Für die meisten Regierungschefs der Welt ist die Corona-Pandemie derzeit das Thema Nummer eins. Für Mustafa al-Kasimi hingegen ist die Seuche nur ein Problem von vielen. Der 53-jährige Ex-Geheimdienstchef wurde vom Parlament in Bagdad zum neuen Ministerpräsidenten des Irak gewählt. Damit wurde ein monatelanges Machtvakuum in dem Krisenland beendet.
Doch Kasimi steht zugleich vor einem Strudel aus Konflikten und Schwierigkeiten, die den Fortbestand des Staates bedrohen. Die Menschen im Irak sind Krisen gewohnt, doch jetzt ist die Lage besonders schlimm. Der Ölpreisverfall stürzt den Haushalt ins Chaos, landesweite Proteste erschüttern die Politik und der „Islamische Staat“ greift wieder an.
Manche Beobachter nennen den Irak einen „gescheiterten Staat“
Schon in normalen Zeiten ist es im Irak schwierig, eine Regierung zu bilden. Die Postenvergabe erfolgt im Irak nach einem Proporzsystem, das nach dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein 2003 entstand. Traditionell ist der Präsident ein Kurde, der Parlamentspräsident ein Sunnit und der Ministerpräsident ein Schiit; auch bei den Ministerposten wird auf einen Proporz geachtet.
Diese Machtteilung soll eine erneute Diktatur und blutige Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen verhindern. Weil die Schiiten die Mehrheit bilden, geben ihre Parteien maßgeblich den Ton an. Kritiker sehen in diesem System einen der Hauptgründe für die weitverbreitete Korruption. Manche Beobachter nennen den Irak einen „gescheiterten Staat“.
Parlament will erst später über Ölminister und Außenminister abstimmen
Der Nachbar Iran, der über schiitische Parteien viel Einfluss auf die Regierungsbildung in Bagdad hat, macht die Konsenssuche noch schwieriger: Die irakischen Politiker brauchten nach dem Rücktritt von Ex-Premier Adil Abdu-Mahdi, der im Herbst von Massenprotesten aus dem Amt gejagt wurde, fast ein halbes Jahr, um sich auf Kasimi zu einigen. Im April verhinderten pro-iranische Parteien die Wahl des früheren Provinzgouverneurs Adnan al-Zurfi, der aus Sicht Teherans zu Amerika-freundlich war. Selbst nach Kasimis Wahl gibt es weiter Streit um wichtige Posten: Über den neuen Ölminister, den neuen Außenminister und über andere Kabinettsmitglieder will das Parlament erst später abstimmen, da es vorab keine Einigung auf Kandidaten gab.
Kasimi sei für den Iran im Vergleich zum vorherigen Kandidaten Zurfi das „kleinere Übel“, schrieb der Irak-Experte Ali Alfoneh vom US-Institut für die arabischen Golfstaaten. Ismail Qaani, Chef der iranischen Elitetruppe Quds und Nachfolger des von den USA ermordeten Generals Qassem Soleimani, gab laut Presseberichten bei einem kürzlichen Besuch in Bagdad grünes Licht für Kasimi. Möglicherweise geschah das ohne große Begeisterung: Ein treuer Gefolgsmann Teherans wäre wohl nicht durchsetzbar gewesen.
Die USA und der Iran wollen sich gegenseitig aus dem Irak vertreiben
Das heißt aber nicht, dass der Iran seinen Einfluss auf den Irak aufgeben will. Der US-Mordanschlag auf Soleimani am Flughafen von Bagdad zeigte, wie sehr das Land zum Schlachtfeld von Amerika und Iran geworden ist. Nach dem Tod des iranischen Generals im Januar griff der Iran amerikanische Stützpunkte im Irak mit Raketen an. Die USA und Iran wollen sich gegenseitig aus dem Irak vertreiben – auch deshalb ist die Regierungsbildung in Bagdad für beide Seiten so wichtig.
Aus Sicht der USA ist Kasimi ein verlässlicher Partner; unmittelbar nach seiner Wahl in der Nacht zum Donnerstag telefonierte der neue Premier mit US-Außenminister Michael Pompeo. Anders als frühere irakische Premiers kommt Kasimi nicht aus dem Dunstkreis proiranischer Parteien, sondern ist ein säkularer Politiker und ein Pragmatiker. Er war ein Gegner Saddam Husseins und floh bereits in den 1980er Jahren ins Ausland.
Iraks neuem Ministerpräsidenten Kasimi fehlt die politische Erfahrung
Nach Saddams Sturz leitete er bis 2010 die Iraq Memorial Foundation, die Verbrechen unter dem Diktator dokumentiert. Was ihm fehlt, ist politische Erfahrung. Zudem verfügt er über keine politische Hausmacht, was seine Aufgabe weiter erschwert. Doch er besitzt allgemein einen guten Ruf. Als Ministerpräsident, der den Respekt der USA genieße, könne Kasimi mehr für den Irak erreichen als andere, sagte Michael Knights vom Institut für Nahost-Studien in Washington der New York Times. Für Juni sind irakisch-amerikanische Gespräche über weitere wirtschaftliche und militärische Hilfen aus Washington geplant.
Einen ersten Erfolg konnte Kasimi indes verbuchen: Pompeo sagte zu, den Irak weitere vier Monate lang von US-Sanktionen wegen der Einfuhr von Strom aus dem Iran auszunehmen. Das verschafft dem neuen Premier zumindest etwas Luft, während er sich mit den drastischen Folgen des gesunkenen Ölpreises auseinandersetzen muss: 90 Prozent der Staatseinnahmen kommen aus dem Ölsektor. Kasimi hat zudem versprochen, sich mit Vertretern der Protestbewegung zu treffen und sich von ihnen beraten zu lassen. Damit signalisiert er ein Ende der brutalen Polizeieinsätze gegen die Demonstranten, die mehr Demokratie und Arbeitsplätze für die rasch wachsende Bevölkerung fordern.
Der Isalmische Staat ist in vielen Regionen des Irak wieder aktiv
Gleichzeitig muss sich Kasimi um den Kampf gegen den Islamischen Staat kümmern, der wieder in vielen Regionen des Landes und auch in der Nähe von Bagdad aktiv ist und erst am vergangenen Wochenende zehn Kämpfer einer irakischen Miliz tötete. In den vergangenen Wochen häuften sich Berichte über IS-Angriffe. Es gehört zu den Strategien der Dschihadisten, sich Machtvakuen, schwache Regierungen und Wirtschaftskrisen zunutze zu machen. Vor allem aber muss Kasimi eine Gratwanderung zwischen den USA und deren Hauptfeind Iran vollführen: Beide Staaten wollen ihren Einfluss im Irak ausweiten und tragen ihren Streit auf dortigem Boden aus. Eine Schonfrist wird es für Kasimi nicht geben.
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