnahme zu tun.“

    Wie umgehen mit radikalen Querdenkern?

    Auch dürfe nicht der Fehler gemacht werden, aus Angst vor gewaltbereiten Corona-Leugnern die eigenen Überzeugungen zu opfern. Die Radikalisierung der Impfgegner sei in Teilen schon geschehen. „Aber was wäre denn die Alternative?“, fragt Lauterbach. „Wir können doch jetzt nicht sagen, wir geben die Regeln auf und riskieren Infektionen und Todesfälle, nur weil wir Angst vor Querdenkern haben. Sollen wir von medizinisch notwendigen Schutzmaßnahmen absehen, damit wir nicht erschossen werden?“ Die Politik dürfe sich nicht von einer radikalisierten Minderheit erpressen lassen. Entweder die Regierung halte die Maßnahmen für sinnvoll und stehe dann auch für sie ein – oder sie seien medizinisch hinfällig und müssten dann abgeschafft werden.

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