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Kommentar: Je näher eine Wahl rückt, desto mehr wird gelockert

Kommentar

Je näher eine Wahl rückt, desto mehr wird gelockert

Stefan Lange
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    Kanzlerin Angela Merkel und die Länderchefs haben sich auf weitreichende Öffnungen geeinigt. Dabei orientieren sie sich aber nicht allein an Inzidenzwerten.
    Kanzlerin Angela Merkel und die Länderchefs haben sich auf weitreichende Öffnungen geeinigt. Dabei orientieren sie sich aber nicht allein an Inzidenzwerten. Foto: Hannibal Hanschke, dpa (Archiv)

    Einmal mehr hat unter der Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel der Corona-Gipfel getagt und einmal mehr hat er eine Vielzahl von Beschlüssen gefasst. Viele offizielle und einen, den es auf dem Papier nicht gibt, der aber unausgesprochen mitschwingt: Die Inzidenzzahl als Anhaltspunkt für Lockerungen oder neue Beschränkungen bei den Grundrechten wird durch den Wahl-Wert ersetzt. Was das ist? Über Corona-Maßnahmen wird künftig mit Blick auf den Kalender entschieden: Je näher eine Wahl rückt, desto mehr wird gelockert.

    Und nochmal – diesen Wert haben die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten zusammen mit der Kanzlerin nicht wirklich beschlossen. Aber ihr Vorgehen lässt darauf schließen, dass sie ihn ab jetzt ständig im Kopf haben.

    Stufen-Öffnungsplan: Welcher Inzidenzwert der wichtige für Lockerungen ist, das schwankt erheblich

    Wir erinnern uns: Beim letzten Corona-Gipfel wurde noch sehr hart gerungen. Es hieß gar, man könne den Lockerungspfad erst ab einer Inzidenzzahl von 10 beschreiten. Diese Zahl wurde in den aufgeregten Tagen nach dem Gipfel zu Staub diskutiert. Stattdessen wurde wieder die 35 als Inzidenzzahl aufgerufen und selbst die fiel der Gefallsucht der Politik fast zum Opfer.

    Statt konkreter Zahlen gibt es jetzt einen bunten „Stufen-Öffnungsplan“. Die „Stufen“ lassen Schwankungen zwischen 35 und 100 beim Inzidenzwert zu - das hat mit den ursprünglichen Überlegungen überhaupt nichts mehr zu tun. Das Papier ist in den Farben Blau und Grün gehalten. Also den Farben der Sehnsucht und der Hoffnung. Sicherlich kein Zufall, sondern Absicht der Strategen im Kanzleramt, die genau um die Wirkung von Farben wissen.

    Dabei hätte, wenn überhaupt, Rot die dominierende Farbe sein müssen. Alarmrot, denn die Zahl der Neuinfektionen ist auf einem beunruhigenden 60er-Niveau. Und das wird auch wohl so bleiben. Denn das schöne Wetter trifft auf die verständliche Ungeduld aller, die jetzt schon seit mehr als einem Jahr unter den Corona-Regeln leiden und wird so manchen Kontakt im Freien nach sich ziehen.

    Wie Landtagswahlen und Bundestagswahl die Corona-Politik aufweichen

    Aber das ist den Verantwortlichen deshalb alles egal, weil es ja den Wahl-Wert gibt, und der sinkt immer weiter. Am 14. März wird in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gewählt, Anfang Juni ist Sachsen-Anhalt dran und dann folgen Ende September die Bundestagswahl sowie drei weitere Landtagswahlen. Da muss man erstens die Leute in gute Laune versetzen und zweitens vom Regierungsversagen ablenken.

    Nicht nur, dass die Politik bei der Impfstoffbeschaffung schlecht aussieht, sie schafft es ja nicht einmal, ausreichend Corona-Tests zu beschaffen. Gesundheitsminister Jens Spahn bekommt gerade nicht viel auf die Kette, die Länder weben schon am nächsten Corona-Flickenteppich mit unterschiedlichen Öffnungsstrategien. Das könnte man ehrlich benennen – oder das Fiasko in den Farben blau und grün zu übermalen versuchen.

    Ab jetzt überlagert in der Politik der Wunsch nach Machterhalt ganz offensichtlich die Vernunft. Anstatt noch ein paar wenige Wochen abzuwarten, wird jetzt herumexperimentiert und riskiert, dass die Ansteckungszahlen wieder steigen und wir in einer Corona-Schleife gefangen sind, die uns noch monatelang die Luft zum Atmen abschnürt. Es möge in diesem Zusammenhang bitte keiner auf die „Notbremse“ hereinfallen, die sich die Runde um die Kanzlerin ausgedacht hat. Eine Notbremse löst man aus und dann steht binnen Sekunden alles still. Das Virus aber, das haben wir nun wirklich gelernt, lässt sich nicht so Knall auf Fall abschalten.

    Nach den Beschlüssen vom Mittwochabend könnten die nächsten Wochen und Monate noch sehr bitter werden. Es wäre dann am Ende ein ganz schlechter Witz, wenn die Wahlen wegen zu hoher Infektionszahlen gar nicht stattfinden können.

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