Sind wir aus dem Gröbsten raus oder gehen wir schon zu leichtfertig mit Corona um? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat zumindest Verständnis für die Sehnsucht vieler Menschen nach Lockerungen, nach ein bisschen mehr Normalität. "Die Beschränkungen kann man ja auf Dauer in einem freiheitlichen Staat auch nicht durchhalten und nicht durchsetzen, wir können das am Ende nicht erzwingen", sagte der CDU-Politiker in unserem Live-Interview. 45 Minuten lang stellte sich der Krisenmanager den Fragen von Chefredakteur Gregor Peter Schmitz und unseren Lesern - Corona-bedingt ohne Publikum, dafür per Videoschalte.
Jens Spahn warnt im Live-Talk vor Spaltung der Gesellschaft
Es gehe immer wieder aufs Neue darum, die richtige Balance zu finden, betonte Spahn zur Diskussion um Lockerungen. "Das Virus ist noch da, wir müssen alle aufeinander aufpassen", warnte der 40-Jährige. Dass Bundesländer wie Thüringen die Schutzmaßnahmen quasi komplett aufheben wollen, bringt ihn trotzdem nicht aus der Ruhe. "Das Ziel haben wir gemeinsam, die Zahl der Neuinfektionen zu reduzieren und im Griff zu behalten, aber die unterschiedlichen Lagen erlauben dann natürlich auch eine unterschiedliche Herangehensweise", sagte der Minister. Parallelen mit dem Kampf gegen HIV, wie Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow sie gezogen hat, hält Spahn dennoch für schwierig. "Die beiden Viren sind jedenfalls in vielerlei Hinsicht nicht vergleichbar und vor allem auch der Übertragungsweg", gab der Gesundheitsminister zu bedenken.
Es gebe bestimmte Zuständigkeiten des Bundes, aber es sei immer klar gewesen, dass die konkreten Entscheidungen vor Ort Länder und Kommunen treffen. Dass sich nicht nur Politiker, sondern auch Virologen dabei immer wieder korrigieren müssten, hält Spahn für wenig überraschend. "Offenkundig lernen wir jeden Tag etwas dazu."
Den Vorwurf, über die drastischen Einschränkungen sei zu wenig diskutiert worden, hält Spahn für unangebracht. Zur vermeintlichen Alternativlosigkeit der Regierungspolitik sagte er lakonisch: "Es gibt natürlich immer eine Alternative. Eine Alternative wäre zum Beispiel gewesen, nichts zu tun und sich das Virus einfach weiter ausbreiten zu lassen." Der 40-Jährige spürt, dass die Stimmung in der Bevölkerung angespannt ist und fordert eine offene Debattenkultur, wie es nun weitergehen soll. "Entscheidend ist die Frage: Wollen wir einander zuhören dabei und verstehen, warum jemand eine andere Position hat als man selbst oder ist jeder in seiner Echokammer und es wird immer polarisierter und man beschimpft sich und macht sich gegenseitig Vorwürfe?"
Am Anfang der Pandemie habe es ein neues Wir-Gefühl gegeben, nun drohe eine ähnliche Spaltung wie auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. "Wir müssen sehr aufpassen, dass uns das nicht wieder passiert", betonte der CDU-Politiker.
Gesundheitsminster Spahn will keine Impfpflicht gegen Corona einführen
Eine Impfpflicht gegen das Coronavirus will Spahn, so es denn bald einen Impfstoff geben wird, ausdrücklich nicht einführen. Er setzt darauf, dass ein sehr großer Teil der Bevölkerung sich freiwillig impfen lässt. Dass in sozialen Netzwerken oder auf Corona-Demos trotzdem gegen eine angeblich geplante Impfpflicht gewettert wird, macht ihn etwas ratlos.
Und wie wird Corona unseren Alltag auf Dauer verändern? "Ich glaube schon, dass nicht einfach alles wieder so sein wird wie vorher, aber dass es wieder unbeschwert werden kann wie vorher, davon bin ich fest überzeugt", sagte Spahn. Dafür wären ein Impfstoff und eine gute Therapie wichtige Bausteine. Auch die Hoffnung auf entspannte Tage in den Sommerferien gibt Spahn übrigens nicht auf. "Mein Sommerurlaub wird dieses Jahr in Bayern sein, da war der Markus Söder offensichtlich besonders überzeugend", sagte er mit einem Augenzwinkern über den bayerischen Ministerpräsidenten. "Ich komme ja aus dem Münsterland, bei uns ist alles flach und der Münsterländer freut sich, wenn er mal ein paar Berge sieht."
Das gesamte Video zum Live-Talk finden Sie hier.
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