Der Begriff „Reform“ ist in der Politik traditionell positiv besetzt. Im 19. und 20. Jahrhundert waren es Reformen, die die Arbeiterklasse aus dem Elend und der Unmündigkeit befreiten oder die Rechte der Frauen stärkten. Natürlich gibt es auch Reformen, die nach hinten losgehen. In der Bundeswehr sorgen Ankündigungen, dass „alles auf den Prüfstand“ gehöre oder die „Strukturen auf den Kopf gestellt werden“ müssten seit der Wende 1990 für düstere Vorahnungen. Für die Truppe bedeutete das oft Chaos, Sparzwang, oder Umzug mit der Familie. „Jetzt wird alles nur noch schlimmer“, heißt es oft. Diese Befindlichkeiten kennt der Co-Autor eines Thesenpapiers zur Zukunft der Bundeswehr, Hans-Peter Bartels genau. Dennoch, auch der ehemalige Wehrbeauftragte und sein Mitstreiter, der General a.D. Rainer Glatz, wollen Reformen, und zwar einschneidende.
Der Sorge der Soldaten und Soldatinnen vor radikalen Veränderungen versucht das Duo mit dem Leitsatz „So viel Kontinuität wie möglich, so viel Reform wie nötig“ die Grundlage zu entziehen. Im Kern fordern die Autoren in ihrem „Denkanstoß“, der von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) veröffentlicht wurde, mehr gut ausgerüstetes Personal für eine hohe Einsatzbereitschaft der Bundeswehr – weg vom rein betriebswirtschaftlichen Denken, hin zu schlanken und handlungsfähigen Verwaltungsstrukturen.
Die Verteidigung im Bündnis gewinnt wieder an Bedeutung
Die Situation hat sich in zwei Punkten gedreht. Nach 1990 sollte die Bundeswehr, die mit großen Panzereinheiten auf die Verteidigung Deutschland und der Nato-Allianz gegen einen Angriff aus dem Osten ausgerichtet war, fit gemacht werden für Auslandseinsätze zur Krisenbewältigung. Spätestens nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 rückte allerdings auch wieder die Bündnisverteidigung in den Mittelpunkt der Politik. Ein Spagat, der bis heute regelmäßig missglückt.
Immerhin fließt seit einigen Jahren deutlich mehr Geld in den Haushalt des Verteidigungsministeriums. Lag das Budget im Jahr 2014 noch bei knapp 32,5 Milliarden Euro, stehen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer für das laufende Jahr gut 45,5 Milliarden zur Verfügung.
„Schrumpfen ist gestoppt, das Wachsen hat begonnen“, schreiben Bartels und Glatz. Doch wer mit diesem Satz Aufbruchstimmung in Verbindung bringt, täuscht sich. Denn das Geld trifft auf Strukturen, die nicht geeignet sind, die neuen Mittel effektiv einzusetzen. Die Folgen sind bekannt: Defekte Hubschrauber und U-Boote, Neuanschaffungen, die sich als Rohrkrepierer entpuppen. Sogar die Anschaffung eines neuen Sturmgewehres gerät zur Posse. Beispiele, die von Politik und Medien aufgegriffen werden und geeignet sind, die Reste des Vertrauens in die Fähigkeiten des Verteidigungsministeriums und der Bundeswehr zu zerstören.
Seit 20 Jahren wurden die Weichen falsch gestellt
Die Autoren sehen die Ursachen für die Dauerkrise in falschen Weichenstellungen seit 2000. Die Weizsäcker-Kommission unter der Leitung des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker habe dem damaligen neoliberalen Zeitgeist folgend, den Einzug betriebswirtschaftlichen Handelns für die Streitkräfte propagiert. Wo immer möglich, sollten Privatfirmen staatliche Aufgaben übernehmen. Endziel der Kommission: Das „Unternehmen Bundeswehr“. Zehn Jahre später forderte eine Kommission um den damaligen Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, den Weg der Auslagerungen und Privatisierungen noch entschlossener zu gehen.
Einige Elemente der Pläne wurden umgesetzt – andere blieben auf halber Strecke stecken oder verschwanden in der Schublade. Das Ergebnis ist ernüchternd: Bartels spricht von Strukturen, die nicht aufeinander angepasst sind. So werde viel Geld verschleudert. Der SPD-Politiker, der gerne für eine weitere Amtszeit Wehrbeauftragter geblieben wäre, aber von seiner eigenen Partei ausgebremst wurde, ließ in seinen „Denkanstoß“ Erkenntnisse aus seinem letzten Wehrbericht , den er im Januar 2020 vorstellte, einfließen. Für den Bericht wurden systematisch Frauen und Männer der Streitkräfte nach Problemen in der Bundeswehr gefragt worden. Ganz oben stand der Wunsch, dass essenzielle Aufgaben wie die Beschaffung von Material wieder dezentral zu organisieren, anstatt zentralistischen Mammutbehörden zu überlassen.
Zu viele Kommandobehörden, zu wenig Soldaten
Ein grundlegendes Übel sieht Ex-General Glatz in den berüchtigten doppelten Befehlsstrukturen und eine aufgeblähten Bürokratie. „Wir haben die kleinste Bundeswehr aller Zeiten. Aber wir haben die meisten Kommandobehörden und Stäbe“, sagte Rainer Glatz der Welt. Um dieses Missverhältnis wieder ins Lot zu bringen, raten die Autoren dazu, die Zergliederung der Bundeswehr-Strukturen zum Teil rückgängig zu machen. So könnten die Streitkräftebasis, der Sanitätsdienst und der Cyber- und Informationsraum, die als selbstständige Bereiche geschaffen wurden, wieder in die klassischen Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine integriert werden.
Als sicher kann gelten, dass Kramp-Karrenbauer, aber auch die Verteidigungsexperten aller Parteien die „Denkanstöße“ ganz genau gelesen haben. Genauso sicher sind sich Hans-Peter Bartels und Rainer Glatz jedoch, dass eine Reform in ihrem Sinne vor der Bundestagswahl im September 2021 nicht realistisch ist. Sie setzen auf die Zeit danach. Eine frisch gewählte Regierung könnte, so das Kalkül der Experten, auf Basis ihrer Vorschläge, die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr wieder auf ein akzeptables Level heben und gleichzeitig den Dienst für die Soldatinnen und Soldaten attraktiver und befriedigender machen.
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