Die Fähigkeit, sich kurzzufassen, ist nicht jedem Politiker gegeben. Auch Angela Merkel verliert sich gerne in Halb- und Nebensätzen, ermüdet ihr Publikum oft mit wortreichen, spröden Monologen – und sich selbst vermutlich auch. An zwei entscheidenden Punkten ihrer Karriere allerdings begnügt sich die Kanzlerin mit drei knappen Worten, um ihre Anliegen zu formulieren. „Sie kennen mich“, sagt sie im Wahlkampf 2013, als sei das alleine schon Grund genug, wieder die Union zu wählen. Und, natürlich, das berühmt-berüchtigte .
PR-Profi Steg über Merkels "Wir schaffen das": "Da ist sie ins Risiko gegangen"
Es ist einer jener seltenen Momente, in dem die sonst so überlegte Kanzlerin nicht lange überlegt. Ihren Entschluss nicht noch einmal überschläft. „Da ist sie ins Risiko gegangen“, sagt Thomas Steg, der erst Gerhard Schröder und dann Angela Merkel als stellvertretender Regierungssprecher diente. Das Schicksal der Flüchtlinge in Ungarn vor Augen, sei für sie schnell klar gewesen: „Die können wir nicht abweisen, diese Menschen müssen wir nach Deutschland lassen.“ Was das an Problemen nach sich ziehen würde, ahnte sie nicht – in EU-Europa, in ihrer eigenen Partei, ja im gesamten politischen Spektrum, weil dadurch die schon tot geglaubte AfD politisch wiederbelebt wurde.
Steg allerdings ist sich auch sechs Jahre danach noch sicher: „Nicht die Aussage an sich war problematisch. Problematisch war, dass die Entscheidung, die Grenzen offen zu lassen, kommunikativ überhaupt nicht vorbereitet war.“ Die Kanzlerin hatte das Land, ganz entgegen ihrer Art, regelrecht überrumpelt.
Dabei gilt sie sonst doch als die Vorsicht in Person – und entsprechend distanziert, um nicht zu sagen defensiv ist auch ihr Umgang mit den Medien und der Öffentlichkeit ganz allgemein. „Die Kanzlerin ist keine Spielerin. Sie hat eine Risikoaversion“, sagt Steg, der heute als Cheflobbyist für den Volkswagen-Konzern arbeitet. Wo ihr Vorgänger Gerhard Schröder auch mal mit Unfertigem oder Halbgarem vorpreschte, um die Reaktionen draußen, im Land, zu testen, überlasse Angela Merkel nichts dem Zufall.
Angela Merkel war selbst einmal stellvertretende Regierungssprecherin – in der DDR
Die spontane, gelegentlich etwas hemdsärmelige Art, die Schröder im Umgang mit den Medien pflegte, hat sie durch eine effiziente, professionelle Form der Kommunikation ersetzt, die auch dem früheren Schröder-Intimus Steg Respekt abnötigt. Mit welchen Themen, welchen Botschaften und welchen Bildern sie auch in die Öffentlichkeit trete, sagt der PR-Profi, „wird bei ihr viel perfekter und konsequenter organisiert als bei allen früheren Bundeskanzlern“. Angela Merkel, von ihrem Naturell her eher uneitel und in den letzten DDR-Tagen selbst einmal stellvertretende Regierungssprecherin, hat früh erkannt, dass Politik sich, erstens, nicht von alleine erklärt und, zweitens, auch inszeniert werden will.
Das liegt auch an der veränderten Medienlandschaft, dem veränderten Medienkonsum und den neuen digitalen Möglichkeiten, die der Kanzler Schröder noch nicht hatte. Jahrzehntelang war die Medienwelt in Deutschland so übersichtlich wie der Mannheimer Stadtplan mit seinen Planquadraten, es gab die ARD und das ZDF, die Tageszeitung, den Spiegel, den Stern – und sonst nicht mehr viel. Eine exklusive Nachricht konnte eine Redaktion da auch mal einen Tag liegen lassen, ohne gleich deren Exklusivität zu riskieren.
Twittern lässt sie ihren Sprecher Steffen Seibert
Heute dagegen bestimmt das anonyme Netz den Takt, besser gesagt: die sozialen Netzwerke. Instagram, Facebook, Twitter, Youtube: „Über sie erreicht die Politik viele Menschen, die sie über die klassischen Medien nicht mehr erreicht“, sagt der Experte Steg. „Sie sind in gewisser Weise auch meinungsbildend, und wer hier nicht vertreten ist, gilt auch schnell als nicht mehr modern, nicht auf der Höhe der Zeit.“ Deshalb twittert Regierungssprecher Steffen Seibert. Und deshalb hat das Bundespresseamt eine Plattform erfunden, die wie maßgeschneidert für Angela Merkel war – ihren Podcast.
Bei diesen Videobotschaften bestimmt die Kanzlerin selbst die Themen, sie muss keine kritischen Nachfragen von Journalistinnen und Journalisten befürchten und kann sich doch sicher sein, dass das, was sie sagt, seinen Weg hinaus ins Land findet. In der Regel geschickt an den Beginn des nachrichtenarmen Wochenendes gesetzt, wird sie so in Sendern, Zeitungen und Onlinediensten zitiert, ohne auch nur eine Frage beantworten oder eine Rede halten zu müssen – für den Kommunikationsprofi Steg die größte Innovation in Merkels Öffentlichkeitsarbeit, für Journalisten dagegen ein höchst unbefriedigender Zustand.
Interviewtermine bei Kanzlerin Merkel sind eine begehrte Währung
Größere Pressekonferenzen zur Einvernahme der Kanzlerin gibt es nur in besonderen Lagen wie zuletzt in der Corona-Krise. Ein persönliches Interview gar? Die Termine dafür sind im politischen Berlin seit jeher eine der begehrtesten Währungen – viele Journalisten in der Hauptstadt warten darauf ein Berufsleben lang vergebens.
Gerhard Schröders legendäre Bemerkung, zum Regieren benötige er nur die Bild-Zeitung, die Bild am Sonntag und „die Glotze“, wirkt vor diesem Hintergrund schon wie aus der Zeit gefallen. Angela Merkel, könnte man sagen, braucht nicht einmal mehr das, sie ist sich selbst genug. Einmal im Jahr vor die Bundespressekonferenz wie an diesem Donnerstag, alle halbe Jahre ein größeres Interview: Was ihre Kritiker der Kanzlerin als Scheu vor den Medien auslegen, wenn nicht gar als deren Missachtung, nennt ihr früherer Berater Steg „kommunikative Disziplin“. Angela Merkel gehe es nicht darum, dass möglichst viel über sie berichtet werde, sondern dass das Richtige berichtet werde – genauer gesagt: das, was sie für richtig hält.
Angela Merkel: Meilensteile im Leben einer Kanzlerschaft
Frau Bundeskanzler?
Der bayerische Politiker-Parodist Wolfgang Krebs beschäftigte sich kürzlich mit der Frage „Kann eigentlich auch ein Mann Bundeskanzlerin werden?“ Da sieht man mal, wie 16 Jahre eine Gesellschaft prägen können. Schließlich ist es zu Beginn der Ära von Angela Merkel genau anders herum. Damals zucken die Deutschen noch unwillkürlich beim Feierabendbier zusammen, wenn eine Meldung in der „Tagesschau“ mit den Worten „Bundeskanzlerin Angela Merkel …“ beginnt. Am 22. November 2005 wird die damals 51-Jährige vereidigt – und tatsächlich fragen sich die Deutschen, wie man die neue Regierungschefin nun ansprechen wird. „Frau Bundeskanzler“? Die Gesellschaft für deutsche Sprache sorgt umgehend für Klarheit und macht „Bundeskanzlerin“ zum Wort des Jahres.
Wie im Märchen
Merkels Zeit im neuen Amt beginnt märchenhaft. Im Sommer 2006 berauschen sich die Deutschen an der Fußball-Weltmeisterschaft daheim – und an einer völlig neuen, unverkrampften Art, das eigene Land zu feiern. Die Welt staunt über die schwarz-rot-goldene Lebensfreude des deutschen Sommermärchens, das für die Fußballer zwar kein Happy End hat, aber das Ansehen der Bundes republik dauerhaft verbessert. Mittendrin eine Kanzlerin, die auf der Tribüne etwas unbeholfen, aber dafür höchst ungekünstelt die Arme hochreißt und nach dem Spiel schon mal in der Kabine auftaucht, um sich mit Poldi und Schweini fotografieren zu lassen. Merkel spielt die Fußball-Anhängerin nicht nur für die Kameras, sie interessiert sich tatsächlich dafür. Dass ihr Herz für den FC Bayern München schlägt, hängt sie aber lieber nicht an die große Glocke.
Alltagsarbeit
Weniger Euphorie löst eine der ersten großen politischen Entscheidungen ihrer Kanzlerschaft aus. Die Deutschen sollen länger arbeiten. Mit ihrer Entscheidung im Jahr 2007, das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre anzuheben, will die Große Koalition den Anstieg der Beiträge bremsen. Heute wieder aktuell.
Angst um die Ersparnisse
Im Herbst 2008 beginnt für die Bundeskanzlerin ihre erste von vielen Krisen. In den USA bricht ein unheilvolles System aus faulen Krediten in sich zusammen. Die „Subprime-Krise“ treibt Bankriesen wie Lehman Brothers in die Pleite und vernichtet innerhalb weniger Tage Milliardenwerte an den Börsen. Das weltweite Finanzsystem steht am Rande des Abgrundes. Millionen Kleinanleger sind ruiniert, Hochstapler fliegen auf. Und die Deutschen haben Angst um ihre Ersparnisse.
So entschlossen wie selten in ihrer Kanzlerschaft geht Angela Merkel in die Offensive. Gemeinsam mit Finanzminister Peer Steinbrück tritt sie vor die Kameras und verspricht den Bürgerinnen und Bürgern, der Staat garantiere dafür, dass ihr Geld sicher ist. Ob sie dieses Versprechen bei einem Kollaps des Bankensystems hätte halten können, ist mehr als fraglich. Doch mit ihrem Versprechen verhindern Merkel und Steinbrück, dass die Menschen ihr Geld panikartig von Konten und Sparbüchern holen und eben jenen drohenden Kollaps herbeiführen.
Die klammen Griechen
In der Folge des Bankendesasters geraten auch immer wieder Staaten in finanzielle Schieflage. Aus der Finanzkrise entstehen die Schuldenkrise und die Euro-Krise. Die „klammen Griechen“ werden zum Symbol für katastrophale Haushaltspolitik. Lange, bevor der Brexit Europa in Turbulenzen stürzen wird, geht es um den Grexit. Im Streit um einen Austritt Griechenlands aus dem Euro wird die deutsche Kanzlerin zur Hassfigur – Nazi-Vergleiche inklusive. In langen Verhandlungsnächten in Brüssel ringen die Staats- und Regierungschefs um gigantische Rettungsschirme – und die Bedingungen für solche Hilfsgelder. Die Zukunft der noch jungen gemeinsamen Währung steht auf dem Spiel. Auch Deutschland stürzt in eine tiefe Rezession. Mit milliardenschweren Konjunkturpaketen hält die Bundesregierung dagegen. Berühmt wird die sogenannte Abwrackprämie, die den Deutschen den Kauf eines neuen Autos schmackhaft machen soll.
Wieder Wahl
2009 gewinnt Angela Merkel das Duell gegen SPD-Herausforderer Frank-Walter Steinmeier. Allerdings kassiert sie das schlechteste Ergebnis aller Zeiten für die Union. Zur zweiten Amtszeit verhilft ihr eine starke FDP, mit deren Chef Guido Westerwelle sie ein freundschaftliches Verhältnis verbindet.
Der GAU
Als Naturwissenschaftlerin macht Merkel nüchternen Pragmatismus zum Regierungsprinzip. Wir prüfen alte Antworten und geben neue, heißt ihr Prinzip. Dass diese neuen Antworten oftmals am Markenkern von CDU und CSU kratzen, nimmt sie in Kauf. Wenn ihre Gegner der Kanzlerin politische Beliebigkeit attestieren, beziehen sie sich neben dem Ende der Wehrpflicht oder der „Ehe für alle“ immer auch auf eine Katastrophe, die im März 2011 in Japan stattfindet.
Obwohl die schwarz-gelbe Regierung gerade erst beschlossen hatte, die deutschen Kernkraftwerke länger laufen zu lassen als geplant, dreht sich der Wind nach dem GAU von Fukushima. Merkel ruft die Energiewende aus und verkündet, schon Ende 2022 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen. „Die Ereignisse in Japan lehren uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind“, sagt Merkel. Die Energiekonzerne toben und kämpfen am Ende erfolgreich um Milliardenentschädigungen.
Abhören unter Freunden
Mit US-Präsident Barack Obama pflegt die Kanzlerin ein fast herzliches, auf jeden Fall vertrauensvolles Verhältnis – das im Sommer 2013 auf eine harte Probe gestellt wird. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllt, wie der amerikanische Auslandsgeheimdienst NSA die eigenen Verbündeten ausspioniert hat. Es gibt Spekulationen, die US-Schnüffler könnten sogar Merkels Handy abgehört haben. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA stehen vor einer ernsten Belastungsprobe. „Abhören von Freunden, das ist inakzeptabel, das geht gar nicht“, lässt Merkel ihren Sprecher klarstellen.
Höhepunkt
Die meisten Deutschen fühlen sich inzwischen recht gut aufgehoben bei ihrer Kanzlerin, die eine Krise nach der anderen so unaufgeregt abarbeitet, dass andere Nationen nur staunen können. Bei der Bundestagswahl 2013 holt die Amtsinhaberin mit 41,5 Prozent der Stimmen ein Ergebnis, das beinahe an alte Bonner Zeiten erinnert und schrammt nur knapp an der absoluten Mehrheit vorbei. Weil die von Merkel schier erdrückte FDP allerdings aus dem Bundestag fliegt, geht ihr der Koalitionspartner verloren. Es kommt zu einer Neuauflage der Großen Koalition, die damals ihren Namen noch verdient hat.
Weltmeisterin
Die Karrieren von Angela Merkel und Joachim Löw verlaufen nicht nur in ihrer Dauer parallel. Bundeskanzlerin und Bundestrainer befinden sich auch nahezu zeitgleich auf dem Zenit ihres Schaffens und ihrer Popularität. Im Sommer des Jahres 2014 tummelt sich auf brasilianischen Fußball-Tribünen allerhand Politprominenz – auch Merkel jettet um die Welt, um die Nationalmannschaft live zu sehen. Heute gäbe es dafür womöglich einen Shitstorm (nichts Wichtigeres zu tun? Und das alles mit unseren Steuergeldern?), damals jedoch surfen Merkel und Deutschlands Fußballer auf einer Sympathiewelle bis zum Weltmeistertitel. Besser wird es nicht. Die Deutschen entfremden sich in den folgenden Jahren von ihrem Nationalteam – und von ihrer Kanzlerin.
Wir schaffen das
Im nächsten Jahr werden sich die Menschen am meisten über einen Satz streiten, der doch eigentlich ganz und gar positiv klingt: „Wir schaffen das.“ Drei Worte, die Zuversicht vermitteln sollen – und Angst provozieren. Drei Worte voller Emotion – aus dem Munde einer Kanzlerin, der Emotionen bislang eher unheimlich erschienen. Merkel will ein Deutschland, das Menschen in Not hilft, das ihnen Schutz bietet. Und sie unterschätzt, was diese Worte auslösen. Wenige Wochen zuvor hatte man in der SPD noch darüber nachgedacht, ob man überhaupt jemanden gegen die unschlagbare Merkel ins Rennen sollte. Nun schlagen der Kanzlerin plötzlich Wut und Abneigung entgegen.
Die Bilder von hunderttausenden Flüchtlingen, die sich nach Deutschland aufmachen, spalten die Republik und lassen rechts von CDU und CSU eine Partei erstarken, die mit der Stimmung Stimmen macht. Erstmals in ihrer Zeit als CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin gerät Merkel aus den eigenen Reihen unter Beschuss. Mit CSU-Chef Horst Seehofer wird ausgerechnet der Mann zu ihrem härtesten Rivalen, der vor der Flüchtlingskrise noch davon gesprochen hatte, mit dieser Kanzlerin sei bei der nächsten Bundestagswahl die absolute Mehrheit drin. Beim CSU-Parteitag stellt er Merkel bloß (Stichwort Schulmädchen), er spricht von einer „Herrschaft des Unrechts“ und meint damit die Politik der eigenen Bundesregierung.
Letzter Sieg
Merkel hat ihre Politik nie besonders gut erklärt. Solange ihr die Deutschen vertrauten, störte das keinen besonders. Doch nun, da viele sich Sorgen machen, ob das Land so viele Flüchtlinge integrieren kann, wird ihr diese Sprachlosigkeit zum Verhängnis. Die Bundestagswahl 2017 markiert eine Zeitenwende. Die in Teilen rechtsextreme AfD zieht erstmals ins Parlament ein. Die Union stürzt auf den niedrigsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik. Dennoch bleibt sie klar stärkste Kraft. Und zur Wahrheit gehört auch, dass viele Menschen gerade wegen Merkel CDU und CSU gewählt haben.
Dennoch schmeckt dieser letzte Wahlsieg bitter. Merkel geht schwer angeschlagen in die vierte Amtszeit. Bei Landtagswahlen kassiert die CDU eine Niederlage nach der anderen. „Merkel muss weg“, brüllen nun nicht mehr nur die Wutbürger im Osten. Auch in der eigenen Partei macht sich eine gewisse Merkelmüdigkeit breit. Verpasst die ewige Kanzlerin das, was ihr viele Beobachter zugetraut hatten: einen selbstbestimmten Abgang von der politischen Bühne? Kein Bundeskanzler vor ihr ging freiwillig, alle wurden abgewählt, sahen sich zum Rücktritt gezwungen oder wurden gestürzt. Passiert Merkel das auch?
Anfang vom Ende
Ein Jahr nach der Bundestagswahl beginnt der Rückzug auf Raten. Nach einem miesen Ergebnis der CDU bei der Landtagswahl in Hessen 2018 kündigt sie an, beim nächsten Parteitag nicht mehr für das Amt der Parteivorsitzenden zu kandidieren. Außerdem erklärt sie, dass am Ende der Legislaturperiode 2021 auch im Kanzleramt Schluss sein wird. So nachdenklich, so persönlich hat man Merkel selten gesehen. Die Frage, ob eine derart angezählte Regierungschefin wirklich noch so lange im Amt bleiben kann, steht im Raum. Zumal in der zweiten Reihe umgehend der Kampf um das Erbe beginnt. Es wird ein Drama in zwei Akten. Im ersten Anlauf setzt sich Merkels Wunschnachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer gegen Merkels Erzrivalen Friedrich Merz durch. Doch die Ära AKK wird nicht von langer Dauer sein. Was auch daran liegt, dass sich die neue Parteichefin im Schatten der Kanzlerin nicht entfalten kann. Nach zwei Jahren braucht die CDU schon wieder einen neuen Chef. Diesmal setzt sich Armin Laschet durch, der auch im Kanzleramt in Merkels Fußstapfen treten will.
Die Pandemie
Dass die Ära Merkel nicht einfach ihrem Ende entgegen plätschert, wie viele prognostiziert hatten, liegt an einem Virus, das im wahrsten Sinne des Wortes die Welt erobert. Anfang des Jahres 2020 breitet sich eine Pandemie aus, deren Ausmaß alle bisherigen Krisen, die Merkel zu meistern hatte, in den Schatten stellt. Dieses Mal geht es nicht um Geld, es geht um Leben und Tod. Und die Kanzlerin tut das, was oft vergeblich von ihr gefordert worden war, sie übernimmt die Führung. In einer Rede an die Nation stimmt sie das Land auf eine harte Zeit ein – womöglich ohne zu ahnen, wie einschneidend diese Krise wirklich sein wird. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, appelliert sie an die Deutschen. „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“
Das Virus kostet allein in Deutschland mehr als 100.000 Menschen das Leben. Der Alltag kommt zum Stillstand, Geschäfte, Gastronomie, Schulen und Kindergärten schließen. Und in Merkel kommt wieder die Naturwissenschaftlerin durch, die Tabellen und Diagramme studiert, die Risiken abwägt und zur großen Mahnerin wird. Zu Beginn der Pandemie versammeln sich die meisten Deutschen hinter der Kanzlerin, die schon als abgeschrieben galt. Mit ihrer sachlichen Art gibt sie den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl, dass das Land auch diese Herausforderung meistern wird. Während in den USA, Großbritannien oder Brasilien großmäulige Populisten die Gefahren ignorieren, führt Merkel – in unerwarteter Allianz mit Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder – das „Team Vorsicht“ an. Ihre Beliebtheitswerte steigen rasant und manch einer in der Union fragt sich, ob das mit dem Abschied aus dem Kanzleramt nicht doch ein bisschen verfrüht war. Doch je länger die Pandemie dauert, desto dünner werden die Nerven. Und so wird es Merkel kaum bereuen, der Versuchung nicht nachgegeben zu haben, doch noch einmal anzutreten.
Das Ende
Am 26. September wählten die Deutschen einen neuen Bundestag. Erstmals hat keiner der Kanzlerkandidaten einen Amtsbonus. Angela Merkel hat es doch geschafft, aus freien Stücken ihre Karriere zu beenden. Ihr Nachfolger ist SPD-Politiker Olaf Scholz. Die Deutschen werden sich wohl erst wieder an die Formulierung „Herr Bundeskanzler“ gewöhnen müssen. (msti)
Dem Instinktpolitiker Schröder, der stets für einen flotten Spruch gut war oder für einen kleinen Ausbruch aus dem durchgeplanten Alltag, folgte vor 16 Jahren die Vernunftpolitikerin Merkel, die Politik als eine Art Versuchsanordnung begreift, für die sie schon einmal alles durchgespielt und durchgerechnet hat. „Im weitesten Sinne“, räumt Steg ein, „könnte man das auch ein Bedürfnis nach Kontrolle nennen.“
Die Morgenlage: Jeden Tag um 8.30 Uhr bespricht Merkel die aktuellen Themen
Ist Angela Merkel also ein kommunikativer Kontrollfreak? In der Morgenlage mit Seibert und ihren wichtigsten Vertrauten bespricht sie jeden Tag um 8.30 Uhr die aktuellen Themen: in einer Runde, aus der nichts nach draußen dringt und die den defensiven Kommunikationsstil der Kanzlerin tief verinnerlicht, wenn nicht gar befördert hat – etwa in Gestalt ihrer Büroleiterin Beate Baumann. Zur klassischen Presseschau mit den wichtigsten Artikeln aus Zeitungen und Zeitschriften ist dabei längst ein digitaler Appendix dazugekommen: In der sogenannten Kanzlermappe, für die es sogar eine eigene Mail-Adresse gibt, listet das Presseamt inzwischen auch die Posts mit den größten Reichweiten aus den sozialen Netzwerken auf.
Mit dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin 1999 hat sich ja nicht nur die Konkurrenz der Medien untereinander verschärft, sondern auch der Nachrichtenumsatz rasant beschleunigt. Neues und vermeintlich Neues wechseln sich in immer höherem Stakkato ab – und weil das Internet nie schläft, wird in der Berliner Republik inzwischen fast alles gesendet, gedruckt und geteilt. Wer will, kann die Menschen heute rund um die Uhr erreichen. Er (oder sie) braucht dazu nur kurz zum Smartphone zu greifen.
Wichtige Absprachen erledigt Angela Merkel gerne per SMS
In dieser gigantischen Aufregungs- und Eskalationsmaschine muss auch eine Kanzlerin präsent sein, aber eben nicht immer und nicht überall. Hätte sie auch noch selbst angefangen zu twittern, ahnt Steg, wäre das womöglich kontraproduktiv gewesen. „Weniger ist mehr“, sagt er – zumal bei einem Regierungschef oder einer Regierungschefin. Die Deutschen erwarteten von ihrem politischen Spitzenpersonal schließlich eine gewisse Seriosität und Solidität, und dazu gehört für Steg auch die kommunikative Disziplin, sich nicht zu allem und jedem zu äußern, sondern sich auf die zentralen Botschaften zu konzentrieren. Bei den diskreten Absprachen im Hintergrund, den wirklich wichtigen Entscheidungen also, ist Angela Merkel ohnehin auf der Höhe der Zeit – das erledigt sie gerne per SMS – Kurznachrichten, die sie in bemerkenswert flottem Tempo in ihr Handy tippt.
In der Corona-Krise allerdings ist sie mit ihrem zurückhaltenden Ansatz dann doch an eine kommunikative Grenze gestoßen. Hatte sie anfangs noch in einem ungewohnt empathischen Auftritt für ein solidarisches Miteinander geworben, so wirkte sie später zeitweise seltsam distanziert. Die Professorin Andrea Römmele von der privaten Hertie-Universität in Berlin, eine Expertin für politische Kommunikation, hätte da gerne mehr von ihr gehört. Es fehle, klagte sie im Frühjahrs-Lockdown, „auch an einem klaren Krisen-Kommunikationsgesicht“.