Die deutsche Russlandpolitik der vergangenen Jahre war ein großes „trotz alledem“. Ungeachtet der ungenierten Weltmachtpolitik, der Demontage der Demokratie im Inneren, der unverschämten Geheimdienstoperationen, suchte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den Ausgleich mit Präsident Wladimir Putin.
Putin nimmt Merkel die Möglichkeit für einen Kurs des guten Miteinanders
Gründe für eine neue Eiszeit zwischen Berlin und Moskau hätte es genügend gegeben. Der Einmarsch in der Ostukraine mit Putins grünen Männchen, die Annexion der Halbinsel Krim, der blutige Einsatz des russischen Militärs gegen die Zivilbevölkerung in Syrien, die Giftattacke in England, der mutmaßliche Auftragsmord im Tiergarten gegen einen Tschetschenen, die Manipulation der öffentlichen Meinung in anderen Ländern, der Hackerangriff auf den Bundestag durch Russlands Militärgeheimdienst.
Trotz dieser äußerst aggressiven Politik hat Deutschland die Tür nie zugeschlagen. Sanktionen wurden beschlossen, aber stets mit dem Signal verbunden, dass sie aufgehoben werden können, wenn sich der Kreml bewegt. Auf Fachebene wurde die Zusammenarbeit fortgesetzt, die deutsche Wirtschaft hat sich immer für enge Beziehungen stark gemacht und die ostdeutschen Ministerpräsidenten verlangten ein Ende der wirtschaftlichen Strafmaßnahmen. Gegen den Willen der Amerikaner und der Osteuropäer bauen beide Länder die zweite Gasröhre durch die Ostsee. Trotz alledem.
Und nun die wahrscheinliche Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny. Putin und sein Regime tun alles dafür, um eine Zusammenarbeit unmöglich zu machen. Er nimmt Merkel die Möglichkeit, selbst beim besten Willen einen Kurs des guten Miteinanders anzusteuern.
Wirtschaftlich ist das Riesenreich ein Zwerg
Alles zusammengenommen, schreit diese aggressive Politik nach Antworten. Militärisch können Deutschland und die Europäer Russland nicht unter Druck setzen. Nur die USA verfügen über die nötige Durchschlagskraft. Aber wirtschaftlich ist das Land verwundbar. Im Verhältnis zu seiner Größe und seinen Potenzialen ist das Riesenreich ein Zwerg. Wirtschaftlich haben es die osteuropäischen Partnerländer längst überrundet. Russland hat als Energieversorger eine hohe Bedeutung, darüber hinaus ökonomisch kaum.
Der Machthebel Moskaus, den Gashahn zuzudrehen, ist in Wahrheit ein schwacher. Denn die Abhängigkeit wirkt in beide Richtungen. Der Haushalt ist ohne die Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas in Europa nicht finanzierbar. Der einfachste Weg, sich von Rohstoffimporten unabhängig zu machen, ist der Bau von Windrädern und Solaranlagen. Die Bundesrepublik und Europa können sich von Russland abwenden, Russland kann das umgekehrt nicht, weil seine Ökonomie auf den Verkauf von Öl und Gas ausgerichtet ist. Von China bekommt es für seine Energie nicht die Preise, die die Europäer zahlen.
Der nächste Testfall ist die Zukunft Weißrusslands
Wegen seiner militärischen Stärke bleibt Russland als Mitglied des Uno-Sicherheitsrates ein Machtfaktor, den die Europäer nicht ignorieren können. Die Lektion daraus muss lauten, die eigenen Armeen schlagkräftiger zu machen. Hier hat Deutschland noch viel aufzuholen. Das Format dafür ist die Nato, nicht die EU. Mit Großbritannien verabschiedet sich die neben Frankreich potenteste Militärmacht aus dem Staatenklub.
Der nächste Testfall für die Beziehungen zu Zar Wladimir ist die Zukunft Weißrusslands. Noch ist offen, ob er Diktator Alexander Lukaschenko mit Gewalt an der Macht halten will. Sollte das geschehen, müsste aus Berlin und den anderen Hauptstädten der Europäischen Union eine scharfe Reaktion erfolgen. Putin hat kein Interesse an einem Modus Vivendi mit den Europäern.
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