Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Kommentar: Wir müssen wieder mehr Demokratie wagen

Kommentar

Wir müssen wieder mehr Demokratie wagen

    • |
    Mit dem Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" sagte Willy Brandt Worte für die Ewigkeit.
    Mit dem Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" sagte Willy Brandt Worte für die Ewigkeit. Foto: Dpa (Archiv)

    Die Worte, die zu geflügelten werden sollten, kamen eher beiläufig daher. Willy Brandt stand vor fast genau 50 Jahren im Bundestag in Bonn, es war die erste Regierungserklärung eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers. Dann sprach er diese Sätze: „In den 70er Jahren werden wir aber in diesem Land nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen. Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen. Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

    Brandts „Mehr Demokratie wagen“ waren keine leeren Worte

    „Mehr Demokratie wagen“. Wie ungeheuerlich diese schlichten Worte waren, das begriff damals die Opposition. Die regte sich nämlich fürchterlich auf über die Worte dieses „Emigranten“, den sie ohnehin lieber nicht lange regieren lassen wollte und der nur über eine hauchdünne Mehrheit verfügte. Dass diese Worte aber zum Symbol einer ganzen Ära wurden und bis heute zum politischen Kanon gehören, liegt einmal am Mut, an dieser rhetorischen „Wahnsinnstat“ Brandts, wie es dessen Kanzleramtsminister Horst Ehmke später nannte. Es lag aber vor allem daran, dass es keine leeren Worte waren. In gewisser Weise hat sich die junge Bundesrepublik damals neu erfunden – es gab danach mehr (demokratische) Mitbestimmung, ein Durchlüften der Gesellschaft, auch eine neue Auseinandersetzung mit der deutschen Verantwortung.

    Dass ausgerechnet Brandt, ohne Schuld in der Nazi-Zeit, in Warschau auf die Knie ging vor den Opfern der Nazis, trug wohl mehr zur Aussöhnung bei als jede noch so hohe Reparationszahlung. Brandt definierte zudem das Verhältnis zwischen Regierung und Bürgern neu. Regierende seien nicht „Erwählte“, sagte er, sondern bloß „Gewählte“.

    In diesen Tagen denken wir auch viel über die Demokratie nach. Es gibt Zweifel, ob die Volksparteien noch eine Zukunft haben. Und es gibt massive Zweifel, gerade bei jungen Freitagsdemonstranten, ob manche Reformen in einer Demokratie überhaupt gelingen können. Wie will man, fragen sie, mutige Klimapolitik wagen, wenn die Gedanken um die Wiederwahl kreisen? Dass Politik die „Kunst des Möglichen“ sei, wie Kanzlerin Angela Merkel einwandte, genügt ihnen nicht als Erklärung.

    Willy Brandt nahm die Jungen ernst – aber auch in die Pflicht

    Brandt und sein „Mehr Demokratie wagen“ bleiben daher höchst aktuell. Als Erinnerung, dass Demokratie nicht bedeutet, Wählerstimmungen zu folgen – sondern auch bedeuten kann, voranzugehen, um Mehrheiten zu finden. Willy Brandts Kniefall etwa, seine ganze Ostpolitik, waren höchst umstritten. Der aktuelle Frust über unsere Demokratie erklärt sich auch dadurch, dass ähnlicher Mut bei Regierenden vermisst wird. Er findet sich eher außerhalb der Parlamente. Selbst die größten „Greta“-Hasser müssen anerkennen, dass dieses Mädchen im Alleingang weltweit ein Thema gesetzt hat.

    Brandt hat übrigens auf die Verantwortung gegenüber der jungen Generation hingewiesen – diese aber zugleich in die Pflicht genommen. Genau sagte er: „Wir wenden uns an die im Frieden nachgewachsenen Generationen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen. Jene jungen Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen – und sollen. Diese jungen Menschen müssen aber auch verstehen, dass auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben.“

    Es ist ein Auftrag, eine Mahnung: dass Demokratie anstrengend ist, ein ewiger offener Prozess. Wir müssen diesen verteidigen, er ist der beste, den wir haben. Wie das am besten gelingen kann, darüber können, ja müssen wir weiter streiten, so wie Brandt einst sagte: „Wir stehen nicht am Ende der Demokratie, wir fangen erst richtig an.“

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden